Über die Empfindlichkeit der Flanken während der Offensive Napoleons

Die Hauptoperations-Basis hatte Napoleon an der Weichsel etabliert. Seine Subjekte, in denen bedeutende Magazine aufgespeichert wurden, waren Danzig, Graudenz, Modlin und Warschau.

Die richtige Erkenntnis, dass er in einem so dünn bevölkerten und wenig kultivierten Lande wie Russland, nicht wie in den reichen Ebenen Schwabens und Oberitaliens ausschliesslich von Requisitionen leben könne, dass er im Gegenteile zum größten Teile auf die Magazins Verpflegung angewiesen sein werde, ließen Napoleon der Approvisionierung und dem Nachschubswesen eine besondere Sorgfalt zuwenden.


So ließ er, beispielsweise, in Danzig Anstalten treffen, um eine Armee von 400—500.000 Mann auf ein Jahr mit Proviant zu versehen.

Die 17 französischen Fuhrwesens-Bataillone mit 5 — 6.000 Fuhrwerken sollten eine zweimonatliche Verpflegung für 200.000 Mann nachführen; überdies ließ er, um den Nachschub zu fördern, noch zahlreiche Landesfuhren, zum Teile mit Ochsen bespannt, aufstellen und glaubte auf diese Weise mit Benützung der im Feindeslande vorfindlichen Mittel und dem überdies von Danzig nach dem Niemen gebrachten vierzigtägigen Verpflegungsvorräte auszureichen.

Aber freilich übersah Napoleon dabei, dass die Magazine der Armee, die sich in großen Massen und schnell bewegte, nicht folgen konnten; er bedachte nicht, dass der Feind, wie es faktisch geschah, die Hoffnung Napoleons auf einen großen Schlag in Litauen täuschen könnte, indem er auswich, und dass ein Teil der Trainbespannungen nicht den Niemen erreichen, ein noch größerer Teil aber in den ersten Märschen jenseits zu Grunde gehen werde.

Ungeachtet der ausgedehnten Vorkehrungen Napoleons, und ungeachtet die Armee, um in ihren raschen, die Hauptschlacht suchenden ersten Operationen nicht gelähmt zu sein, einen sechszehntägigen Verpflegungsvorrat mit sich nahm, sah der französische Feldherr die Verpflegungs- und Nachschubs-Verhältnisse schon im Beginne des Krieges in einer kläglichen Verfassung und die Armee, da die gehoffte und gesuchte rasche Entscheidung ausblieb, sich bald beinahe ausschließlich auf die Requisition angewiesen, was den bekannten kolossalen Abgang in der ersten Feldzugsperiode und den Stillstand bei Witebsk zur natürlichen Folge hatte.

Die Zwischensubjekte, in welche nach Überschreitung des Niemen die Magazine vorgebracht wurden, waren Kowno, Wilna, Minsk und Smolensk.

Die Empfindlichkeit der Flanke bezeichnet einen Zustand, welcher dadurch entsteht, dass die Unterbrechung der eigenen Operationslinie nicht allein nur zu besorgen, sondern positiv und begründeter Weise zu befürchten ist.

Diese Unterbrechung kann eine dauernde oder eine bloß vorübergehende sein; erstere muss unter allen Umständen verhindert werden, weil sie der Bedingung der Sicherheit widerspricht, indem sie die Lebensader der Armee unterbindet und die Verbindung mit ihren Hilfsquellen aufhebt, auf welche kein Heer dauernd verzichten kann. Allein selbst eine vorübergehende Unterbrechung wird in vielen Fällen, weil sie eine Störung des Nachschubs erzeugt, schon von empfindlichen Folgen sein.

Je wichtiger also für die operierende Armee der geregelte Nachschub aller Bedürfnisse ist, was in einem an Ressourcen armen Lande den höchsten Grad erreicht, desto wichtiger ist es auch für sie, dass sie mit ihren Subjekten ungestört kommuniziere.

Diese Betrachtungen bringen jenen Grundsatz zum Ausdruck, der in der theoretischen Lehre von den Operationslinien über deren Sicherheit in den Flanken aufgestellt wird.

Spricht man also von der Empfindlichkeit der strategischen Flanke, so wird man darunter verstehen müssen, dass die Operationslinie im Rücken des operierenden Heeres nicht mehr sicher sei, eine Gefahr, die eintritt, sobald die Operationsfront der Armee die Operationslinie nicht mehr hinreichend schützt und die hervorgebracht wird durch feindliche Kräfte, welche, durch ihre Lage abseits der Haupt-Operationsrichtung, ihre direkte Wirkung nicht mehr gegen die Front, sondern gegen Flanke und Rücken äußern. Hieraus folgt, dass es die Kraft selbst ist, welche in erster Instanz die Empfindlichkeit der Flanke überhaupt, wie den Grad derselben bestimmt.

Sind nämlich die in der Planke stehenden Kräfte des Gegners so geringe, dass eine dauernde Unterbrechung der Nachschubslinien nicht zu befürchten ist, weil schon die gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln dagegen ausreichen, oder ist man selbst dem Feinde bedeutend überlegen, so wird die Empfindlichkeit entweder gar nicht vorhanden sein, oder man wird Mittel besitzen, um sie zu paralysieren, indem man zur Sicherung der Verbindungen eine genügende Anzahl von Detachements zurücklässt.

Im Feldzuge 1812 sind in der ersten Periode bis zum Erreichen der Gegend von Witebsk die Flanken der französischen Armee fast unempfindlich; denn im Beginne war sie dem befreundeten Lande, der eigenen Hauptbasis sehr nahe, die Flanken des Raumes im Rücken der Armee waren kurz, und endlich hatte Napoleon, gestützt auf riesige Überlegenheit, Maßregeln getroffen, um alle gegenüberstehenden Kräfte des Feindes zu umfassen und zu zertrümmern. Da somit eine Empfindlichkeit nicht bestand, so war auch eine Paralysierung derselben nicht erforderlich; die Breitenentwicklung der namhaft überlegenen französischen Armee sicherte ihr in ausgiebigstem Maße Flanken und Rücken.

Mit dem Misslingen der Operationen gegen Barclay und Bagration, mit dem Erreichen der Gegend von Witebsk änderte sich die Situation. Hatte Napoleon bis dahin für die Verbindungen nichts zu besorgen, teils weil seine Armee überlegen war und den taktischen Schlag suchend, sich mit einer breiten, umfassenden Operationsfront vorbewegte, teils weil Napoleon, eben von diesem Gedanken beseelt, den Operationen eine große Freiheit und Raschheit zu geben wünschte und sich dazu von der Basis vorübergehend unabhängig gemacht hatte; so war dagegen, als man die Gegend von Witebsk erreichte, in Folge des verfehlten Zieles und der dazu angewendeten extremen Mittel, eine Situation eingetreten, welche im höchsten Grade den Nachschub aus den rückwärtigen Magazinen nötig machte.

Mit der Steigerung des Wertes der Verbindungen von letztern zur Armee, musste auch natürlich das Bedürfnis geltend werden, dieselben zu decken, was um so wichtiger erschien, als Barclay unter Wittgenstein namhafte Kräfte an der Düna zurückgelassen hatte.

Diese Detachierung, wahrscheinlich in der ursprünglichen Absicht, die Straße auf Petersburg zu decken, gemacht, erhielt durch die Lage dieses Corps und durch die Beziehungen desselben zur Operationslinie der Franzosen einen andern, weit wesentlicheren Zweck; es sollte nämlich in einer strategisch günstigen Situation die fortwährende Bedrohung der französischen Verbindungen ausüben und die Empfindlichkeit ihrer linken Flanke potenzieren, u. z. sowohl mit Rücksicht auf den, den Franzosen so nötigen Nachschub, als auch um überlegene Kräfte des Feindes in der Sorge dafür zu fesseln, endlich als Vorbereitung einer Katastrophe für den Fall eines Rückzugs der französischen Armee.

Nach dieser Flanke sah sich Napoleon faktisch zu bedeutenden Entsendungen gezwungen. Oudinot, S. Cyr und Victor, die allmählich in Tätigkeit gelangten, mögen zusammen bei 100.000 Mann stark gewesen sein, während Wittgenstein in Allem nicht mehr als 75.000 Mann, worunter ein Teil Milizen, in Verwendung brachte.

Auch gegen Witebsk wurde nach der Schlacht von Smolensk eine Division des 4. Corps und eine Reiter-Division der Reserve detachiert, die aber bald wieder zur Armee zurückkehrten.

Weitere Faktoren, welche die Empfindlichkeit der Flanken erhöhen, weil sie die zur Hervorbringung und Erhaltung derselben verwendeten Mittel wesentlich unterstützen und kräftigen, sind: die natürliche Beschaffenheit des Landes und die Gesinnung seiner Bewohner.

Ist der Landstrich, durch welchen die Operationslinie des Feindes zieht, fruchtbar und ressourcenreich, so vermag dessen operierende Armee einen großen Teil ihrer Bedürfnisse aus jenem Raume zu schöpfen, in dem sie eben sich bewegt und es wird daher für sie von minderem Nachteile sein, wenn der Gegner ihre Verbindungen auch momentan unterbricht; ist dagegen das Land arm und die Armee in Folge dessen darauf angewiesen, aus ihren Magazinen zu leben, so wird es zum Gebote dringender Notwendigkeit, die Etappen-Straße gänzlich unversehrt und ununterbrochen zu erhalten.

Kaum weniger großen Einfluss, als die wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes, äußert die Gestaltung des Raumes, die Beschaffenheit des Terrains; denn durch Flüsse und andere Hindernisse gebildete Abschnitte mit gesicherten Uebergängen, welche dem Verteidiger Schutz und Gelegenheit zu mancherlei strategischen und taktischen Kombinationen gewähren; oder ein stark bedecktes und durchschnittenes Land, welches den Parteigänger-Krieg begünstigt, erhöhen gleichmäßig die Kraft des Verteidigers und geben ihm Mittel und Wege an die Hand, die Empfindlichkeit der Flanken des Gegners beträchtlich zu steigern.

Von welcher Wichtigkeit endlich in dieser Beziehung die Gesinnung der Bevölkerung sein kann, braucht kaum des Näheren erörtert zu werden; denn wenn die Regierung eines Landes es versteht, durch die beiden mächtigsten Hebel menschlichen Handelns, durch die Liebe zum Vaterlande und zur Religion, auf die Massen zu wirken; wenn sie es dahin bringt, im Herzen des Volkes fanatischen Hass gegen den eingedrungenen Feind zu entflammen, dass es in Waffen aufsteht zur Verteidigung seines heimatlichen Herdes und seines heiligen Glaubens; dass es die Vorräte von Lebensmitteln zerstört oder in die Wälder flüchtet und die Brunnen verschüttet; dass es in Banden umherzieht und, unterstützt von regulären Abteilungen, des Feindes Verbindungen unterbricht, seine Transporte aufhebt, seine Nachzügler erschlägt; — mit einem Worte, den Krieg der Heere zum erbarmungslosen, erbitterten Kampfe der Rassen macht; so müssen daraus natürlicherweise die verderblichsten Konsequenzen für die Sicherheit der Operationslinie des eingedrungenen Feindes entstehen.

Und alle die vorgenannten ungünstigen Einflüsse wirkten auf die französische Armee, als sie Witebsk passiert hatte.

Das Umfassen des Gegners hatte aufgehört; die Operationslinie war schon bedenklich lange, der Nachschub dringend nötig geworden und es lag in der linken Flanke ein an Wäldern und Sümpfen reiches Land, mit der Düna nahe der Operationslinie, an welche sich die Tätigkeit des detachierten russischen Corps und des bewaffneten, fanatisierten Volkes stützen konnte.

Von analoger, wenn auch für die erste Zeit nicht so fühlbar nachteiliger Natur waren die Verhältnisse in der rechten Flanke; denn der Parteigängerkrieg, obwohl auf Bobruisk und das hiezu besonders günstige Terrain in den Przipiec-Sümpfen gestützt, wurde wegen der großen Entfernung dieses Landstrichs minder gefährlich, wiewohl nach Passierung der altpolnischen Länder die Gesinnung der Bevölkerung als eine besonders feindselige gefunden wurde.

Den wesentlichsten Einfluss aber auf die rechte Flanke der französischen Operationslinie äußerte die Anwesenheit bedeutender Massen des Feindes im Süden, die zwar im Beginne noch entfernt standen, von denen man aber den Zeitpunkt ihrer Wirkung im Rücken der Armee im Vorhinein nicht genau bestimmen konnte.

Es waren dies die Reserve-Armee unter Tormassow in Volhynien, in der Gegend von Stare-Konstantinow und die Moldau-Armee unter Tschitschakoff, welche gegen die Türken bestimmt, aber durch den Abschluss des Friedens mit diesen disponibel geworden war, was eine Verschlimmerung der Situation erzeugte, die Napoleon erst in Witebsk bekannt wurde. Die erste Gefahr jedoch drohte von den bei Mozyr sich sammelnden Reserve-Truppen unter Hertel, gegen welche Napoleon sich gezwungen sah, die Division Dombrowsky und eine Brigade des 4. Reiter-Corps zu detachieren.

Allein, wiewohl die Empfindlichkeit in der rechten Flanke bis zur Erreichung der Gegend von Witebsk wegen der großen Entfernung der Russen noch nicht vorhanden war, so schien es doch geboten, schon von Hause aus westlich der Pinski'schen Sumpflandschaft zu detachieren, um die Wirkung des nähern Tormasow zu neutralisieren. Deshalb wurde Schwarzenberg daselbst belassen; Reynier sollte ihn später ablösen und Schwarzenberg der Armee nachrücken; erst auf seine Vorstellungen über die wahre Sachlage, kehrte dieser nach dem Ereignisse bei Kobrin wieder in seine frühere Aufstellung zurück.

Dieses Schwanken Napoleons in seinen Verfügungen zur Paralysierung der Empfindlichkeit der rechten Flanke, ist dadurch motiviert, dass er nicht wissen konnte, welche Richtung die Moldau-Armee nehmen werde, da es nicht nur wahrscheinlicher, sondern auch richtiger war, anzunehmen, sie werde Dniepr aufwärts rücken. Dass Napoleons Vermutung begründet war, beweisen die Verfügungen Kutusows; vor Moskau hatte er Tschitschakoff befohlen, auf Moskau zu marschieren; nach dem Falle dieser Stadt befahl er Tormassow, Volhynien durch Tschitschakoff verteidigen zu lassen, selbst aber nach Tarutino zu marschieren; einige Tage später erfolgte ein dritter Befehl, der Tschitschakoff über Mohilew gegen Tarutino zu rücken anwies, während Tormassow Volhynien verteidigen sollte.

Diese wiedersprechenden, zum Teil unausführbaren Verfügungen geben einen neuen Beweis, dass bei den Russen sich Vieles von selbst und ohne Zutun des Feldherrn machte; sie deuten aber auch an, dass Napoleon allen Grund hatte, für die Gegend von Smolensk Besorgnisse zu hegen.

Eine Vereinigung so bedeutender Streitkräfte wie die Tschitschakoffs, Tormassows und Wittgensteins, unter einheitlicher, entschiedener Leitung im Rücken Napoleons, am Dniepr oder an der Berezina, hätte jedenfalls große Folgen haben müssen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über den Krieg im Jahre 1812