Vorrede

In dem ersten Bande meiner anthropologisch-medizinischen Bemerkungen konnte ich der eigentlichen Bestimmung desselben zufolge die Verhältnisse der zu Rostock vorkommenden Krankheiten nur im Allgemeinen andeuten. Ich versprach daher schon damals in der Vorrede, meine sich hierauf beziehenden Beobachtungen in den folgenden Bänden nachzuliefern. Dieses Versprechens entledige ich mich gegenwärtig zum Teil, indem ich meine Leser mit dem Gange der Krankheiten, so wie sich derselbe in einer Reihe von sechs Jahren äußerte, bekannt zu machen suche. Auf die Weise glaube ich diesen zweiten Band, wenn er gleich ein für sich bestehendes Werk ausmacht, doch einigermaßen auch als einen Kommentar zu dem sechsten Kapitel des ersten Bandes betrachten zu können.

Um aber dieser Bestimmung wirklich Genüge zu leisten, schien es mir nicht nur von der größten Wichtigkeit, das Verhältnis der Witterung und der dabei herrschenden Krankheiten so genau und vollständig, als es mir nur immer möglich war, in einer fortschreitenden Zeitfolge anzugeben, sondern das letztere auch noch insbesondere durch völlig zuverlässige Beobachtungen zu bestätigen. Aus der Ursache habe ich die Witterungs-Beobachtungen, welche ich selbst in dem genannten Zeiträume angestellt hatte, noch mit denen meines ehemaligen sehr geschätzten Kollegen, Herrn Professors Schadelook zu Rostock, dem ich für seine freundschaftliche Mitteilung hier öffentlich meinen verbindlichsten Dank abstatte, auf das sorgfältigste verglichen und außerdem auch die fleißigen Beobachtungen des nunmehr verstorbenen Protonotars Meyer benutzt, so dass ich in dieser Hinsicht alles getan zu haben glaube, was in meinen Kräften stand. Nicht weniger sorgfältig und gewissenhaft bin ich bei den hier erzählten Krankheitsfällen zu Werke gegangen, über deren Bestimmung und Wert ich gleichwohl noch Einiges bemerken muss. Der Hauptzweck aller in dem gegenwärtigen Bande mitgeteilten Beobachtungen ging dahin, durch sie die allgemeinern unter jedem Monate angedeuteten Krankheitsverhältnisse zu bestätigen; doch hatte ich auch in einzelnen Fällen die beinahe entgegengesetzte Absicht, gewisse Formen und Modifikationen von Abnormitäten anzudeuten, welche mehr als eine Abweichung von der allgemeinen Konstitution angesehen werden konnten. Der aufmerksame und sachkundige Leser wird beide Verhältnisse wohl von einander zu unterscheiden wissen. Aber weder das eine noch das andere konnte ich ganz erreichen, ohne zugleich mein Verfahren am Krankenbette dabei mehr oder weniger ausführlich anzugeben, und einigermaßen war dieses auch ein Nebenzweck, welchen ich durch eine öffentliche Darlegung meiner Beobachtungen zu erreichen wünschte.


Diese Äußerung möchte vielleicht Manchem etwas anmaßend scheinen und zu der Voraussetzung Veranlassung geben, dass ich mein Handeln am Krankenbette in dem genannten Zeiträume als das eines Meisters in der Kunst habe aufstellen wollen. Allein dagegen muss ich erinnern, dass ich bei dem Anfange des Jahres 1795 erst seit sechs Jahren die Universität verlassen hatte und in den frühern Jahren meiner Praxis, wie das der gewöhnliche Fall ist, noch nicht in dem Maße wie späterhin beschäftigt war, folglich wohl nicht daran denken konnte, nun schon als vollendeter Meister auftreten zu wollen. Ich hätte also wohl die ersten Jahrgänge der vorliegenden Beobachtungen zurückhalten und nur die der folgenden Jahre dem Publikum vorlegen sollen. Dies war Anfangs auch in der Tat mein Wille. Aber der Gedanke, dass man nach einer längern Reihe von Jahren den Gang der Krankheiten in einer gewissen Gegend auch richtiger beurtheilen könne, und dann die Bemerkung, dass ich die eine oder andere Epidemie, welche ich zu beobachten Gelegenheit hatte, so wie manchen andern doch nicht ganz uninteressanten Fall mit Stillschweigen würde haben übergehen müssen, änderten meinen ersten Vorsatz, machten mir es aber um so mehr zur Pflicht, meine Beobachtungen mit der größten Wahrheit und Unparteilichkeit, so wie ich sie jeden Tag aufgezeichnet hatte, dem Publikum vorzulegen, selbst meine Irrtümer und manche Ansichten, von welchen ich in der Folge zurückgekommen bin, nicht zu verhehlen und so dem nachsichtsvollen Leser zugleich die Fortschritte meiner eigenen Ausbildung als Arzt vor Augen zu legen.

So wenig es überhaupt von je her meine Sache gewesen ist, durch einen trügerischen Schein mir ein gewisses Ansehen ohne wahres Verdienst zu erschleichen, so wollte ich auch hier, um so mehr als junger Arzt, lieber dem Beispiele solcher Männer folgen, welche sich nicht über das Errare humanum erhaben glauben, als die Handlungsweise derjenigen Schriftsteller nachahmen, welche oft mit einem unerträglichen Eigendünkel und in dem absprechendsten Tone sich das Ansehen geben, als ob sie nicht irren könnten, und, um diesen Zweck zu erreichen, ihren Beobachtungen manchmal nur durch eine imponierende Darstellung einen Wert zu geben suchen, welchen diese außerdem vielleicht gar nicht hatten, auch wohl die unglücklichen Fälle aus ihrer Praxis lieber ganz für sich behalten , als öffentlich bekannt machen. Aber weit entfernt und in der Tat zu stolz, um einen so schlüpfrigen und doch nur selten zu einem bleibenden Ruhm führenden Weg zu betreten, wünsche ich nur in Beziehung auf die hier mitgeteilten Resultate meiner frühern Praxis meinen Jüngern Amtsbrüdern wenigstens durch eine treue und gewissenhafte Erzählung ein Muster der Nachahmung zu werden, wenn ich auch in anderer Hinsicht keinen Anspruch auf diese Ehre sollte machen können. Aus demselben Grunde habe ich keinen einzigen Fall, welcher unglücklich ablief, verschwiegen, sondern einen jeden derselben vielmehr durch ein beigefügtes Zeichen recht auffallend zu machen gesucht. Wenn ich auch immer dabei den Schein eines unglücklichen Heilkünstlers erhalten könnte, so habe ich doch keine Ursache, den bloßen Schein zu fürchten, indem ich unter den Tausenden mit einem glücklichern Erfolge behandelter Krankheiten nur die kleinste Zahl aufgeführt habe, die es mir in der einen oder andern Absicht zu verdienen schien, so dass ich vielmehr bei dem Gegeneinanderstellen des glücklichen oder unglücklichen Erfolgs meiner Bemühungen mich zu meiner Beruhigung gerade zu einem entgegengesetzten Urteile mit allem Recht veranlasst sehe. Überdem wird man finden, dass unter der Zahl meiner Toten nicht wenige an unheilbaren Krankheiten starben und mehrere mir erst kurz vor dem Ende ihres Lebens in die Hände fielen.

Dass übrigens nicht alle in diesem Bande enthaltenen Krankheitsgeschichten ein gleiches Interesse gewähren, wird keinem meiner sachkundigen Leser auffallen. Aber so viel als möglich habe ich doch dahin gesehen, sie in sofern zweckmäßig auszuwählen, als sie zur Erläuterung des herrschenden Genius dienen oder in Beziehung auf manche Eigentümlichkeiten, auf den Erfolg eines gewissen Verfahrens, des einen oder andern Heilmittels usw. wichtig sein konnten. Die Gründe meines Verfahrens habe ich zwar nicht allemal ganz bestimmt angegeben, weil ich fürchten musste, zu weitläufig zu werden; aber größtenteils wird man sie leicht aus dem Zusammenhange abstrahieren können. Doch muss ich hier noch bemerken, dass ich nach der in den Jahren meiner ersten akademischen Ausbildung noch herrschenden Humoralpathologie, zu deren Ergänzung oder Verbesserung man damals schon zum Teil die bekannte Nervenpathologie benutzte, in dem Anfange meiner Praxis auch größtenteils handelte, allmählich aber durch Lektüre und eigenes Nachdenken mich immer mehr von dieser Ansicht entfernte, obgleich ich aufrichtig versichern kann, dass ich in der Folge eben so wenig alles Alte verworfen als irgend einem neuen Systeme, wenn es auch noch so sehr ausposaunt ward, in seinem ganzen Umfange als blinder Nachbeter gehuldigt habe. Meine neuesten Ansichten des einen oder andern Gegenstandes unsers medizinischen Wissens, so wie die Resultate meiner spätem Erfahrung habe ich absichtlich nicht in die frühern Jahre übertragen, von welchen ich hier Rechenschaft ablege, sondern alles so angegeben und entwickelt, wie ich es mir damals gerade dachte und die Zeit es mit sich brachte.

Einigen wird vielleicht die eine oder andere Beobachtung zu umständlich, andern wieder zu kurz erzählt sein. Ich weiß aber sehr wohl, dass man es nicht allen recht machen kann und bin eben deswegen meiner eigenen Überzeugung gefolgt, die ich übrigens keinem aufdringen will. Wo mir der Fall entweder an sich besonders wichtig zu sein schien, oder ich meine Leser auf irgend einen Irrtum aufmerksam machen wollte, oder einen unglücklich abgelaufenen Fall zu erzählen hatte, da konnte ich mich von einer gewissen Umständlichkeit nicht dispensieren; in andern Fällen habe ich mich dagegen desto kürzer gefasst. Und so denke ich auch in dieser Hinsicht nicht ganz unzureichenden Gründen gefolgt zu sein.

Der dritte und letzte Band, mit welchem diese Bemerkungen geschlossen sein werden, wird sich vorzüglich auf diejenigen chronischen Krankheiten beschränken, welche ich in Rostock und der umliegenden Gegend am häufigsten Gelegenheit zu beobachten hatte und dem zufolge besonders einzelne Aufsätze und Abhandlungen über diesen Gegenstand, so wie über einige von mir mit Erfolg gebrauchte Arzneimittel liefern.

Halle, im März 1812.
Dr. A. F. Nolde.