Ein Gebirgssee

Erster Anblick. — Einsamkeit. — Sommerschwüle und Gewitter. — Der aufgeregte See. — Schöner Abend. — Seefahrt. — Abendfeier der Natur und der Menschen. — Mondnacht. — Nebelbilder.

Wie herrlich rastet es sich an einem heißen Sommernachmittag im kühlen Schatten, Angesichts eines so schönen und großartigen Gebirgssees, wie es der Walchensee ist, wenn das von glänzenden Sonnenlichtem geblendete und ermüdete Auge auf der so eigentümlich grünen Farbe solches Alpenspiegels ruhend, sich erfrischen und stärken kann, und die von der Hitze vermehrte Ermüdung der Glieder solche Rast doppelt süß macht! Wie wird der Blick des Wanderers, der vom Norden kommend zum ersten Male den Wundern der Alpenwelt entgegengeht, durch so majestätische Naturszenerie gefesselt und schweift vom weiten, farbigen Seebecken zu den hohen felsigen, bewaldeten Gebirgswänden, welche dasselbe von allen Seiten steil einfassen und sich, einander überragend, in malerischen Formen gegen die helle, klare Luft abschneiden, und wieder zurück zu dem Wasserspiegel, der trotz seiner Färbung alle diese Formen und die Luftbläue so rein zurückwirft, und durch seine Stille und dunkle Tinte verrät, wie tief, wie sehr tief er ist! Wie saugt das Auge, da der erste Anblick der fern dämmernden, rosig wolkigen Alpen dem Herzen so große Erfüllungen versprochen und ihm das märchenhafte Land langer Sehnsucht verheißen hatte, dieses erste geschlossene Bild einer hohen Gebirgsnatur voll in sich auf, ohne die Befürchtung noch, dass spätere Eindrücke diese ersten schwächen könnten! —


In den Voralpen des bayerischen Hochlandes, an der jetzt sehr wenig benutzten alten München-Innsbrucker Straße gelegen, die über Wolfratshausen und Benedictbayern führt, wird der Walchensee jetzt nur von wenigen Reisenden besucht, und zu seinem ernsten großartigen Charakter gesellt sich der Eindruck tiefer Einsamkeit und regungsloser Stille. Selten befährt ein Kahn das weite ruhige Becken, um einem Wanderer den Anblick der ihn ringsumgebenden Landschaft zu gewähren oder einen armen Holzhauer an das entgegengesetzte Waldufer zu führen; selten belebt ein Fuhrwerk die sich im Westen des Sees entlang ziehende Straße, die dem steilen Ufer abgenötigt worden, oder treibt ein Bewohner der Umgegend einige Rinder oder Ziegen vor sich her. Das vereinzelte Singen eines Waldvogels und das entfernte Tönen des Holzfällens lassen diese Stille nur um so größer und auffallender erscheinen.

Aber auch dieser stille Charakter hat seine verschiedenen Bilder und vornämlich sind es drei besondere Erscheinungen, in denen er sich meiner Erinnerung eingeprägt hat.

Als ich ihn das erste Mal erblickte, war es an einem schwülen Juninachmittage. Die Sonne sengte förmlich mit ihren Strahlen die tiefliegendere Vegetation, und das Ersteigen des steilen Kesselberges, über welchen der Weg von dem flachen schilfbewachsenen Kochelseegestaden nach dem 687 Fuß höher liegenden Spiegel des Walchensees führt, hatte mich manchen Schweißtropfen gekostet. Zwar hatte ich mehrmals schon auf dem interessanten Wege still gestanden, um die stattlichen Wasserfälle zu betrachten, unter den bildlichen Darstellungen der Unglückstafeln die auf das traurige Ereignis bezüglichen Worte zu lesen, und vom höchsten Punkte der Straße den Blick nach den hohen Gebirgshörnern im Süden mit ihren Schneeschluchten schweifen zu lassen. Der Anblick des großen dunklen Sees unter mir, mit seinem Einschluss von Hochwaldbergen und dem tiefen Schatten am Westufer lockte und lud so sehr zu einer längeren Rast, dass ich meine Schritte beflügelte. Wo die Straße das nordwestliche Ende des Sees fast berührt und einige zerstreute Schifferhütten liegen, fand ich bald ein geeignetes schattiges Ruheplätzchen, von welchem aus mir kein Zug dieses neuen Bildes verloren ging.

Da lag der große Gebirgsspiegel vor mir mit seiner unvergleichlich sanften grünen Farbe, die vom Gelbgrün des Vordergrundes ins Smaragdartige übergeht, um als tiefdunkles Blau an die wohl zwei Stunden entfernten jenseitigen hohen Waldberge zu treten. Zur Linken steigt jäh die Jocheralm, die Südspitze der mächtigen Benedictenwand, empor, an deren Fuße, hinter den Hütten hinweg, ein Weg östlich nach dem Dorfe Sachenbach und ins Jachenautal führt. Rechts erhebt sich über der Fahrstraße der Herzogstand, von dem Haingartengebirge in den See vortretend und das südwestliche Ende desselben, wie das Dorf Walchensee verdeckend, während gegenüber der Rautkopf und der Altachberg das Becken im Südosten einschließen, und über letzteren die rötlichen Felsenmassen der über 8.000 Fuß hohen Karwendelwand herüberschauen.

Während ich so um mich sah und der Blick bald über den Wasserspiegel hinglitt, bald an den reich bewaldeten Bergriesen aufstieg, fühlte ich mich plötzlich ganz eigen von der außerordentlichen Regungslosigkeit und lautlosen Stille der ganzen Natur berührt und beängstigt. Kein menschliches Wesen, soweit das Auge reichte, die Schifferhäuser selbst wie ausgestorben; kein Laut eines Vogels, die Bäume, Sträucher und Halme ohne die leiseste Bewegung. Keine Regung im Wasser, kein Plätschern am Ufer, kein Schaukeln der Oberfläche, die angeketteten Kähne ohne das mindeste Schwanken. Der See wie die ganze Natur standen buchstäblich still. Dies war mehr als Ruhe der Natur, es war äußerste Ermattung. Unwillkürlich erhob ich mich, fast erschreckt durch das Geräusch meiner Bewegungen und Schritte, um dem etwa anderthalb Stunden entfernten Dorfe zuzuwandern; oft stehen bleibend, um betrachtende und forschende Blicke über die Wasserfläche zu werfen. Mein Weg führte immer im Schatten, da die noch hoch stehende Sonne von dem Walde der Berg» wand verdeckt wurde, während ihre gelben glühenden Strahlen auf den See und die übrige Umgebung desselben fielen.

Was ist das? Ein dunkler Fleck, ein tiefer Wolkenschatten fällt auf einen Teil des Wassers und die Berge drüben, und wächst und wird so kräftig, dass die Waldungen in ein tiefes Schwarzblau sich hüllen und die hellen Karwendelspitzen nur um so schärfer abstechen. Und doch ist keine Wolke zu sehen! — Bald jedoch schoben sich die schwarzen, hellgesäumten Ränder einer breiten Wolkenschicht über die westliche Höhe herüber und mit ihrem Erscheinen ließ sich zugleich ein entgegenkommendes kühles Lüftchen spüren, das höchst angenehm und wohltuend war, bald aber zur ziemlich kräftigen Zugluft sich umwandelte. Da zuckte es auch auf der Fläche des Sees und hier und da auf derselben kräuselten sich blendend weiße Rändchen, erst vereinzelt und fern von einander, dann dichter und zusammenhängender und bald ließ sich auch in der Nähe des Ufers deutlich ein leichtes Schaukeln wahrnehmen. Gewiss war der Wind auf dem See und am jenseitigen Ufer, wie auch auf der Höhe stärker, denn man hörte ein starkes Rauschen der Bäume. Um dem heraufziehenden Gewitter wenn möglich zu entgehen, eilte ich schneller vorwärts, fühlte mich aber sicherer, als ich um die Waldecke biegend, das Dorf unweit vor mir sah, und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem See zu, obgleich hier der Wind bedeutend brauste und die Bäume über mir sich rauschend beugten und ächzten. Schon hatten die dichten Wolkenmassen den weiten Bergkessel überzogen und so verdunkelt, dass die Ferne undeutlich zusammenging. Auch das Wasser harte eine schwarzblaue Farbe angenommen und nur wo die nun hochgehenden Wellen sich überschlugen, ward das schöne durchsichtige Grün, mit weißem Schaum verbrämt, sichtbar. Mit jeder Sekunde ward die Brandung am steilen Ufer stärker und der Gischt spritzte weit über mich herauf. Haushohe Wellen folgten sich schnell oder schlugen klatschend gegeneinander, sich stets erneuernd und immer höher steigend, bis das Bild eines gewaltigen Seesturmes mit allen seinen Schrecknissen, aber auch seinem erhabenen Anblicke, in dieser Umgebung gewiss ein ebenso mächtiges war, wie es nur auf offnem Meere sein kann. Das Heulen des Sturmes durch die Stämme und das Rauschen der Blätter und Ächzen der Zweige bildete vereint mit dem Klatschen und Anschlagen der Brandung eine wilde Musik. Nur wenige aber kräftiggrelle Blitze leuchteten Sekunden lang nah und fern, der Donner aber rollte ohne Aufhören mit dem eignen schwerdumpfen Dröhnen, wie man es nur in den Alpentälern kennt; denn noch war das eine Rollen nicht verhallt, als wieder ein neues ihm folgte.

Schon hatte ich ziemlich das Dorf mit dem schlanken Kirchturme und den breiten, steinbeschwerten Dächern erreicht, als der Wind zum Orkan wurde und den See förmlich vom Grunde aufzuwühlen schien. Um nicht in das tosende Wasser oder gegen die Felsen geschleudert zu werden, suchte ich eine vorübergehende Zuflucht hinter einer Baumgruppe am Wege, und es war dies zu meinem Glück; denn ein abermaliger Orkanstoß deckte das vorderste Haus des Dorfes ganz ab und warf die langen Planken mit den großen schweren Steinen mitten auf die Straße. Die Zwischenräume der Windstöße benutzend, eilte ich ins Dorf und dicht an den Häusern entlang dem Wirtshause zur Post zu, denn auch der Regen begann in schweren Tropfen zu fallen. Im Gastzimmer herrschte Finsternis, da die kleinen Fenster bei den dunklen Wolkendecke wenig Licht gewährten, und die Stille darin ward nur durch das Rauschen und Krachen von außen unterbrochen. Als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt, bemerkte ich mehrere Personen um einen Tisch sitzend, unter denen sich ein geistlicher Herr befand, welche mit im Schoße gefalteten Händen leise Gebete vor sich hin murmelten.

Endlich schien das Gewitter und der Sturm nachzulassen, nur der Regen rauschte noch in Strömen. Die Wirtin, welche still mit unter den Anderen dagesessen, erhob sich, fragte nach meinem Begehr, und ging dann mit langsamen Schritten nachdem Keller, um das ersehnte Nass zu holen. Der geistliche Herr, ein alter bedächtiger Mann, der von der andern Seite des Dorfes aus Walgau kommend, ebenfalls vom Wetter überrascht worden war, setzte sich zu mir und versicherte. Wind und Wetter sei seit lange nicht so arg gewesen. Mittlerweile hatte der Regen aufgehört und meine Begierde, jetzt die Landschaft zu sehen, trieb mich aus dem Hause. Nur wenige Schritte sind es von der Tür bis zum Ufer, wo in einem im Wasser stehenden, vorn und hinten offnen Schuppen zwei Kähne sich wiegten und bisweilen knarrend gegeneinander stießen. Nach stand das Wetter über dem nördlichen Teile des Sees, nach dem Jachenautale ziehend, und bildete einen dichten grauen Schleier, der die Gebirge dahinter ganz verbarg und dem Wasserspiegel das Ansehen unendlicher Weite gab, während im Vordergrunde einzelne durchbrechende Lichter der Abendsonne Wasser und Berge vergoldeten. Der See wogte, aber nicht wie das Wogen eines aufgeregten großen Flusses, der im breiten, langen, gleichmäßigen Rollen seine Wellen ans Ufer sendet, in bald stärkerem, bald schwächerem muldenartigen Schaukeln, das nach der Mitte des Sees hin verstärkt gleichsam nach unten gehende Bogen bildete. — Dass das erwähnte Abdecken eines Hauses keine ganz ungewöhnliche Erscheinung sei, lehrte ein Blick nach jenem Gebäude, auf dessen Dachstuhle schon einige Männer saßen und unter lebhaftem Geplauder die Bedachung wieder festnagelten, indessen junge Bursche die Steine herbeischleppten, welche die Bretter bei leichterem Winde festhalten sollten. —

Viele Jahren waren vergangen, als ich in Gesellschaft mehrerer befreundeter Personen über den Kesselberg kommend, den See zum zweiten Male besuchte. Es war in den späten Nachmittagsstunden eines Septembertages und die Schatten der westlichen Höhenzüge fielen bereits weit in den See. Da breitete er sich wieder aus, der schöne See, in seinem waldigen weiten Talkessel und majestätisch schauten über Alles die Felsenwände der Karwendel und der Kamm des Wettersteingebirges herüber. O, welcher Reiz und welcher Friede lag jetzt über der stillen einsamen Wasserfläche und den schönen von der Abendsonne beleuchteten steilen Waldbergen! Und bei aller Einsamkeit war die Landschaft doch keine tote. Hätte man auch nicht das Picken des Hähers, den Gesang der Waldvögel und die bekannten Schläge der Holzaxt vernommen, oder das angenehme, von Süden herabkommende kühle Lüftchen gefühlt, so würde schon die unten vor der Hütte sitzende und Netze strickende Frau wie der Bube mit der Ziege, welche sie umspielten, eine hübsche lebhafte Staffage gegeben haben.

Am Ufer angekommen, sahen wir das Wasser sich ganz leise bewegen, eigentlich mehr nur am Ufer; die Mitte der Wasserfläche schien völlig unbewegt. Das sanfte Schaukeln der angeketteten Kähne ließ sogleich den Wunsch einer Wasserfahrt über den stillen See bis zum Dorfe in uns aufsteigen, um so den Abend am schönsten zu genießen. Kaum war der Wunsch laut geworden, als auch schon das vor der Schifferhütte sitzende Weib, unsere Absicht bemerkend, behend in einen der Kähne sprang, ihn losband und der Länge nach zum Einsteigen dicht an das stark abfallende Ufer brachte. Es war ein eignes Bild, diese Frau, wie sie auf das Ruder gestützt, unser Einsteigen erwartete, weder jung noch gerade schön, aber ein Bild der Kraft in ihrem großen und kräftigen Körperbau, der durch die Volkstracht mit dem spitzen Hute noch gehoben wurde. Ihre nervigen Arme bezeugten, dass sie schon lange Jahre das Ruder geführt und schwere Arbeit verrichtet und ihr wettergebräuntes Gesicht verriet es, dass sie schon jeder Witterung getrotzt. Obgleich das am Boden gerundete Boot bei jeder Bewegung stark schaukelte, hatten wir uns bald auf dem schmalen Sitz am breiten Hinterteile und auf ein querüber gelegtes Brett platziert; die Schifferin setzte sich mit dem Rücken nach der Spitze, senkte die beiden Ruder ins Wasser und brachte uns mit einigen kräftigen Schlägen bald weitab vom Ufer. Langsamer rudernd führte sie uns dann mehr und mehr nach der Mitte des Sees, wo das Wasser, welches am Ufer so hellgrün erschienen, sich zum tiefsten Smaragdgrün verdunkelt hatte, aber so außerordentlich durchsichtig war, dass der Blick auf den unendlich tiefen Grund zu dringen glaubte. Nur wenn, was stets gleichmäßig geschah, die Ruder aus dem Wasser gehoben wurden, zeigte sich das Grün in allen Abstufungen bis zum Weiß. Je mehr wir auf die Höhe des Sees gelangten, desto mehr breitete sich das große Landschaftsbild in seiner herrlichen Beleuchtung nach allen Seiten aus, bis uns bald kein Winkelchen des sieben Stunden im Umfange haltenden Wasserbeckens entging, jede Bergform sichtbar von den andern lostrat und auch das von Streiflichtern berührte Dorf mit seinem glitzernden Turmdache und den flammenden Fenstern sich uns präsentierte. Dabei war die Luft so außerordentlich klar und transparent, dass selbst in den fernen Schatten jede Einzelheit deutlich blieb und die Fernen so nahe gerückt wurden, dass jeder damit Unbekannte sich über die Entfernungen täuschen musste. Diese herrliche, reine Bergluft, man saugt sie fast gierig ein und möchte jauchzen vor Lust! Langsam dahinfahrend waren wir ganz im Anschauen versunken, Eines das Andere halblaut auf diese oder jene Schönheit aufmerksam machend: da drang ein eigentümlicher Ton vom Ufer herüber, halb Schrei, halb Ruf, wie man ihn bisweilen im Hochgebirge als Signal in die Ferne hört. Die Schifferin stutzte, deutete mit der Hand nach dem Ufer unterhalb des Herzogstandes, bildete mit beiden Händen einen weiten Sprachrohrtrichter vor dem Munde und beantwortete den schrillen, jauchzenden Laut. Der angegebenen Richtung folgend, erblickten wir zwei Männer am Ufer. Mit rascher Wendung und kräftigen Schlägen brachte die Führerin des Kahns denselben schnell in jener Richtung vorwärts und es dauerte nicht lange, so legten wir am Strande an, wo die Harrenden standen. Es waren Holzhauer, wie die Axt, welche sie bei sich führten, bezeugte, junge, bärtige, breitschultrig-kräftige Gestalten, in kurzen Jacken, den Spitzhut keck auf dem einen Ohre. Ohne erst um Erlaubnis oder um Entschuldigung wegen der Unterbrechung unserer Fahrt zu bitten. sprangen sie mit freundlichem Gruß in den Kahn, dass er umzuschlagen drohte, und lachten unserer Ängstlichkeit. Sie setzten sich auf das Querbrett der Schifferin, welche ganz vorn an der Spitze Platz genommen hatte, und schnitten, nachdem jeder ein Ruder ergriffen, so kräftig und gleichmäßig in das Wasser ein, dass sich unser Schifflein bald wieder mitten auf dem See befand. Auf unsere Frage, was sie vorhätten, antworteten sie, dass sie von der Arbeit nach Hause gingen und zeigten dabei südlich nach einer Landzunge, welche in den See vorspringt und ihn dort in zwei Buchten teilte. Auch sie, die an solche Naturumgebung gewöhnt waren, wurden gleich uns in eine gewisse feierlich heitere Stimmung durch die Schönheit des Abends versetzt und bald tönte von ihrem Munde eines ihrer Gebirgslieder in die klare Luft hinaus, in welches unsere Schifferin stets beim Jodeln der Schlussstrophe mit ihrer hellen Stimme einfiel.

So hatten wir, auf die Landspitze zuhaltend, dem Dorfe gegenüber die südliche Mitte des Sees erreicht. Die Sonne warf ihre letzten Strahlen über diesen Teil desselben und das Altachjoch zur Linken, und vergoldete die schönen Laubpartien des letzteren, über welches die in glühendes Rot getauchten Karwendelspitzen hereinschauten, während der hohe Krottenkopf in Südwesten mit schmalen Lichträndern dunkel vom feurigen Abendhimmel lostrat und die Schatten des Hainsgartens ein tiefes schönes Blau malten. Besonders malerisch aber entfaltete sich die hohe, lange Benedictenwand am Nordostende, die oben warm beleuchtet, in herrlicher Perspektive zurücktrat, nach unten im schönsten Blau mit dem See verschmelzend und rechts ins Jachenautal verdämmernd. Auf unserem Boote war Stille eingetreten, selbst die Ruder schwiegen und der Kahn trieb langsam weiter. Jedes fühlte sich von dieser Festfeier der erhabenen Natur berührt, und die Herzen feierten sie mit und hielten einen reinen heiligen Gottesdienst. Da schlug die Glocke vom Dorfe herüber und gleich darauf ertönte das Läuten des Ave Maria durch die klare Luft zitternd, vom Echo wiederholt und in der Ferne verhallend. Hätte es noch einer Anregung zu Erhebung der Gemüter bedurft, so war sie gekommen. Die Hymnen der Seelen fanden einen äußeren Ausdruck. Alles zog die Hüte, die Gebirgsbewohner falteten die Hände über denselben und ihre Lippen lispelten leise das inbrünstige Gebet. Welch schönere Beigabe zur Feier der Natur konnte es geben, als dieses Bild unseres Schiffleins, die gesenkten Häupter und betenden Herzen. Und wenn sie auch die Worte des Gebetes nicht verstanden oder sich deuteten, so war es doch ein äußeres wohltuendes Tönen des mächtig bewegten Herzens. Als der letzte Ton des Läutens verklungen, die letzten Wortes des Gebetes gesprochen waren, wurde gegenseitig ein guter Abend gewünscht, die Hüte wurden aufgesetzt und nach den Rudern gegriffen. Aber noch einige Zeit wirkte der heilige Schauer fort, die Schläge ins Wasser geschahen so geräuschlos wie möglich und Niemand sprach ein Wort.

Die bebuschte und mit großen Steinen am Rande bedeckte Landzunge war erreicht. Über die Sträucher herab schaute ein kleines, einsames Kapellchen. Hier stiegen die Holzhauer, die eben noch ihre kurzen Pfeifen gestopft und angezündet hatten, aus und verschwanden mit einem freundlichen: „B'hüt' ene Gott!“ im Gebüsch. Schon lagerte die Dämmerung über dem ganzen Seekessel und nur die oben herüberschauenden Felshörner glühten noch, als wir den Landungsplatz am Dorfe Walchensee erreichten, wo uns die erleuchteten Fenster des Wirtshauses nach dieser Geisteserquickung eine Erquickung des Körpers verhießen. Als ich noch einmal zurückblickte, stieg der Mond als breite Sichel über die Berge jenseits und ließ einige gelbliche Lichter auf den vordersten Wellen schaukeln.

Im Gastzimmer war viel Leben. Von nah und fern hatten sich Bewohner des Gebirges eingefunden, um hier Nachtlager zu halten und am nächsten Tage frühzeitig nach dem etwa fünf Stunden entfernten Oberammergau aufzubrechen, wo an diesem Tage auf den Wunsch des Münchener Hofes die Passionsschauspiele wiederholt werden sollten. Unter den Anwesenden befanden sich auch mehrere Geistliche und von ihnen erfuhren wir, dass diese aus dem Mittelalter stammenden religiösen Darstellungen, die diesmal besonders glänzend ausgestattet seien, noch vielen Anklang unter den Hochländern fänden und dass selbst aus Tirol und dem Niederlande viele Menschen herbeiströmten, der wirklichen fremden Besucher nicht zu gedenken. Jedermann freute sich auf dieselben und sah dem kommenden Tage mit Ungeduld entgegen.

Ehe wir uns zur Ruhe begaben, schlich ich mich noch einmal von der Gesellschaft fort und zur Haustüre hinaus. Ungenügsam, wie ein durch ungewohnte Naschereien überraschtes Kind, war ich in den Naturanschauungen nicht zu ersättigen. Schon stand der Mond hoch am Himmel und warf seine sanften, breiten Lichter in einem langen, zitternden Streifen über das Wasser und auf glänzende Halme und Blätter und auf das feuchte Moos der Steine. Die Ferne schwamm in bläulichem Dufte ineinander und nur die oberen Konturen der Berge zeichneten sich ziemlich deutlich von dem hellen Nachthimmel ab. Leises Frösteln nötigte mich zur Rückkehr, denn die Abende und Morgen sind kühl im Gebirge, namentlich zu Anfange des Herbstes. —

Und wieder ein neues Bild sollte uns der nächste Morgen bringen. Die Sonne war bereits aufgegangen, als wir aufbrachen, leuchtete aber als matte Scheibe durch den dichten, weißen Nebel, der über dem See lag und denselben wie die umgebenden Höhen ganz bedeckte. Das Land jedoch war nebelfrei, die frische Luft rein und klar, und ein Glitzern durch den Dunst ließ den Seerand erkennen. Gestärkt und heiter begaben wir uns auf den Weg, der uns über Walgau und Mittenwald nach der Scharnitz, der Porta Claudia, bringen sollte, einer jener Felsenpforten, durch die man in das schöne Land Tirol gelangt. Nach etwa halbstündiger Wanderung erreichten wir die andere Bucht des Sees, das südlichste Ende desselben, und sahen, dass sich die Nebel zu lüften begannen und schon unterhalb einen Teil des Sees und der Berge erkennen ließen. Die Morgensonne, für uns nun außerhalb der Dunstmasse stehend, strahlte freundlich und wärmend und die Myriaden Tautropfen verkündeten einen heißen Tag. Überall zwitscherte und sang es in den Zweigen; muntere Eidechsen schlüpften durch das feuchte Gras und kleine Fischchen spielten in einem Tümpel, den das Seewasser hinter einigen bemoosten Steinen bildete. Eine reine, heitere, fröhliche Morgenfeier der Natur, mit dem weißen Vorhange im Hintergrunde, dessen Aufziehen ein schönes Schauspiel verhieß! — Hier verließen uns diejenigen Begleiter, die dem Oberammergau zuzogen, um rechts durch eine etwas schwierige Waldschlucht nach dem Loisachtale hinüberzugehen. Da ich die Spiele des Nebels schon kannte, veranlasste ich meine Begleiter, an dieser Seeecke ein wenig zu verweilen, da uns das kommende Schauspiel wohl für die Verzögerung der Wanderung entschädigen würde. Es währte auch nicht lange, so begannen die Nebel sich in einer gewissen Höhe zu ballen, von unten herauf und von oben herunterziehend, bis unterhalb der See frei, aber von einem schwachen Schatten bedeckt erschien. Die Bergeshäupter ragten bald hoch und rein über die Dunstmasse heraus und gipfelten sich hellerleuchtet in die tiefblaue Himmelsluft hinauf. Mehr und mehr zur flachen Schicht werdend, bildeten die Nebel nun dichte, weiße Streifen, die sich bald trennten, bald wieder zusammenstießen, dabei aber sichtlich dünner und schwächer wurden, bis nur noch lange, dünne Streifen sich an den Bergen entlang dem Jachenautale zuzogen und dann auch diese, fast zu Fäden verdünnt, zerrissen und sich als kleine Wölkchen zerlösten und zerflossen, von der Sonne aufgetrunken, dass keine Spur von ihnen übrig blieb, und die ganze Landschaft, Himmel, Berge, und See in ungetrübter Reinheit in dem klaren Morgenlichte strahlten. Lange nachdem das letzte Wölkchen zerronnen, standen wir noch, das entzückte Auge auf das schöne Bild geheftet, und als wir uns zum Weitergehen wendeten, nahmen wir mannigfaltige reiche Erinnerungen von diesem schönen Gebirgssee mit uns fort.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bilder aus den Alpen