Über die Verfolgung der französischen Armee durch die Russen nach der Schlacht von Malo-Jaroslawetz bis in die Gegend von Smolensk
Die Schlacht bei Malo-Jaroslawetz hatte die Situation völlig verändert.
Napoleon hatte den Kampf daselbst nicht erneuert und den Rückzug angetreten, sprach es also damit aus, dass er sich zu schwach fühle, noch weiter nach einer Entscheidung zu streben.
War bis dahin das Ausweichen der Russen, das Vermeiden des Kampfes ihrerseits, die berechtigte Handlungsweise gewesen, so musste dagegen mit dem beginnenden Rückzuge des Gegners das Streben nach Kampf in den Vordergrund treten, indem jener Wendepunkt eingetreten war, der mit dem geänderten Kraftverhältnisse eine Änderung der Absicht bedingte, und dem Verteidiger gebot, durch den Übergang in die strategische Offensive, durch eine kräftige Verfolgung des weichenden Gegners, die Früchte der Ausdauer und der gebrachten Opfer zu ernten.
Wir haben im Laufe dieser Betrachtungen zu bemerken Gelegenheit gefunden, wie sich das Verhältnis der Kraft allmählich zu Ungunsten des Angriffes änderte; die zerstörenden Reibungs-Elemente und die, der Flanken-Empfindlichkeit wegen nötigen defensiven Maßregeln absorbierten so namhafte Kräfte, dass die französische Armee, welche ungefähr 500.000 Mann stark den Niemen überschritt, nach einem Feldzuge von noch nicht zwölf Wochen nur 100.000 Mann nach Moskau brachte.
Mit dem veränderten Kraftverhältnisse erfolgte aber auch eine Änderung der Situation. Jene der französischen Armee war recht ungünstig geworden; sie stand 50 Meilen von ihrem nächsten Zwischensubjekte Smolensk entfernt, auf eine einzige, durch ein ausgesogenes Land ziehende Verbindung beschränkt und auf allen Seiten von Feinden umgeben.
Die Lage der russischen Armee hingegen war eine relativ sehr gute geworden.
Sie hatte durch den Gewinn an Zeit die Vollendung der Rüstungen, das Aufstellen der Milizen, das Herbeirücken entfernter Heeresteile möglich gemacht; endlich stand sie, allerdings durch den Zufall dahin gebracht, in einer äußerst günstigen Flankenstellung, von wo aus sie die Linie des nun notwendig gewordenen französischen Rückzugs in der kürzeren Sehnenrichtung bedrohte.
War nun für die Russen, durch ihre faktisch erlangte Überlegenheit an Zahl, der Zeitpunkt für eine kräftige Offensive eingetreten, so wirft sich jetzt die Frage auf, in welchem Raume dieselbe geführt werden musste, d. h. wie die Russen unter den herrschenden Verhältnissen zu verfolgen hatten und wo und wie sie hoffen konnten, unter den günstigsten Umständen zu den größten Ergebnissen zu gelangen.
Die Lehren, welche die Theorie in Bezug auf die Verfolgung und die verschiedenen Arten derselben aufstellt, deren Details wir als bekannt voraussetzen und hier nicht weiter erörtern wollen, geben der parallelen oder Flankenverfolgung den Vorzug, ein Vorzug, der vornehmlich dadurch begründet ist, dass diese Art der Verfolgung dem Verfolgenden die Möglichkeit gewährt, dem Gegner auf dessen Rückzugswege zuvorzukommen, was die größten Erfolge verspricht.
Der günstigste Ausgangspunkt dazu ist jener, aus einer Flankenstellung, also aus der Situation, die der einfachen Umgehung entspricht, weil er leicht die Absicht des Zuvorkommens zur Erfüllung bringt, während aus dem Frontal- oder Zentralangriffe nur eine überlegene Schnelligkeit hiezu führen könnte.
Die Aufstellung der Russen kam dieser Anforderung nach, indem sie jedem Punkte der feindlichen Rückzugslinie näher war, als die französische Armee selbst in ihrer Stellung in und südlich von Moskau; und hätten die Russen in Folge des Kampfes bei Malo-Jaroslawetz selbst bis Kaluga weichen müssen, so wäre noch immer, ja vielleicht gerade von hier aus am besten, das Zuvorkommen auf der kürzesten und guten Straße über Juchnow auf Wiäzma möglich gewesen.
Geht also die Flanken-Verfolgung naturgemäß aus der Flankenlage hervor, so mussten auch die Russen vor Allem zu ihr schreiten, und der Grundgedanke ihrer ferneren Handlungen musste das Streben sein, den Franzosen zuvorzukommen, um zu dem längst erwarteten Schlage unter den günstigsten Umständen zu gelangen. Für den russischen Feldherrn konnte es sich daher nur noch darum handeln, zu entscheiden, wann und wo das erfolgen sollte.
Abgesehen von der ganz unerlässlichen Forderung, nur unter vorteilhaften Bedingungen zum Kampfe zu schreiten, wird für die Bestimmung des „Wann“ hauptsächlich der Zustand der eigenen und der feindlichen Armee maßgebend sein, während die Festsetzung des „Wo“ vornehmlich von der Lage jener Räume abhängig sein wird, in denen der Feind nur unter möglichst nachteiligen Umständen kämpfen kann, und welche durch das Auftreffen von Querverbindungen aus der parallelen Linie für den verfolgten Zweck strategische Bedeutung erlangen.
Um nun zur Feststellung dieser Räume zu gelangen, müssen wir uns gegenwärtig halten, dass die Idee der Verfolgung mit dem angetretenen Rückzuge der Franzosen berechtigt entstand, die Tat ihr selbst unmittelbar folgte und somit der Wendepunkt zwischen Ausweichen und Offensive für die Russen faktisch eingetreten war; ersteres hatte seine Grenze also gefunden, für letztere aber, u. z. sowohl für ihre beabsichtigte Wirkung, wie für den nun zu suchenden Erfolg, musste Maß und Grenze erst bestimmt werden.
Mit dem Beginne des Rückzuges hatte Napoleon seine Schwäche manifestiert; er sprach es damit aus, dass er Verstärkungen nötig habe und dass es ihm Bedürfnis sei, jetzt, da er sich schwach fühlte, eine strategisch bessere Lage zu gewinnen.
Dieser Zustand der französischen Armee musste für die Russen ein Sporn zu großer Tätigkeit sein, damit sie Napoleon hinderten, sein Streben zu realisieren; sie konnten es, weil sie dabei kein besonderes Wagnis eingingen, indem sie nicht zu befürchten brauchten, selbst nach einer Schlappe verfolgt zu werden; und sie sollten es, weil sie alle Verstärkungen, auf die sie bis dahin hatten rechnen können, bereits au sich gezogen, weil sie ihren Hilfsmitteln nahe standen und sich daher ihre materielle Lage weder durch längeren Aufschub, noch mit dem Vordringen westwärts verbessern konnte.
Die vorhin erwähnte, von Napoleon ersehnte bessere Lage fand er in der Gegend von Smolensk, da er in dieser Stadt und in Witebsk eine Zwischenbasis geschaffen hatte, in welcher bedeutende Vorräte an Lebensmitteln, Munition und Bekleidungsgegenständen angesammelt worden waren und bei welcher das nachgerückte 9. Corps unter Victor und die Division Baraguay d'Hilliers *) als strategische Reserve standen.
Die Punkte, an denen eine Einwirkung der Russen entweder durch einen Flankenangriff oder besser durch völliges Zuvorkommen stattfinden konnte, lagen also in der Strecke zwischen Moshaisk und Smolensk: denn gelang es den Russen die innere Linie zwischen dieser Basis und der französischen Armee zu gewinnen, so war nach einem ziemlich wahrscheinlichen, entscheidenden Erfolge der Russen die völlige Vernichtung ihres Gegners unvermeidlich, da sie ihm den Rückweg verlegen und ihn nordwärts abdrängen konnten: auf jeden Fall aber waren in jener Strecke günstige Kampfbedingungen für die Russen zu erwarten, da die Franzosen, auf einer einzigen Straße sich bewegend, gezwungen waren, in Abständen zu marschieren, der Angriff ihre Flanke traf und daher die beste Situation zur Ausbeutung relativer Überlegenheit vorhanden war.
Nachdem wir nun die Gegend im Allgemeinen bezeichnet haben, müssen wir noch festzustellen suchen, wann und wo im Besonderen die Russen bei dem Rückzuge der Franzosen die günstigste Gelegenheit zu einem entscheidenden Schlage finden konnten und warum dieser nicht geschah.
Ob sich der Angriff näher an Moskau oder an Smolensk mehr für die Russen empfahl, lässt sich mit Bestimmtheit nicht angeben, da für jeden besondere Vorteile sprachen.
Erfolgte der Angriff der Russen im Beginne des französischen Rückzugs, so ersparten sie sich dadurch lange Märsche unter dem zerstörenden Einflüsse der strengen Jahreszeit; die russische Armee war dann noch bei voller Kraft und traf den Feind ferne von seinen nächsten Reserven und Hilfsquellen, die er erst bei Smolensk fand.
*) Das 9. Corps hatte in 3 Infanterie- und 1 Kavallerie-Division 30.000 Mann Polen, Sachsen, Badenser, Hessen und Berger.
Die Division Baraguay d'Hilliers bestand aus drei Marsch-Brigaden, denen ein leichtes Kavallerie-Regiment (Polen) und 6 Geschütze beigegeben worden waren. Sie zählte 15.000 Streitbare, worunter 1.200 Reiter.
Dagegen war aber der Zustand der französischen Armee dann noch ein sehr respektabler, während bei einem Kampfe näher an Smolensk, der Rückzug schon demoralisierend auf dieselbe gewirkt haben musste, wenn die Russen, im Sinne der parallelen Verfolgung, mit einem Bruchteile ihrer Kraft auch direkte folgten, dem Gegner die Ruhe raubten, ihn zu immer wiederholten partiellen Kämpfen zwangen und auf diese Weise den Auflösungsprozess förderten. Stets musste jedoch dafür gesorgt werden, zwischen Malo-Jaroslawetz und der Gegend von Smolensk die Entscheidung herbeizuführen.
Die erste Gelegenheit hiezu bot sich bei Wiäzma, wo die von Südosten kommende Straße in die Rückzugs-Straße der französischen Armee einmündet.
Am 3. November hatten erst die Garde und das 8. Corps Wiäzma passiert und Ney diesen Punkt selbst erreicht, wo er den Durchzug Aller abwarten sollte, um den Dienst der Arrièregarde zu übernehmen; das 4. und 5. Corps näherten sich erst und das 1. Corps war noch im Defilieren durch Federowskoje begriffen.
Die französische Armee, welche bereits unter dem Einflüsse der strengen Kälte gelitten und schon viele Nachzügler hatte, war an diesem Tage in einer Tiefe von sieben Meilen verteilt.
Miloradovitsch drang in richtiger Würdigung der nachteiligen Lage der Franzosen an die Rückzugstrasse derselben mit großer Energie vor, wohl in der Meinung die Arrièregarde anzufallen, während er zwischen Eugen und Davoust geriet und durch das Zusammenwirken beider seine Absicht vereitelt sah.
Kutusow hingegen, der über Medyn die Pudelcurve beschrieb, statt in der Sehnenrichtung auf Wiäzma, den nächsten Schwerpunkt zu rücken, am 2. November Dubrowa erreicht und von Miloradovitschs Absicht, am nächsten Tage anzugreifen, Meldung erhalten hatte, näherte sich am 3. langsam Wiäzma gegen Bikowo und sendete nur das Kavallerie-Corps Uwarows voraus, während das Gros erst gegen Abend eintraf.
Seine ursprüngliche Richtung gegen Moshaisk und die dadurch herbeigeführte Verspätung wollen seine nationalen Verteidiger damit entschuldigen, dass sie sagen, er habe jenen Weg nicht unbeachtet lassen dürfen, weil er nicht habe wissen können, ob Napoleon nicht etwa die Straße über Sytschewka, Bjeloi und Wjelisch auf Witebsk einschlagen werde; da wir jedoch die Behauptung aufgestellt und begründet haben, dass Kutusows Handlungsweise im Sinne der parallelen Verfolgung von dem Gedanken des Zuvorkommens geleitet sein musste, so können wir jenen Versuch der Verteidigung nicht akzeptieren, sondern müssen darauf beharren, dass dem Streben, den Franzosen zuvorzukommen, weit eher in der entscheidenden Richtung über Wiäzma zu entsprechen war; denn von Medyn über Juchnow und Wiäzma nach Bieloje sind es 37 Meilen; von Wereja dagegen, von wo die Franzosen ausgingen, über Moshaisk, Zubtzow und Sytschewka nach Bjeloje 46 Meilen.
So richtig nun an sich der Gedanke Miloradovitschs war, die Franzosen anzufallen, so musste, um einen Erfolg zu erlangen, dieser Anfall doch mit ganzer Kraft geschehen; die Richtigkeit dieser Idee war aber bei Kutusow nicht zum Durchbruche gelangt, sonst hätte ihn diese Erkenntnis zu größter Tätigkeit anspornen müssen, während er sich in Wirklichkeit nur langsam näherte.
Diese Unsicherheit und Unentschlossenheit Kutusows, dieses absichtliche Zurückbleiben, worüber bei Wiäzma die ganze Armee unwillig war, wurzelten in einer übergroßen Vorsicht, die nun, da es galt die Früchte früheren behutsamen und bedächtigen Handelns zu ernten, nicht am Platze war, und die wohl hauptsächlich der Furcht vor dem Namen Napoleons und vor seinen kriegsgeübten und sieggewohnten Scharen entsprungen sein mag, die man noch ungebrochen glaubte.
Bei Wiäzma hatten die Russen also die günstige Gelegenheit versäumt; lag es nun in ihrem Interesse, den Todesstreich zu führen, bevor Napoleon die Gegend von Smolensk erreicht hatte, wo Verstärkung und materielle Unterstützung seiner warteten, so mussten andere Punkte zum Angriffe und Zuvorkommen gewählt werden, wo für den Kampf vorteilhafte lokale Verhältnisse die Folgen eines Sieges steigern konnten.
Mit Rücksicht darauf und auf das im Eingange dieses Kapitels Gesagte, sowie mit Rücksicht auf die raue Jahreszeit, welche die Bewegung auf die Straße beschränkte, waren zum Kampfe günstige Punkte, durch den Zug der Straße bedingt, die Dniepr-Übergänge westlich von Dorogobusch und endlich bei Smolensk selbst: letzterer aber nur dann, wenn die Russen sich vorher in den Besitz der Stadt setzten.
Auch hier versäumte Kutusow die Gelegenheit, Napoleons Armee zu vernichten; er lies ihn durch Miloradovitsch, aber auch nur bis Dorogobusch direkt verfolgen und begnügte sich, ihn mit der Hauptmasse in der Flanke zu begleiten.
Eine so schlaffe Verfolgung ist aber keine solche, die zu großen Resultaten führt; zwar hatte sie die Form einer parallelen Verfolgung, aber es fehlte ihr der Geist derselben, welcher in dem Streben nach Kampf zum Ausdrucke kommen muss.
Kutusow dachte nur an Vorsicht; er meinte, den Rest der Arbeit den Flankencorps, die Napoleon jeden Ausweg versperren sollten, dem Hunger, der Kälte, den Strapazen und dem Elend überlassen zu sollen, während er selbst Gelegenheit hatte, den Feind in verzweifelte Lagen zu bringen.
In Wahrheit war es die Furcht vor Napoleon, der ihm selbst im Unglücke als ein Titan erschien, was ihn abhielt, sich auf dessen Rückzugs-Straße zu wagen.
Napoleon hatte den Kampf daselbst nicht erneuert und den Rückzug angetreten, sprach es also damit aus, dass er sich zu schwach fühle, noch weiter nach einer Entscheidung zu streben.
War bis dahin das Ausweichen der Russen, das Vermeiden des Kampfes ihrerseits, die berechtigte Handlungsweise gewesen, so musste dagegen mit dem beginnenden Rückzuge des Gegners das Streben nach Kampf in den Vordergrund treten, indem jener Wendepunkt eingetreten war, der mit dem geänderten Kraftverhältnisse eine Änderung der Absicht bedingte, und dem Verteidiger gebot, durch den Übergang in die strategische Offensive, durch eine kräftige Verfolgung des weichenden Gegners, die Früchte der Ausdauer und der gebrachten Opfer zu ernten.
Wir haben im Laufe dieser Betrachtungen zu bemerken Gelegenheit gefunden, wie sich das Verhältnis der Kraft allmählich zu Ungunsten des Angriffes änderte; die zerstörenden Reibungs-Elemente und die, der Flanken-Empfindlichkeit wegen nötigen defensiven Maßregeln absorbierten so namhafte Kräfte, dass die französische Armee, welche ungefähr 500.000 Mann stark den Niemen überschritt, nach einem Feldzuge von noch nicht zwölf Wochen nur 100.000 Mann nach Moskau brachte.
Mit dem veränderten Kraftverhältnisse erfolgte aber auch eine Änderung der Situation. Jene der französischen Armee war recht ungünstig geworden; sie stand 50 Meilen von ihrem nächsten Zwischensubjekte Smolensk entfernt, auf eine einzige, durch ein ausgesogenes Land ziehende Verbindung beschränkt und auf allen Seiten von Feinden umgeben.
Die Lage der russischen Armee hingegen war eine relativ sehr gute geworden.
Sie hatte durch den Gewinn an Zeit die Vollendung der Rüstungen, das Aufstellen der Milizen, das Herbeirücken entfernter Heeresteile möglich gemacht; endlich stand sie, allerdings durch den Zufall dahin gebracht, in einer äußerst günstigen Flankenstellung, von wo aus sie die Linie des nun notwendig gewordenen französischen Rückzugs in der kürzeren Sehnenrichtung bedrohte.
War nun für die Russen, durch ihre faktisch erlangte Überlegenheit an Zahl, der Zeitpunkt für eine kräftige Offensive eingetreten, so wirft sich jetzt die Frage auf, in welchem Raume dieselbe geführt werden musste, d. h. wie die Russen unter den herrschenden Verhältnissen zu verfolgen hatten und wo und wie sie hoffen konnten, unter den günstigsten Umständen zu den größten Ergebnissen zu gelangen.
Die Lehren, welche die Theorie in Bezug auf die Verfolgung und die verschiedenen Arten derselben aufstellt, deren Details wir als bekannt voraussetzen und hier nicht weiter erörtern wollen, geben der parallelen oder Flankenverfolgung den Vorzug, ein Vorzug, der vornehmlich dadurch begründet ist, dass diese Art der Verfolgung dem Verfolgenden die Möglichkeit gewährt, dem Gegner auf dessen Rückzugswege zuvorzukommen, was die größten Erfolge verspricht.
Der günstigste Ausgangspunkt dazu ist jener, aus einer Flankenstellung, also aus der Situation, die der einfachen Umgehung entspricht, weil er leicht die Absicht des Zuvorkommens zur Erfüllung bringt, während aus dem Frontal- oder Zentralangriffe nur eine überlegene Schnelligkeit hiezu führen könnte.
Die Aufstellung der Russen kam dieser Anforderung nach, indem sie jedem Punkte der feindlichen Rückzugslinie näher war, als die französische Armee selbst in ihrer Stellung in und südlich von Moskau; und hätten die Russen in Folge des Kampfes bei Malo-Jaroslawetz selbst bis Kaluga weichen müssen, so wäre noch immer, ja vielleicht gerade von hier aus am besten, das Zuvorkommen auf der kürzesten und guten Straße über Juchnow auf Wiäzma möglich gewesen.
Geht also die Flanken-Verfolgung naturgemäß aus der Flankenlage hervor, so mussten auch die Russen vor Allem zu ihr schreiten, und der Grundgedanke ihrer ferneren Handlungen musste das Streben sein, den Franzosen zuvorzukommen, um zu dem längst erwarteten Schlage unter den günstigsten Umständen zu gelangen. Für den russischen Feldherrn konnte es sich daher nur noch darum handeln, zu entscheiden, wann und wo das erfolgen sollte.
Abgesehen von der ganz unerlässlichen Forderung, nur unter vorteilhaften Bedingungen zum Kampfe zu schreiten, wird für die Bestimmung des „Wann“ hauptsächlich der Zustand der eigenen und der feindlichen Armee maßgebend sein, während die Festsetzung des „Wo“ vornehmlich von der Lage jener Räume abhängig sein wird, in denen der Feind nur unter möglichst nachteiligen Umständen kämpfen kann, und welche durch das Auftreffen von Querverbindungen aus der parallelen Linie für den verfolgten Zweck strategische Bedeutung erlangen.
Um nun zur Feststellung dieser Räume zu gelangen, müssen wir uns gegenwärtig halten, dass die Idee der Verfolgung mit dem angetretenen Rückzuge der Franzosen berechtigt entstand, die Tat ihr selbst unmittelbar folgte und somit der Wendepunkt zwischen Ausweichen und Offensive für die Russen faktisch eingetreten war; ersteres hatte seine Grenze also gefunden, für letztere aber, u. z. sowohl für ihre beabsichtigte Wirkung, wie für den nun zu suchenden Erfolg, musste Maß und Grenze erst bestimmt werden.
Mit dem Beginne des Rückzuges hatte Napoleon seine Schwäche manifestiert; er sprach es damit aus, dass er Verstärkungen nötig habe und dass es ihm Bedürfnis sei, jetzt, da er sich schwach fühlte, eine strategisch bessere Lage zu gewinnen.
Dieser Zustand der französischen Armee musste für die Russen ein Sporn zu großer Tätigkeit sein, damit sie Napoleon hinderten, sein Streben zu realisieren; sie konnten es, weil sie dabei kein besonderes Wagnis eingingen, indem sie nicht zu befürchten brauchten, selbst nach einer Schlappe verfolgt zu werden; und sie sollten es, weil sie alle Verstärkungen, auf die sie bis dahin hatten rechnen können, bereits au sich gezogen, weil sie ihren Hilfsmitteln nahe standen und sich daher ihre materielle Lage weder durch längeren Aufschub, noch mit dem Vordringen westwärts verbessern konnte.
Die vorhin erwähnte, von Napoleon ersehnte bessere Lage fand er in der Gegend von Smolensk, da er in dieser Stadt und in Witebsk eine Zwischenbasis geschaffen hatte, in welcher bedeutende Vorräte an Lebensmitteln, Munition und Bekleidungsgegenständen angesammelt worden waren und bei welcher das nachgerückte 9. Corps unter Victor und die Division Baraguay d'Hilliers *) als strategische Reserve standen.
Die Punkte, an denen eine Einwirkung der Russen entweder durch einen Flankenangriff oder besser durch völliges Zuvorkommen stattfinden konnte, lagen also in der Strecke zwischen Moshaisk und Smolensk: denn gelang es den Russen die innere Linie zwischen dieser Basis und der französischen Armee zu gewinnen, so war nach einem ziemlich wahrscheinlichen, entscheidenden Erfolge der Russen die völlige Vernichtung ihres Gegners unvermeidlich, da sie ihm den Rückweg verlegen und ihn nordwärts abdrängen konnten: auf jeden Fall aber waren in jener Strecke günstige Kampfbedingungen für die Russen zu erwarten, da die Franzosen, auf einer einzigen Straße sich bewegend, gezwungen waren, in Abständen zu marschieren, der Angriff ihre Flanke traf und daher die beste Situation zur Ausbeutung relativer Überlegenheit vorhanden war.
Nachdem wir nun die Gegend im Allgemeinen bezeichnet haben, müssen wir noch festzustellen suchen, wann und wo im Besonderen die Russen bei dem Rückzuge der Franzosen die günstigste Gelegenheit zu einem entscheidenden Schlage finden konnten und warum dieser nicht geschah.
Ob sich der Angriff näher an Moskau oder an Smolensk mehr für die Russen empfahl, lässt sich mit Bestimmtheit nicht angeben, da für jeden besondere Vorteile sprachen.
Erfolgte der Angriff der Russen im Beginne des französischen Rückzugs, so ersparten sie sich dadurch lange Märsche unter dem zerstörenden Einflüsse der strengen Jahreszeit; die russische Armee war dann noch bei voller Kraft und traf den Feind ferne von seinen nächsten Reserven und Hilfsquellen, die er erst bei Smolensk fand.
*) Das 9. Corps hatte in 3 Infanterie- und 1 Kavallerie-Division 30.000 Mann Polen, Sachsen, Badenser, Hessen und Berger.
Die Division Baraguay d'Hilliers bestand aus drei Marsch-Brigaden, denen ein leichtes Kavallerie-Regiment (Polen) und 6 Geschütze beigegeben worden waren. Sie zählte 15.000 Streitbare, worunter 1.200 Reiter.
Dagegen war aber der Zustand der französischen Armee dann noch ein sehr respektabler, während bei einem Kampfe näher an Smolensk, der Rückzug schon demoralisierend auf dieselbe gewirkt haben musste, wenn die Russen, im Sinne der parallelen Verfolgung, mit einem Bruchteile ihrer Kraft auch direkte folgten, dem Gegner die Ruhe raubten, ihn zu immer wiederholten partiellen Kämpfen zwangen und auf diese Weise den Auflösungsprozess förderten. Stets musste jedoch dafür gesorgt werden, zwischen Malo-Jaroslawetz und der Gegend von Smolensk die Entscheidung herbeizuführen.
Die erste Gelegenheit hiezu bot sich bei Wiäzma, wo die von Südosten kommende Straße in die Rückzugs-Straße der französischen Armee einmündet.
Am 3. November hatten erst die Garde und das 8. Corps Wiäzma passiert und Ney diesen Punkt selbst erreicht, wo er den Durchzug Aller abwarten sollte, um den Dienst der Arrièregarde zu übernehmen; das 4. und 5. Corps näherten sich erst und das 1. Corps war noch im Defilieren durch Federowskoje begriffen.
Die französische Armee, welche bereits unter dem Einflüsse der strengen Kälte gelitten und schon viele Nachzügler hatte, war an diesem Tage in einer Tiefe von sieben Meilen verteilt.
Miloradovitsch drang in richtiger Würdigung der nachteiligen Lage der Franzosen an die Rückzugstrasse derselben mit großer Energie vor, wohl in der Meinung die Arrièregarde anzufallen, während er zwischen Eugen und Davoust geriet und durch das Zusammenwirken beider seine Absicht vereitelt sah.
Kutusow hingegen, der über Medyn die Pudelcurve beschrieb, statt in der Sehnenrichtung auf Wiäzma, den nächsten Schwerpunkt zu rücken, am 2. November Dubrowa erreicht und von Miloradovitschs Absicht, am nächsten Tage anzugreifen, Meldung erhalten hatte, näherte sich am 3. langsam Wiäzma gegen Bikowo und sendete nur das Kavallerie-Corps Uwarows voraus, während das Gros erst gegen Abend eintraf.
Seine ursprüngliche Richtung gegen Moshaisk und die dadurch herbeigeführte Verspätung wollen seine nationalen Verteidiger damit entschuldigen, dass sie sagen, er habe jenen Weg nicht unbeachtet lassen dürfen, weil er nicht habe wissen können, ob Napoleon nicht etwa die Straße über Sytschewka, Bjeloi und Wjelisch auf Witebsk einschlagen werde; da wir jedoch die Behauptung aufgestellt und begründet haben, dass Kutusows Handlungsweise im Sinne der parallelen Verfolgung von dem Gedanken des Zuvorkommens geleitet sein musste, so können wir jenen Versuch der Verteidigung nicht akzeptieren, sondern müssen darauf beharren, dass dem Streben, den Franzosen zuvorzukommen, weit eher in der entscheidenden Richtung über Wiäzma zu entsprechen war; denn von Medyn über Juchnow und Wiäzma nach Bieloje sind es 37 Meilen; von Wereja dagegen, von wo die Franzosen ausgingen, über Moshaisk, Zubtzow und Sytschewka nach Bjeloje 46 Meilen.
So richtig nun an sich der Gedanke Miloradovitschs war, die Franzosen anzufallen, so musste, um einen Erfolg zu erlangen, dieser Anfall doch mit ganzer Kraft geschehen; die Richtigkeit dieser Idee war aber bei Kutusow nicht zum Durchbruche gelangt, sonst hätte ihn diese Erkenntnis zu größter Tätigkeit anspornen müssen, während er sich in Wirklichkeit nur langsam näherte.
Diese Unsicherheit und Unentschlossenheit Kutusows, dieses absichtliche Zurückbleiben, worüber bei Wiäzma die ganze Armee unwillig war, wurzelten in einer übergroßen Vorsicht, die nun, da es galt die Früchte früheren behutsamen und bedächtigen Handelns zu ernten, nicht am Platze war, und die wohl hauptsächlich der Furcht vor dem Namen Napoleons und vor seinen kriegsgeübten und sieggewohnten Scharen entsprungen sein mag, die man noch ungebrochen glaubte.
Bei Wiäzma hatten die Russen also die günstige Gelegenheit versäumt; lag es nun in ihrem Interesse, den Todesstreich zu führen, bevor Napoleon die Gegend von Smolensk erreicht hatte, wo Verstärkung und materielle Unterstützung seiner warteten, so mussten andere Punkte zum Angriffe und Zuvorkommen gewählt werden, wo für den Kampf vorteilhafte lokale Verhältnisse die Folgen eines Sieges steigern konnten.
Mit Rücksicht darauf und auf das im Eingange dieses Kapitels Gesagte, sowie mit Rücksicht auf die raue Jahreszeit, welche die Bewegung auf die Straße beschränkte, waren zum Kampfe günstige Punkte, durch den Zug der Straße bedingt, die Dniepr-Übergänge westlich von Dorogobusch und endlich bei Smolensk selbst: letzterer aber nur dann, wenn die Russen sich vorher in den Besitz der Stadt setzten.
Auch hier versäumte Kutusow die Gelegenheit, Napoleons Armee zu vernichten; er lies ihn durch Miloradovitsch, aber auch nur bis Dorogobusch direkt verfolgen und begnügte sich, ihn mit der Hauptmasse in der Flanke zu begleiten.
Eine so schlaffe Verfolgung ist aber keine solche, die zu großen Resultaten führt; zwar hatte sie die Form einer parallelen Verfolgung, aber es fehlte ihr der Geist derselben, welcher in dem Streben nach Kampf zum Ausdrucke kommen muss.
Kutusow dachte nur an Vorsicht; er meinte, den Rest der Arbeit den Flankencorps, die Napoleon jeden Ausweg versperren sollten, dem Hunger, der Kälte, den Strapazen und dem Elend überlassen zu sollen, während er selbst Gelegenheit hatte, den Feind in verzweifelte Lagen zu bringen.
In Wahrheit war es die Furcht vor Napoleon, der ihm selbst im Unglücke als ein Titan erschien, was ihn abhielt, sich auf dessen Rückzugs-Straße zu wagen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über den Krieg im Jahre 1812