Burgörner , 1822.

Meine beiden Briefe werden Sie, liebe Charlotte, empfangen haben, ob sie gleich noch unbeantwortet sind. Beide hatten die Absicht, Sie über Ihre Bedenklichkeiten zu beruhigen. Ich hoffe, das ist mir gelungen, und ich wiederhole Ihnen heute zuerst, was Ihnen mein letzter Brief sagte, daß alles, was Sie mir aus Ihrem Leben und Ihrer Vergangenheit mitteilen, ganz durch Ihre Empfindungen bestimmt werden muß. Es soll ein Zurückgehen in die Vergangenheit sein, mit dem, der den innigsten Teil an Ihnen nimmt, aber kein Aufreißen schmerzlich vernarbter Wunden, das mußte ich Ihnen zuerst sagen.

Recht herzlich danke ich Ihnen für die mir als Probe übersandten wenigen Bogen. Die Erzählung beginnt so ganz zu meiner Zufriedenheit, nur wünschte ich doch hier und da noch mehr Ausführlichkeit. Lassen Sie sich gar keine Furcht angehen, daß Sie zu weitläufig werden könnten, und denken Sie nicht, wie langsam Sie verweilen. Wir leben beide noch sehr lange, wenngleich Sie länger. Gerade die Schilderungen Ihres väterlichen Hauses, bestes Kind! haben ein großes Interesse für mich, und Sie haben wieder völlig wahr gemacht, was ich Ihnen immer sagte, daß Sie sehr gut schreiben, sehr wahr, hübsch und natürlich erzählen. Fahren Sie nur eben so fort, und wenn es Ihnen manchmal beschwerlich wird oder Ihnen Zeit raubt, so denken Sie, daß Sie mir Freude damit machen. Es verlängert und erweitert gewissermaßen das Leben, wenn man so individuelle Schilderungen einer Zeit vor sich hat, die man an ganz andern Orten und in ganz andern Verhältnissen erlebte, und es gibt doch in der Welt nichts Interessanteres für den Menschen, als wieder der Mensch. Man kann eigentlich nie genug sehen und nie genug hören. Es entstehen selbst durch jedes neue Gesicht, möchte ich sagen, neue Ideen. Erhält man nun aber gar bestimmte, ins Detail gehende Schilderungen, so sind es neue Figuren, die sich vor der Seele bewegen, und mit denen man ebenso lebt, wie in der Wirklichkeit. Dieser Hang, sich eigentlich an Menschengestalten zu ergötzen, in ihnen wie unter Anwesenden zu leben, verträgt sich doch sehr gut mit dem entschiedensten Hange zur Einsamkeit. Sobald man mit Menschen umgehen muß, oder noch mehr, sobald man recht gern mit ihnen umgeht, befindet man sich selbst zu sehr in Tätigkeit, will sich auch wohl selbst geltend machen, und wird von bloß reiner Beschauung abgezogen. Lebt man aber mit dem Hange zur Einsamkeit unter Menschen, was man von Zeit zu Zeit nicht vermeiden kann, so gehen sie mehr wie Figuren der Beschauung vor einem vorüber, man richtet seine Aufmerksamkeit ganz auf sie und nicht auf sich selbst. Wie man auf sie wirkt, wie man ihnen gefällt, bleibt einem sehr gleichgültig, wenn man sie nur in ihrer eigentlichen Natur sieht. Kehrt man dann in die wirkliche Einsamkeit zurück, so hat man viele Bilder um sich, und wenn man zu innerer Geistesbeschäftigung geneigt ist und aufgelegt, so entstehen aus den wirklichen Menschen idealische in der Phantasie, denen die wirklichen nur in den äußeren Umrissen zum Grunde liegen. Alle moralischen Fragen, alle tieferen Betrachtungen über Leben und Zweck des Lebens, über Glück und Vollkommenheit, über Dasein und Zukunft gewinnen ein reicheres Interesse, erlauben mannigfaltigere Anwendungen, wenn man sie gleichsam an so vielen Menschengestalten einzeln prüfen kann. Denn in jedem, auch selbst unbedeutenden Menschen liegt im Grunde ein tieferer und edlerer, wenn der wirklich erscheinende nicht viel taugt, oder noch edlerer, wenn er in sich gut ist, verborgen. Man darf sich nur gewöhnen, die Menschen so zu studieren, und man kommt unvermerkt aus einem anscheinend alltäglichen Leben in eine ungleich höhere und tiefere Ansicht der Menschheit überhaupt. Es ist ja eigentlich das, worin das Gepräge jedes größeren Dichters liegt, diese Ansicht überall, und da er nur frei schaffen kann, ganz rein zu geben, oder vielmehr sie mitten aus aneinander gereihten, oft zufällig scheinenden Begebenheiten hervortreten zu lassen. Die Geschichte hat etwas Ähnliches. Das menschliche Wesen tritt auch schon reiner und größer in ihr hervor, als in den tausendfältigen kleinen Umgebungen der Gegenwart. Einen interessanten Charakter mehr im Bilde zu besitzen, ist ein eigentlicher Lebensgewinn, und mit dem Einzelnen verbinden sich nun bisweilen die von Ständen, Zeiten, Gegenden. So habe ich immer eine entschiedene Neigung zu den Landpredigern gehabt, und eine Art romantische für ihre Töchter. Das war schon in mir, ehe ich Sie gesehen hatte, und nachher hat es eben durch Sie unendlich in mir zugenommen, obgleich Sie die Einzige geblieben sind, die diesen Eindruck auf mich gemacht hat. Einen großen Teil alles Guten im deutschen Charakter habe ich aus den Landprediger-Töchtern abgeleitet: die tiefe, nicht tändelnde Empfindung; die Einfachheit bei hoher Bildung; die Entfernung alles vornehmen unangenehmen Tons, bei allen Eigenschaften, die man in vornehmen Zirkeln gern hat. Ich habe davon oft gesprochen und dann bei mir lachen müssen, daß ich das alles im Grunde von Ihnen herleitete, da ich nie eine andere Prediger-Tochter auch nur irgend näher gekannt hatte. Aber ich hatte, wie ich Ihnen sage, ein Vorgefühl davon, denn schon zu Ihnen hat mich diese Neigung, wie wir uns sahen, schnell hingezogen. Nun waren Sie mir, ein halbgesehenes Bild, entschwunden, und gehörten also ganz der Phantasie an. Daher hat nun auch alles, was Sie mir von Ihrer Kindheit, Ihrer Jugend, Ihrem elterlichen Hause sagen, ein besonderes Interesse für mich. Ich prüfe daran, ob ich richtig oder falsch ahnte, und befinde mich in der Welt, in die mich meine jugendliche Phantasie versetzt hatte. Es ist mir jetzt doppelt leid, daß ich Ihren Vater und Sie nicht in demselben Herbste, wo ich Sie zuerst sah, besuchte. Ich war in Düsseldorf bei Jacobi und wollte von dort zu Ihnen, aber Jacobi hielt mich länger auf, und nun eilte ich nach Göttingen zurück. Man hat in der Jugend oft eine einfältige Pflichtmäßigkeit. Um ein paar Kollegienstunden nicht zu versäumen, versäumte ich etwas, was sich nie nachholen läßt, mir ein lebendiges Bild von Ihnen in jener Zeit, Ihrem Elternhause, Ihrem ganzen Leben zu verschaffen.


Ich sagte im Anfange, daß Sie nicht ausführlich genug gewesen wären, darüber werden Sie lachen, da Sie schon alles menschenmögliche Maß überschritten zu haben glauben. Aber es ist doch so. Ich meine nämlich, daß Ihre Schilderungen noch umständlicher sein, noch mehr Züge dessen, wie es um Sie her war, enthalten sollten. Die Frage, die ich hersetzen will, müssen Sie mir noch in einem Ihrer nächsten Briefe auf einem besondern Blatte pünktlich und genau beantworten: Wie Ihre Mutter aussah? Das läßt sich doch beschreiben. Sie haben es aber garnicht getan. Von allen Personen, die oft und viel in Ihrer Erzählung vorkommen, müssen Sie das immer tun. Was Sie sich also von den Gesichtszügen und dem Körperbau Ihrer Mutter erinnern, schreiben Sie ja ganz genau. Dann haben Sie mir zwar das Innere Ihres elterlichen Hauses beschrieben, aber nicht bestimmt genug. Ob die Lage des Hauses, des Orts, die Umgebungen gegen Gärten, gegen Nachbarhäuser, ob die Gegend anmutig war, ob Sie aus den Fenstern ins Grüne, ob weit ins Ferne sahen, von dem allen steht kein Wort in Ihrer Erzählung, und das sind so ganz wesentliche Umstände, das holen Sie ja nach und machen Sie die Schilderung so, daß ich mir ein bestimmtes Bild davon entwerfen kann. Diesen Wunsch müssen Sie mir befriedigen, sonst schwankt alles in der Phantasie, und selbst die Gedanken und Empfindungen verlieren dadurch in ihrem Gehalte.

Sie werden mich recht lästig mit meinen Bitten finden, aber Sie haben sich einmal darauf eingelassen, sie zu erfüllen.

Ich bin allein hier und nicht auf lange Zeit. Richten Sie aber doch Ihren nächsten Brief hierher; vermutlich findet er mich noch hier, und ist das nicht, so geht er von hier von selbst nach Berlin, wohin ich zurückkehre. Sie erinnern sich wohl – Burgörner bei Hettstädt. Leben Sie herzlich wohl, liebste Charlotte, mit immer unveränderlichen Gesinnungen Ihr H.

Das Geheimnis des Glücks in der Liebe
ISBN: 978-3-939198-38-3
Preis: 9,90 €
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin