6. Folgen des Alkoholmissbrauchs

Wir haben soeben gesehen, wie bei der armen, schlecht und ungenügend ernährten Arbeiterbevölkerung (und diese bildet bei uns und anderwärts leider einen großen Teil der Gesamtbevölkerung) der übermäßige Gebrauch des Alkohols sich ganz naturgemäß entwickelt. Man kann den Armen keinen Vorwurf daraus machen; sie fordern eher unser Mitleid heraus. Nirgends passt der Spruch besser als hier: Tout comprendre, c’est tout pardonner. Aber mit unserm Mitleid ist wenig geholfen. Wir werden besser thun zu untersuchen, wie wir Abhilfe schaffen können. Vorher aber will ich kurz auseinandersetzen, welche Folgen der Missbrauch des Alkohols nach sich zieht.

Übrigens ist es nicht immer Not und Elend, welche diesen Missbrauch veranlassen, zuweilen tut es auch das Gegenteil. In England sind das Delirium tremens und andre Folgen des übermäßigen Genusses von Porter und Sherry unter den höheren Ständen nicht selten, und dass auch Damen ihr Kontingent dazu stellen, beweisen die Ankündigungen besondrer Heilanstalten für solche, wie man sie allwöchentlich in dem Anzeigenteil der gelesensten medizinischen Zeitschriften findet. Um nicht ganz hinter dieser „Blüte der Zivilisation“ zurückzubleiben, hat auch Deutschland jetzt solche Anstalten erhalten. Unerwarteter Überfluss ist bei Leuten, die sonst darben müssen, oft Veranlassung zu Ausschreitungen im Alkoholgenuss. So weiß ich es aus dem Munde des verstorbenen berühmten Klinikers Traube, dass zur Zeit der abnorm hohen Arbeitslöhne während der Epoche der „Gründungen“ die Häufigkeit des Säuferwahnsinns bei Arbeitern und ganz besonders bei jugendlichen Individuen dieser Klasse in erschreckendem Grade zugenommen hat. Und als Gegenstück dazu können wir die Tatsache registrieren, dass während der Zeit der Arbeitseinstellungen in den Bergwerksdistrikten Englands, wo es den Arbeitern sehr an Geld fehlt, die Zahl der aus Trunkenheit entspringenden Erkrankungen, Verbrechen u, s. w. erheblich abzunehmen pflegt.


Die Wirkungen anhaltenden übermäßigen Genusses von Alkohol sind sehr verwickelte. Die Ernährung ist anfangs scheinbar gut, die Leute werden fett dabei; aber das Fett ist schmierig, die Haut welk, die Hautgefäße stark erweitert, als lote Linien sichtbar, besonders an den Augen, der Nase, den Wangen; auch Hautausschläge sind nicht selten. In den spätern Stadien tritt Abmagerung und Kräfteverfall ein. Die Mundschleimhaut ist belegt, blass; Rachen-, Magen- und Darmkatarrhe, häufig mit chronischem Erbrechen, besonders am Morgen, verbunden, stellen sich ein; später kommen hartnäckige Stuhlverstopfung, blutige Stühle und Stuhlzwang hinzu. Die Leber ist anfangs vergrößert, sehr blutreich, wird dann fettig, zuletzt bindegewebig entartet (cirrhotisch). Dadurch entstehen Störungen im Pfortaderkreislauf, Blutungen und Bauchwassersucht (Ascites) Kehlkopf, Luftröhre, Lungen sind oft katarrhalisch, zu Entzündungen sehr geneigt; die Lungenentzündungen sind bei Trinkern besonders gefährlich. Der Herzschlag ist unregelmäßig, das Herz wird fettig entartet, Herzbeutelentzündungen kommen häufig vor. Die Arterien werden starr, brüchig (atheromatös), geben leicht zu Blutungen Veranlassung. Die Nieren verfetten und schrumpfen, Nieren- und Blasensteine sind häufig, ebenso Blasenkatarrhe, Blutungen in die Harnorgane. Die Muskeln werden schlaff, häufig fettig entartet, die Bewegungen zitternd und unkräftig, besonders die der Zunge und Hände. Knochenerkrankungen mit heftigen „rheumatischen“ Schmerzen stellen sich ein. Die Hirnhäute sind verdickt, entzündet, mit kleinen Blutungen durchsetzt; die Blutgefäße des Gehirns sind erweitert, die Hirnsubstanz selbst trocken, geschrumpft, stellenweise erweicht und mit Blutungen durchsetzt. Der ganze Gemütszustand ist verändert, der Mensch wird reizbar, später missmütig und melancholisch, roh, streitsüchtig, rechthaberisch, dabei häufig sehr geschwätzig; dazu gesellen sich Schlaflosigkeit, schreckliche Träume, Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Endlich kommen Ausbrüche von Delirium, zuletzt Verrücktheit, welche endlich in vollkommenen Blödsinn übergeht.

Zwischen die einzelnen Stufen dieses schneller oder langsamer sich abwickelnden Verlaufs schieben sich allerlei Zufälle ein, als da sind: akutes Delirium, gekennzeichnet durch Unstetigkeit, Ruhelosigkeit, gesteigertes Zittern und vermehrte Geschwätzigkeit, auffallende Träume und Wahnvorstellungen von Räubern, Mäusen u. d. g., Verfolgungswahn, Gesichtsund Gehörs-Halluzinationen, Anfälle von Tobsucht, heftiger Durst, trockne Zunge, heisere Stimme, kalter Schweiß. Ein solcher Anfall endet häufig mit Verfall und tiefem Schlaf, worauf dann ein Nachlass der Krankheit folgt, — zuweilen aber auch mit plötzlichem Tod.

Der Tod des Säufers erfolgt häufig an irgend einer akuten Krankheit. Alle Krankheiten sind bei ihm viel gefährlicher als bei gesunden Menschen, besonders Typhus und Lungenentzündung. Zuweilen erfolgt der Tod ganz plötzlich, ohne nachweisbare direkte Veranlassung, meistens aber als Folge jener allmählichen Zerrüttung aller Organe, die oben kurz charakterisiert worden ist.

Aber auch mit dem Tode des Säufers hat der Alkohol seine zerstörende Wirkung noch nicht vollendet, er wirkt auch noch auf seine Nachkommenschaft. Nicht allein, dass ein großer Teil der Säufer seine Tage im Irrenhaus beschließt, auch ihre Kinder verfallen dem Irrsinn. Es ist festgestellt, dass ein großer Teil der Geisteskranken entweder von Geisteskranken oder von Trunkenbolden abstammen. Und eben diese Nachkommen von Trinkern liefern auch ein großes Kontingent zur Verbrecherwelt. Wie kann es auch anders sein? Im Hause des Säufers lockern sich alle Familienbande; der Not und dem Elend preisgegeben, werden die Kinder hinausgestoßen in die Welt, ehe sie genug moralischen Halt gewonnen haben, um sich in dieser zurechtzufinden. Achtung vor der Sitte und dem Gesetz haben sie im elterlichen Hause nicht gelernt. Aber mehr als das: die moralische Schwäche, welche den Vater zum Trunkenbold hat werden lassen, war zum Teil eine körperliche Anlage, und diese vererbt sich auf die Kinder und macht sie zu Verbrechern. Wenn wir auch nicht den Übertreibungen zustimmen können, welche ein Teil der Ärzte im Anschluss an den Italiener Lombroso vorgebracht haben, so dürfen wir doch auch nicht verkennen, dass ein großer Teil der Verbrechen auf krankhaften Anlagen beruht, welche die volle moralische Verantwortung bei den kranken Menschen beeinträchtigen, um so dringender wird aber auch die Überzeugung, dass diesen Übeln, dieser Volkskrankheit, nicht mit Strafandrohungen abgeholfen werden kann, sondern nur durch positive Mittel: durch Erziehung und Unterricht, durch Verbesserung der Ernährung, der Wohnungen, mit einem Worte durch gesunde Lebensweise.

Und der größte Feind dieser anzustrebenden gesunden Lebensweise ist und bleibt stets der Alkohol. „Überlegten die Menschen ernstlich, wie sie am besten für ihr leibliches Wohl sorgen, sie würden wahrscheinlich niemals zum Schnaps greifen, es sei denn, sie nehmen ihn unter besondern Umständen als Arznei. Man kann nicht behaupten, dass ganz gesunde Personen durch irgend einen zwingenden Grund genötigt werden, Schnaps zu trinken. Jedenfalls steht sein Nutzen in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den er anrichtet. Schnaps ist unzweifelhaft die ergiebigste Quelle von Elend, Sünde, Verbrechen, Irrsinn, Krankheit. Ohne die vergiftende Wirkung des Schnapses würde manches böse Werk unterbleiben, manches gute besser ausfallen.“

Man wird dagegen einwenden, ein mäßiger Branntweingenuss könne nicht schaden, sei vielmehr von Nutzen, wenn der erschöpfte Körper eines Reizmittels bedarf. Zugegeben, und wir haben ja selbst oben die Bedingungen erörtert, wo dies zutrifft. Aber selbst in diesen Fällen wäre doch unzweifelhaft Ruhe und eine tüchtige Mahlzeit dem Körper noch zuträglicher gewesen und hätte schlie?lich noch mehr geleistet, und in den meisten Fällen wird eine ordentliche Anspannung der Willenskraft dasselbe zu leisten imstande sein, was der Schnaps dem Trägen freilich auf bequemere Weise, aber doch nur ganz vorübergehend gewährt. Wie oft habe ich gesehen, dass im Kriege bei anstrengenden Märschen in Kälte und Nässe oder in Hitze der eine Soldat seine Zuflucht zur Schnapsflasche nahm, während der andre ohne diese auskam und schließlich länger aushielt als jener. Und so ist es in allen Lagen. Der Schnaps ist ein gefährlicher Freund; er gleicht dem Wucherer, der seine Dienste nur gegen hohe Zinsen leistet, und der immer und immer wieder in Anspruch genommen werden muss, bis zuletzt der Schuldner ganz zu Grunde gerichtet ist.

Ist es erst dahin gekommen, dass in Folge längeren Alkoholgenusses der ganze Organismus von dem Gifte ergriffen ist, dann kann der Mensch gar nicht mehr ohne ihn leben. Hohlwangig und bleich, nach einem unruhigen, von bösen Träumen begleiteten Schlaf erhebt er sich morgens von seinem Lager. Seine Hände zittern, seine Gedanken sind wirr, mit stierem Blick sucht er umher — da sieht er die Schnapsflasche. Gierig greift er nach ihr, umfasst sie krampfhaft, führt sie zitternd und unsicher an den Mund und saugt gierig das Gift in sich hinein.

Und nun geht eine wunderbare Veränderung in ihm vor. Seine Züge beleben sich, seine Augen erhalten einen unheimlichen Glanz, seine zittrigen Hände werden ruhig. Wer die Sache nicht kennt, würde glauben, einen gesunden, kräftigen Mann vor sich zu haben. Aber die Wirkung hält nicht lange vor, und immer wieder muss zu jenem Mittel gegriffen werden, dem tückischen Gift, von dem jeder Schluck einen „Nagel zum Sarge“ vorstellt.

Das ist ein garstiges Bild, aber es ist nicht übertrieben. Man lese die meisterhaften Schilderungen derartiger Scenen bei Bret Harte und man gehe hin und beobachte die Leute, welche unsre Schnapskneipen bevölkern, und man wird sich überzeugen, dass die Modelle zu dem Bilde nicht bloß in Kalifornien vorkommen.

Leider sind derartige Erscheinungen auch in andern Kreisen noch zu finden. Geistige Überarbeitung führt nicht selten auch hervorragend begabte Männer dazu, Anstachelung im Alkohol zu suchen. Die im übrigen gesundheitsgemäßere Lebensweise verzögert den Verlauf der Krankheit und ändert in vieler Beziehung den Ablauf der Erscheinungen, aber die traurigen Folgen sind, wenn auch minder abschreckend, dennoch unvermeidlich.