Abend und Morgen in Zirl

Oberinntal. — Fragenstein. — Charakter eines ächten Alpendorfes. — Neuerungen. — Genrebilder. — Ein Stückchen Alpenglühen. — Morgenluft. — Sonntagstracht. — Die Martinswand und Kaiser Maximilian.

Von Bayern kommend und durch den Scharnitzpass ins Land Tirol getreten, hat man unweit des kleinen malerischen Dorfes Reut den ersten Anblick des herrlichen Oberinntales, und das Auge weidet sich talauf an der schönen Fernsicht. Vom breiten Talboden, auf welchem sich der Inn gleich einem Silberfaden dahinschlängelt und zahlreiche Dörfer mit den weißen spitzgetürmten Kirchen aus den Baumgruppen herausschauen, hebt sich zu beiden Seiten das sogenannte Mittelgebirge, auf seinem Rücken noch zerstreute Dörfer und Waldungen tragend, in vielgestaltigen Umrissen, über welche im Westen vor uns der gewaltige Gebirgszug mit dem riesigen Muttekopf heraustritt, der sich zwischen den Oberinn und den Lech schiebt, während links im Süden die hohen Bergkronen des Weilstein, Hochederspitz und Birkkogel über die Vorberge aufsteigen, von den schneebedeckten Stubaifernen noch überragt. Das Auge findet so viele Anhaltepunkte, auf dem ganzen Bilde liegt eine so eigene malerische Anordnung und Wirkung, dass man sich schwer davon trennt, und wir werden dem Wege dankbar, dass er in seinen Windungen uns noch mehrmals vor dieses Bild führt, wenn auch von immer tieferem Standpunkte, da die Straße von der Höhe des Zirler Berges ziemlich steil in mehrfachen Krümmungen in die Taltiefe führt, und von Seefeld bis Zirl, etwa drittehalb Stunden, gegen 2.000 Fuß fällt. Bei der Hauptbiegung der Straße zeigt sich auch das Inntal nach Innsbruck abwärts, links vom mächtigen Solstein, rechts durch den runden Kopf des Patscherkofel und die zackigen Gipfel des Selrains gekrönt. Zu unsern Füßen liegt die stattliche Burgruine Fragenstein und in der Tiefe das Dorf Zirl, auf welches der Weg nun gerade zuführt. Schnell abwärts wandernd, sind wir bald unterhalb der Burgtrümmer angelangt, deren hohe viereckige Mauermassen mit dem halbverlöschten gemalten Wappen trotziglich auf uns niederschauen. Die malerischen Reste des alten Adelssitzes, von welchem man weit das große Tal auf- und abschauen konnte und welche von oben gesehen einen so schönen Hintergrund durch die saftig grünen Matten der Alpenweiden mit den kleinen grauen Hütten erhalten, erwecken zugleich so freundliche Erinnerungen an den letzten Ritter, den vortrefflichen Kaiser Max, der gern in den Räumen der schönen Burg verweilte, von seinen Bergwanderungen ausruhend.


Gleich unterhalb der Ruinen gelangten wir ins Dorf Zirl und zwar brachte uns die steile Straße unmittelbar auf den freien Platz des Ortes, wo der alte große Brunnen mit dem starklaufenden Röhrwasser unweit des Baches steht, der den Platz der Länge nach teilt, und sich rechts der Gasthof „Zum schwarzen Steinbock“ befindet, den wir seiner Lage willen zum Absteige- und Nachtquartier erwählten. Nachdem wir den Ansprüchen des Magens Genüge geleistet, und ein gutes Abendbrot mit herbem Rotwein genossen hatten, bemächtigten wir uns des einen erkerartig vorspringenden Fensters, um von da aus, halb ruhend, dem bewegten Leben und Treiben auf dem weiten Dorfplatze zuzuschauen.

Obwohl an einer alten Heerstraße nach Italien gelegen, auf der oft deutsche Heerzüge nach dem Süden zogen, die deutsche Kaiser mit ihrem Gefolge auf den Römerfahrten benutzten, welche die Handelswaren Venedigs nach Augsburg befördern half und bis jetzt eine der Hauptstraßen von Deutschland nach dem Süden geblieben ist, hat sich Zirl, das nach und nach so viele Hunderttausende von Reisenden jeder Art vorübergehen sah, noch ganz das Gepräge eines ächten Alpendorfes erhalten. Die unterhalb steinernen, im obern Stockwerk hölzernen Häuser, besitzen meistens vorstellende Holzgänge mit zierlich geschnitzten Geländern, die niedrigen grauen Dächer mit ausgeschnitzten Trägern oder Stützen ragen weit über das Haus und den Gang vor und sind wie überall mit großen Steinen beschwert. Eine Zierde der Häuser sind die überall südlich von München im Gebirge anzutreffenden großen Holzscheiben mit den oft sonderbaren Malereien, die Erinnerungen an Schützenfeste, welche bald mehrere über und neben einander am Giebel, bald in einer Reihe längs der Vorderseite des Ganges hängen. Die ums Schwarz des Zentrums dicht steckenden Pflöcke bekunden die guten Schützen des Dorfes und des Hauses. Besonders malerisch im Äußern und der Gruppierung waren die uns gegenüber liegenden Häuser jenseits des Platzes, über welche die Kirche mit dem schlanken Turme herausragte und die mächtige Bergwand des Selstein emporstarrte. Wenn nun auch mancher der Vorübergehenden durch seine Tracht, wenn der dicht mit Reisenden besetzte Postwagen und so manches Andere ahnen ließ, dass wir uns hier unweit einer großen Stadt an einer Hauptstraße befanden, so machte es doch einen eigentümlichen Eindruck, an den vorstehenden Holzdächern entlang, von Ecke zu Ecke einen Telegraphendraht laufen zu sehen, mit den Isolierhütchen an den befestigten Punkten. Wie sonderbar, dieses neueste großartige Produkt menschlichen Forschens in so naiver, ursprünglicher Umgebung zu finden, und dabei zu denken, welche kaiserliche Befehle, welche Nachrichten den friedlich sich umhertreibenden Bewohnern des Dorfes unbewusst, über ihren Häuptern dahinzitterten. Es ist dies jene Telegraphenlinie, welche von Wien über Salzburg, das Inntal aufwärts nach Vorarlberg führt und zur Verbindung mit diesem Landesteile angelegt wurde, als ein österreichisches Armeekorps längere Zeit in der Nähe des Bodensees stand. Fast möchte man alle dergleichen Berührungen mit den Kennzeichen der Neuzeit fürchten für die stillen gemütlichen Orte, in welche sich das Malerische, was Menschenhand unbewusst geschaffen, in welche sich so viel Poesie geflüchtet hat. Schon gaben sich auch hier Zeichen kund, dass das Nationale diesen Berührungen nicht unbeschadet begegnet, dass das Nivellieren der Sitten und Gewohnheiten auch in diese langverschonten Täler dringt und vielleicht bald den größten Teil des ehemals Eigentümlichen verwischen wird. Schon sieht man die Tracht der modischen ähnlicher werden, die kurzen Kniehosen und fußlosen Strümpfe, welche Kniee und Knöchel zum bequemeren Bergsteigen frei ließen, weichen mehr und mehr den Pantalons, und die jungen Burschen des Inn- und des Zillertales, die Stutzer Tyrols, modeln beständig an ihrer Kleidung. Neue Häuser sieht man nur zu oft gleich den mittel- und norddeutschen, als große viereckige Steinkästen erstehen, mit möglichst vielen parallelen Fenstern und Ziegeldächern und es erweckt nicht geringe Freude, ein neues Haus ganz im alten Gebirgsstile aufgeführt zu finden. Wie lange wird es noch dauern, da ziehen Eisenbahnen durch die einsamen Täler des Landes, wo nur die Gämse haust und sich kaum der Schütze erhalten kann, werden Bahnwärterhäuschen stehen, und über gähnende Abgründe fliegt auf hochgewölbten Viaducten der brausende Dampfwagen mit der langen Schleppe von Waggons, aus denen gähnend der blasierte Reisende herausschaut und sich kaum die Zeit nimmt, einen flüchtigen Blick auf die Gebirgsriesen mit den weißen Schneemänteln zu werfen.

Während wir im Austausch solcher und ähnlicher Gedanken uns unterhielten, war allmählich die erste Dämmerung eingetreten und nur das Haupt des hohen Solstein erglänzte noch in der Abendsonne. Auf dem Platze vor uns war es jedoch noch lebhafter geworden. Um den gewaltigen Röhrtrog, zu welchem mehrere rohe Stufen führten, hatten sich eine Anzahl Mädchen versammelt, welche, auf einander wartend, das Wasser in die Butten laufen ließen und dazu plauderten und schäkerten, und kaum hatte sich eine derselben mit der Butte auf der Achsel entfernt, als auch schon neue Wasserholerinnen ihre Stelle einnahmen. Junge Bursche in der kurzen Jacke, den spitzen Hut keck auf die Seite gerückt, die kurze Pfeife im Munde und die Hände in den Hosentaschen, standen einige bei den Mädchen am Brunnen, andere vor den Häusern, mit den Vorbeigehenden sich neckend und Grüße wechselnd, während wieder andere auf dem Platze auf und nieder wandelten. Ein Dragoner in der blauen Uniform und dem schweren Schleppsäbel, deren mehrere in dem Dorfe einquartiert waren, führte die Pferde zur Tränke und suchte dabei Gelegenheit, mit den lachenden Dirnen sich zu befreunden. Wie mancherlei hübsche Genrebilder dies bot. Das meiste Leben in die Szene brachte aber eine heimkehrende Heerde, deren Kühe hier und da an dem Bache stehen blieben, um zu saufen, oder sich drängten und schoben, den Brunnen zu gewinnen. Hinter ihnen einige Buben mit den Peitschen knallend, indessen kecke Ziegen ihre großen plumpen Gesellschafter umhüpften und die Hälse ausstreckten, um ebenfalls vom Wasser des Röhrtroges naschen zu können, wobei sich bald ein langgehaltenes Brummen, bald ein kurzes Mäckern hören ließ. Als die Heerde sich endlich langsam entfernt, kam noch ein großer Frachtwagen auf dem Wege von Innsbruck her über den Platz und hielt dicht unter uns, um Vorspann zu nehmen. Sogleich waren auch viele Bursche zu sehen, welche, je zwei Pferde führend, dem Wagen zueilten, und obgleich dieser schon mit vier Pferden despannt war, deren noch sechzehn vorlegten. Es war ein eigenes Schauspiel, diese lange doppelte Reihe Pferde bergauf, Kopf über Kopf, perspektivisch sich verjüngen zu sehen, was kaum noch die Dunkelheit erlaubte, und dazu das Schreien und Anrufen und Peitschenknallen zu hören, als die Tiere anziehen sollten und sich der Zug in Bewegung setzte. Lange schon war der Wagen unsern Augen entschwunden und immer noch hörten wir aus der Ferne das Schreien und Knallen. Indessen war es so Nacht geworden, dass wir kaum noch die Umrisse der Berge von der Luft unterscheiden konnten, und wir wollten uns eben vom Fenster zurückziehen, als rechts oben in der Luft ein flammender Fleck unsere Aufmerksamkeit fesselte. War es eine höchste Felsenspitze oder eine Schneelage auf einem der südlich gelegenen Berge, welche die letzten Sonnenstrahlen oder ein uns unsichtbares Abendrot noch wiederspiegelte, wir konnten es nicht entdecken, aber es war ein vereinzeltes Stück Alpenglühen mit aller der Glut und dem Feuer geschmolzenen Metalls, um so eigentümlicher und funkelnder, als ringsum tiefe Dunkelheit, im Dorfe sogar Finsternis herrschte. Bald jedoch ward das Rot dunkler und matter, der Fleck ward endlich weißlichblau und verschwand dann ganz.

Der nächste Morgen, es war ein Sonntag, war frisch und freundlich und die Frühsonne schaute zeitig in unsere Fenster. Während der Vorbereitungen zur Abreise warfen wir oft Blicke durchs Fenster auf den Platz, um die Leute in ihrem Sonntagsstaate zur Frühmesse gehen zu sehen, zu welcher schon die hellen Kirchenglocken geladen hatten. Wen ein solcher Morgen im Gebirge mit seinem nahen und fernen Läuten, seinem erfrischten Grün, dem Singen der Vögel, dem Brüllen der Heerden, dem Sonnenglanz auf den Bergen und im Tale und auf dem Wasser, und dazu die schöne duftige blaue Ferne, nicht ebenfalls erfrischt, erhebt und ihm das Herz so weit macht, dass er unwillkürlich mitjauchzen muss im großen Freudenschrei der Natur, der ist entweder unrettbar der Schwermut verloren oder krank oder sehr anständig. Wir fliehen auch ein solches Alpendorf nicht, wie wir eine Stadt fliehen, um die Natur rein genießen zu können und uns ihrer Einwirkung ganz hinzugeben. So ein Dorf ist selbst ein Stück Natur und schließt sich harmonisch ans Ganze, ohne Widerspruch, ohne Störung. Und auch die Menschen bleiben zum Teil Naturkinder, wenigstens in der Jugend; denn auch auf die jungen Leute, die, aus der Kirche kommend, uns begegneten, schien der Morgen seine unbezwingliche Kraft auszuüben, und man bemerkte, wie es ihnen in den Gliedern juckte, einen Luftsprung zu machen und einen lauten Juchschrei in die frische sonnige Morgenluft hinauszujolen. Sieh! da kommt auch unsere liebenswürdige Wirtin, eine junge Wittwe, mit der ebenso hübschen Schwester aus der Kirche. Auch auf diese wirkt der Einfluss, denn ob sie gleich im sittsam ehrbaren Gange die Nachfeier des kirchlichen Gottesdienstes zeigen, ist das Gesicht ein heiteres und die Augen leuchten sehr lebhaft. Ihr Anblick fesselte um so mehr, da schöne, ja hübsche Frauen in Tyrol zu den Seltenheiten gehören und die schmucke kleidsame Tracht ihre Formen nur noch besser erhob. Der breite, oben weite und nach zwei Seiten gebürstete Männerhut mit der goldenen Schnur, das mit Kettchen geschnürte und mit Münzen verzierte Mieder und die weiten, kurzen Röcke standen ihnen allerliebst. Sie nahmen herzlichen Abschied von uns und es gehörte große Wanderlust dazu, nicht wieder mit ihnen umzukehren, um noch länger in die schönen Augen schauen zu können. —

Bald hatten wir die steile Felswand erreicht, die, gleichsam der Sockel des riesigen 10.000 Fuß hohen Solsteins fast jedem Kinde unter dem Namen der Martinswand mit der schönen Sage bekannt ist. Wir sahen die Höhle, in welcher der Kaiser Maximilian im Jahre 1493 in Todesgefahr schwebte, und das Kruzifix darinnen, welches die Nachweit an jenes Ereignis erinnert. Jeder, der sie zum ersten Male erblickt, findet sich gewissermaßen enttäuscht, denn die Höhle scheint nicht besonders hoch. Es rührt dies aber durch die gewöhnliche Täuschung in den Alpen her, wo die reine, Alles näherrückende Luft und die gewaltigen Bergformen der Umgebung jedes Maß in einiger Entfernung schwierig machen. Wer würde wohl auf den ersten Blick und ohne nähere Untersuchung glauben, dass sich die Höhle 800 Fuß über unserm Standpunkt befindet und dass das so klein erscheinende Kreuz eine Höhe von 18 Fuß, folglich drei Menschenlängen habe.

Vielleicht standen wir, den interessanten Punkt betrachtend, auf derselben Stelle, wo die Hirten zuerst mit Staunen und Schrecken sich über die Todesnot des winzigen Menschen da oben klar wurden, und wo der Jägerschwarm den verirrten und schon zwei Tage vermissten Kaiser suchend, ebenfalls erschreckt nach der Höhle starrt, bis Einer aus ihrer Mitte durch das Sprachrohr hinaufruft: „Seid Ihr es, Herr Kaiser, so werft einen Stein herab!“ worauf der gewichtige Stein zur Tiefe fällt und das Hüttendach am Fuße des Berges durchbricht. Dann war es auch hier, wo die klagende und betende Volksmenge die Sendung durch das mit dem goldenen Vließe umwickelte Pergamenttäfelchen erhielt, dass der hohe Herr ergeben und auf den Tod gefasst sei, und den priesterlichen Segen vor seinem Hinscheiden wünsche; hier, wo die lautlose Menge um die fungierenden Priester kniete, während die warme Abendsonne die hohe Felswand vor ihnen mit der Unglückshöhle vergoldete und in dem Gold und dem Demantskranze der Monstranz fun»kelte, als Schuss um Schuss dem Armen da droben das Vorwärtsschreiten der heiligen Handlung verkündete; wo, lange nachdem ihr die Dämmerung den Anblick des vor Hunger, Ermüdung und Todesangst Ermatteten entzogen, die Menge noch betend auf den Knieen lag, den Himmel um ein leichtes Dahinscheiden des geliebten Fürsten anflehend, bis der Gerettete mit seinem rüstigen Begleiter unter sie trat und ihnen zurief:

„Lobet den Herrn und seine Macht!
„Seht! Mich hat sein Engel zurückgebracht.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bilder aus den Alpen