Die Festspiele.

Als echter Künstler geht Wagner immer vom Erlebten und Erschauten, niemals vom Gedachten aus. Aus der Erfahrung und aus dem Versuch stellt er seine Forderungen. Im Kampfe mit den zahllosen Hemmnissen, die die Gegenwart dem künstlerischen Schaffen entgegensetzt, klären sich erst langsam und allmählich, aber auch immer reiner und größer die Ziele der Zukunft. Wagner suchte sein Drama zunächst durchaus im Anschluss an die gegebenen Verhältnisse, in der Form der Oper und im stehenden Theater zu verwirklichen. Und hieraus erwuchsen zahllose neue Irrtümer. Noch heute sieht man an unsern Theatern fast durchweg in den altern Werken bis zum Lohengrin nur die Oper, greift bei den Aufführungen nur die Züge heraus, in denen jene Werke noch der Opernform äußerlich und scheinbar nahestehen, und lässt die Hauptsache: das Drama, ganz beiseite. Wagner selber sagt einmal, er verdanke seine Beliebtheit eigentlich nur diesem Missverständnis, „einem Gefallen an lyrischen Details“, dem die stillosen opernhaften Aufführungen immer von neuem Vorschub leisten. Um seine Werke vor Zerstücklung, vor dem Opernwahne, vor der bösen Verwechslung mit solcher Afterkunst zu wahren, um ihre Eigenart zu offenbaren, galt es zunächst, richtige Aufführungen zustande zu bringen. Da war alles zu tun. Aus gewöhnlichen Opernsängern mussten dramatische Darsteller werden, die wiederum von der herkömmlichen Schauspielerei des gesprochenen Dramas durchaus verschieden sein sollten. Für diese neue Forderung gab es überhaupt noch gar keine Vorbilder. Der eisernen Tatkraft des Meisters und seiner bezwingenden persönlichen Macht gelang wohl in einzelnen Fällen die künstlerische Erziehung zum musikalischen Schauspieler; aber wo diese unmittelbare persönliche Einwirkung fehlte, also überall außer in Dresden bis 1849, war gar nicht denkbar, dass auch nur zum bescheidensten Teil den hohen Ansprüchen des neuen Dramas genügt wurde.

Wenn Goethe im „Vorspiel auf dem Theater“ die verschiedenen Standpunkte, die Dichter, Bühnenleiter, Schauspieler und Zuhörer dem Kunstwerk gegenüber einnehmen, nebeneinanderstellt, also die Öffentlichkeit, der er seinen Faust preisgibt, ironischhumoristisch ins Auge fasst, wohl wissend, dass das hehre Kunstwerk in dieser Welt nie zu seinem Rechte kommen wird, sondern dem wüsten Spiel von Vorteil und Gefahr anheimfällt, so dachte Wagner ganz anders. Er war nicht gewillt, seine idealen Forderungen dem Zufall aufzuopfern, sondern setzte alles dran, einer feindseligen Welt zum Trotz seine künstlerischen Grundsätze voll und rein zu verwirklichen. Und daraus ward Bayreuth.


Mit den Bestrebungen unserer Klassiker um ein deutsches Drama trat natürlich auch alsbald die Forderung einer richtigen und möglichst vollendeten Darstellung, also einer deutschen Bühne und Schauspielkunst, hervor. Schon Gottsched erstrebt bei all seiner Beschränktheit einen angemessenen Vortragstil, noch mehr Lessing und der geniale Schauspieler und Bühnenleiter Friedrich Ludwig Schröder (1744 — 1816) in Hamburg, endlich Goethe und Schiller in Weimar. Es handelt sich um die Idealisierung des Theaters zu echt künstlerischer Leistung, zur Erhebung aus bloßem Geschäftsbetrieb und aus der niedren Sorge ums tägliche Vergnügen.

Schillers Aufgabe war ein edler und würdiger Spielplan, Goethe erzog die Schauspieler zu stilvoller Darstellung in Vortrag und Gebärde. Aber die Weimarer Schule verflachte nach Goethes Rücktritt in hohles Pathos. Und dann kam die schreckliche, unkünstlerische Virtuosenzeit, wo das Kunstwerk durch selbstgefällige persönliche Eitelkeit des Komödianten völlig beiseite geschoben wurde. In München ward Dingelstedt 1854 Begründer jener unseligen sog. „Mustervorstellungen“, zu denen eigensinnige und eigensüchtige Virtuosen sich versammelten und mit effekthaschender Komödiantenwirtschaft das hohe, ernste Drama vollends ganz verdarben. „Mustervorstellung“ und Bayreuther Kunst sind so unvereinbare, schroffe Gegensätze wie persönliche Eitelkeit und opferwilliger Gralsdienst. Nur auf moralischem Grunde, aus der Ehrfurcht vor dem Kunstwerk, konnte eine wirkliche Schauspielkunst erstehen, z. B. unter Immermann in Düsseldorf 1834/7 und bei den Meiningern, unter sorgsamster Pflege einer Spielleitung, die alle Mitwirkenden zur einheitlichen Darstellung streng im Geist des Dramas erzog. In diese Welt der Opernsänger und Komödianten trat also der Schöpfer des deutschen Dramas. Wo waren die mitschöpferischen künstlerischen Genossen, denen die Verwirklichung dieses unerhört neuen Kunstwerkes anvertraut werden konnte? Und doch versuchte Wagner lange und immer aufs neue, ans Bestehende anzuknüpfen, die ständigen Theater zu künstlerischen Taten anzufeuern und emporzuläutern. Mit Rat und Tat war er unermüdlich zur Hand, wo eine Gelegenheit sich auftat. Und wo ihm die Tat vergönnt war, erzielte er immer ein Festspiel. Schon 1838 als Kapellmeister in Riga erstrebte er mit seiner Operngesellschaft festliche Aufführungen edlerer Werke, z. B. von Méhuls Joseph. „Dass solche Eindrücke, welche blitzartig mir ungeahnte Möglichkeiten erhellten, immer wieder sich mir bieten konnten, das war es, was immer wieder mich an das Theater fesselte, so heftig auch andererseits der typisch gewordene Geist unserer Opernaufführungen mich mit Ekel erfüllte.“ Aber zugleich schreibt Wagner auch: „Das, was wir unter Komödiantenwirtschaft verstehen, tat sich mir in vollster Breite auf und ekelte mich plötzlich so heftig an, dass ich alles beiseite warf, dem Theater gegenüber mich immer mehr nur auf die bloße Ausübung meiner Dirigentenpflicht beschränkte, vom Umgange mit dem Theaterpersonale immer vollständiger absah, und nach innen in die Gegend meines Wesens mich zurückzog, wo der sehnsüchtige Drang, den gewohnten Verhältnissen mich zu entreißen, seine stachelnde Nahrung fand. In dieser Zeit lernte ich bereits den Stoff des Fliegenden Holländers kennen.“ 1848 schrieb Wagner seinen „Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters“ in Dresden, wo er wenige, aber nur vorzügliche Aufführungen verlangt und treffliche Ratschläge zur Verwirklichung dieses Gedankens gibt. In denselben Bahnen, ans Gegebene und Mögliche anknüpfend, bewegen sich die Schriften über ein „Theater in Zürich“ 1851, das „Wiener Hofoperntheater“ 1863, eine in München zu errichtende deutsche Musikschule, 1865. Aber gerade auch im Rückblick auf das erste Festspiel, den Münchener Tristan vom Mai und Juni 1865, muss Wagner sich gestehen: „Die Ermöglichung einzelner, in meinem Sinne korrekter theatralischer Leistungen konnte nicht ausreichend sein, sobald diese nicht gänzlich außerhalb der Sphäre des heutigen Opernwesens gestellt waren; das vorherrschende Theaterelement unserer Zeit, mit allen seinen nach innen und außen wirkenden, gänzlich unkünstlerischen, undeutschen, und sittlich wie geistig verderblichen Eigenschaften ist es, welches sich stets wie ein erdrückender Dunstnebel wieder über die Stätte zusammenzieht, von wo aus es den ermüdendsten Anstrengungen etwa gelingen konnte, einmal auf das Sonnenlicht ausblicken zu lassen.“ Der eigentliche Festspielgedanke ist aber unlöslich mit der Entstehung des Rings verknüpft Wie Wagner mit diesem Gedicht „gänzlich aus allem Bezug zu unserem heutigen Theater und Publikum heraustrat, bestimmt und für immer mit der formellen Gegenwart brach“, so ergaben sich auch ganz neue Bedingungen und Voraussetzungen für seine Darstellung, Er schreibt darüber zuerst am 20. September 1850 an Uhlig:

„Könnte ich je über 10.000 Taler disponieren, so würde ich folgendes veranstalten: — hier (in Zürich), wo ich nun gerade bin und wo manches gar nicht so übel ist, würde ich auf einer schönen Wiese bei der Stadt von Brett und Balken ein rohes Theater nach meinem Plane herstellen und lediglich bloß mit der Ausstattung an Dekorationen und Maschinerie versehen lassen, die zur Aufführung des Siegfried nötig sind. Dann würde ich mir die geeignetsten Sänger, die irgend vorhanden wären, auswählen und auf sechs Wochen nach Zürich einladen ....

So würde ich mir auch mein Orchester zusammen laden. Von Neujahr gingen die Ausschreibungen und Einladungen an alle Freunde des musikalischen Dramas durch alle Zeitungen Deutschlands mit der Aufforderung zum Besuche des beabsichtigten dramatischen Musikfestes: wer sich anmeldet und zu diesem Zwecke nach Zürich reist, bekommt gesichertes Entree — natürlich wie alles Entree: gratis! Des weiteren lade ich die hiesige Jugend, Universität, Gesangvereine usw. zur Anhörung ein. Ist alles in gehöriger Ordnung, so lasse ich dann unter diesen Umständen drei Aufführungen des Siegfried in einer Woche stattfinden: nach der dritten wird das Theater eingerissen und meine Partitur verbrannt. Den Leuten, denen die Sache gefallen hat, sage ich dann: nun macht’s auch so! Wollen sie auch von mir einmal wieder etwas Neues hören, so sage ich aber: schießt ihr das Geld zusammen! — Nun, komme ich dir gehörig verrückt vor? Möge es sein, aber ich versichere dir, dies noch zu erreichen, ist die Hoffnung meines Lebens, die Aussicht — die mich einzig reizen kann, ein Kunstwerk in Angriff zu nehmen.“


Öffentlich kundigste Wagner sein Vorhaben zum ersten male in seiner (Dezember 1851 erschienenen) Mitteilung an meine Freunde an:

„An einem eigens dazu bestimmten Feste gedenke ich dereinst im Laufe dreier Tage mit einem Vorabende jene drei Dramen nebst dem Vorspiele aufzuführen: den Zweck dieser Aufführung erachte ich für vollkommen erreicht, wenn es mir und meinen künstlerischen Genossen, den wirklichen Darstellern, gelang, an diesen vier Abenden den Zuschauern, die, um meine Absicht kennen zu lernen, sich versammelten, diese Absicht zu wirklichem Gefühls(nicht kritischem) Verständnisse künstlerisch mitzuteilen. Eine weitere Folge ist mir ebenso gleichgültig, als sie mir überflüssig erscheinen muss.“

Wagner schreibt am 3o.Januar 1852 an Liszt:

„Ich kann mir unter meiner Zuhörerschaft nur eine Versammlung von Freunden denken, die zu dem Zwecke des Bekanntwerdens mit meinem Werke eigens irgendwo zusammenkommen, am liebsten in irgend einer schönen Einöde, fern von dem Qualm und dem Industriegeruche unserer städtischen Zivilisation: als solche Einöde könnte ich höchstens Weimar, gewiss aber keine größere Stadt ansehen“.

Hier sind alle wesentlichen Züge des Festspiels bereits vorhanden: eine eigene Bühne, aufgeschlagen fern vom Getriebe der Großstadt, auserlesene, mit ihrer Aufgabe genau vertraute Künstler, eine Zuhörerschar, die nur um des Werkes willen sich versammelt. Der Gedanke leuchtet in voller ungetrübter und ungebrochener Reinheit, noch ohne jedes Zugeständnis an die unausbleiblichen Forderungen der rauhen Wirklichkeit, ohne Rücksicht und Rechnung mit dem „bleichen Metall“, ein hochsinniger Künstlertraum.

Als Wagner 1862 zur ersten öffentlichen Ausgabe des Ringes sich entschloss, gab er im Vorwort dem Festspielgedanken noch festere Gestalt:

„Es kam hierbei vor allem mir darauf an, eine solche Aufführung als frei von den Einwirkungen des Repertoireganges unserer stehenden Theater mir zu denken. Demnach hatte ich eine der minder großen Städte Deutschlands, günstig gelegen und zur Aufnahme außerordentlicher Gäste geeignet, anzunehmen, namentlich eine solche, in welcher mit einem größeren stehenden Theater nicht zu kollidieren, somit auch einem großstädtischen eigentlichen Theaterpublikum und seinen Gewohnheiten nicht gegenüber zu treten wäre. Hier sollte nun ein provisorisches Theater, so einfach wie möglich, vielleicht bloß aus Holz, und nur auf künstlerische Zweckmäßigkeit des Innern berechnet, aufgerichtet werden; einen Plan hierzu, mit amphitheatralischer Einrichtung für das Publikum und dem großen Vorteile der Unsichtbarmachung des Orchesters, hatte ich mit einem erfahrenen, geistvollen Architekten in Besprechung gezogen. — Hierher sollten nun, etwa in den ersten Frühlingsmonaten, aus den Personalen der deutschen Operntheater ausgewählte, vorzüglichste dramatische Sänger berufen werden, um, ununterbrochen durch jede anderartige künstlerische Beschäftigung, das von mir verfasste mehrteilige Bühnenwerk sich einzuüben. — Das deutsche Publikum aber sollte eingeladen werden, zu den festgesetzten Tagen der Aufführungen, von denen ich etwa drei im ganzen annahm, sich einzufinden, indem diese Aufführungen, wie bereits unsere großen Musikfeste, nicht einem partiellen städtischen Publikum, sondern allen Freunden der Kunst, nah und fern, geboten sein sollten. Eine vollständige Aufführung des vorliegenden dramatischen Gedichtes sollte, im vollen Sommer, an einem Vorabende das „Rheingold“ und an drei folgenden Abenden die Hauptstücke ,,Walküre“ ,, Siegfried“ und ,,Götterdämmerung“ zur Darstellung bringen.

Die Vorteile, welche sich aus einer solchen Veranstaltung erstlich für die Aufführung selbst ergeben würden, schienen mir folgende: In künstlerisch praktischer Hinsicht dünkte mich zunächst eine wirklich gelingende Aufführung eben nur auf diesem Wege selbst möglich. Bei der vollkommenen Stillosigkeit der deutschen Oper und der fast grotesken Inkorrektheit ihrer Leistungen ist die Hoffnung, an einem Haupttheater für höhere Aufgabe geübte Kunstmittel korporativ anzutreffen, nicht zu fassen: der Autor, der auf diesem verwahrlosten öffentlichen Kunstgebiete eine ernstlich gemeinte, höhere Aufgabe zu stellen gedenkt, trifft zu seiner Unterstützung nichts an, als das wirkliche Talent einzelner Sänger, welche in keiner Schule unterrichtet, durch keinen Stil für die Darstellung geleitet, hie und da, selten — denn das Talent der Deutschen hierfür ist im ganzen gering — und gänzlich sich selbst überlassen, vorkommen. Was daher kein einzelnes Theater bieten kann, vermöchte, glücklichenfalls , nur eine Vereinigung zerstreuter Kräfte, welche für eine gewisse Zeit auf einen bestimmten Punkt zusammengerufen würden. — Hier würde diesen Künstlern zunächst es von Nutzen sein, dass sie eine Zeitlang nur mit einer Aufgabe sich zu befassen hätten, deren Eigentümlichkeit ihnen um so schneller und bestimmter aufgehen würde, als sie durch keine hiervon abziehende Ausübung ihrer gewohnten Opernarbeit in diesem Studium unterbrochen wären. Der Erfolg dieser Zusammenfassung ihrer geistigen Kräfte auf einen Stil und eine Aufgabe ist allein nicht hoch genug anzuschlagen, wenn man erwägt, wie wenig Erfolg von solchem Studium unter den gewöhnlichen Verhältnissen zu erwarten wäre, wo z. B. derselbe Sänger, der abends zuvor in einer schlecht übersetzten neueren italienischen Oper sang, tags darauf den ,,Wotan“ oder ,,Siegfried“ sich einüben soll. Außerdem führte diese Methode auch zu dem praktischen Ergebnisse, dass auf das Einüben eine verhältnismäßig weit kürzere Zeit, als dies im Geleise einer gemeinen Repertoiretätigkeit möglich sein könnte, zu verwenden wäre: was wiederum dem Flusse des Studiums sehr zustatten käme.

Würde somit auf diese Weise eine ernste charakteristische Wiedergabe der Rollen meines Dramas durch die ausgewählten besten Talente einzig ermöglicht, so würde, eben durch das Isolierte des Studiums und der Aufführung, zugleich auch die szenisch dekorative Darstellung einzig gut und entsprechend zu erzielen sein. Betrachten wir, welch vollendete Leistungen dieser Art den Pariser und Londoner Theatern gelingen, so erklären wir uns dies zunächst und fast einzig aus dem günstigen Umstände, dass die Bühne den Malern und Maschinisten längere Zeit allein für das Stück, welches sie auszustatten haben, zu Gebote steht; dass sie somit Einrichtungen gewisser komplizierter Art treffen können, welche da unmöglich sind, wo täglich die Theaterstücke wechseln, von welchen jedes dann eben nur notdürftig bis zur künstlerischen Unanständigkeit szenisch dargestellt werden kann. Die von mir gedachte szenische Einrichtung meines ,,Rheingolds“ ist z. B. für ein Theater von so wechselndem Repertoire, wie das deutsche, gar nicht zu begreifen, während sie, unter den von mir bezeichneten günstigen Umständen, dem Dekorationsmaler und Maschinisten gerade die erwünschteste Gelegenheit bietet, ihre Kunst als eine wirkliche Kunst zu zeigen.

Zur Vollendung des Eindruckes einer solchermaßen vorbereiteten Aufführung würde ich dann noch besonders die Unsichtbarkeit des Orchesters, wie sie durch eine, bei amphitheatralischer Anlage des Zuschauerraumes mögliche architektonische Täuschung zu bewerkstelligen wäre, von großem Werte halten. Jedem wird die Wichtigkeit hiervon einleuchten, der mit der Absicht, den wirklichen Eindruck einer dramatischen Kunstleistung zu gewinnen, unseren Opernaufführungen beiwohnt und durch den unerlässlichen Anblick der mechanischen Hilfsbewegungen beim Vortrage der Musiker und ihrer Leitung unwillkürlich zum Augenzeugen technischer Evolutionen gemacht wird, die ihm durchaus verborgen bleiben sollten, fast ebenso sorgsam, als die Fäden, Schnüre, Leisten und Bretter der Theaterdekorationen, welche, aus den Kulissen betrachtet, einen bekanntlich alle Täuschung störenden Eindruck machen. Hat man nun je erfahren, welchen verklärten, reinen, von jeder Beimischung des, zur Hervorbringung des Tones den Instrumentisten unerlässlichen, außermusikalischen Geräusches befreiten Klang ein Orchester bietet, welches man durch eine akustische Schallwand hindurch hört, und vergegenwärtigt man sich nun, in welche vorteilhafte Stellung der Sänger zum Zuhörer tritt, wenn er diesem gleichsam unmittelbar gegenübersteht, so hätten wir hieraus nur noch auf das leichtere Verständnis seiner Aussprache zu schliessen, um zu der vorteilhaftesten Ansicht über den Erfolg der von mir gemeinten akustisch-architektonischen Anordnung zu gelangen. Nur aber in dem von mir gedachten Falle eines eigens hierzu konstruierten provisorischen Theatergebäudes würde diese Vorrichtung zu ermöglichen sein.

Ebenso wichtig, wie für die Aufführung selbst, müsste, meinem Erachten nach, nun aber der Erfolg einer solchen Aufführung hinsichtlich ihres Eindruckes auf das Publikum sein. — Bisher gewohnt, als Glied des stehenden Opernpublikums einer Stadt in den höchst bedenklichen Vorführungen dieses zweideutigen Kunstgenres eine gedankenlose Zerstreuung zu suchen und dasjenige, was ihm diesen Dienst nicht leistete, anforderungsvoll zurückzuweisen, würde der Zuhörer unserer Festaufführung plötzlich in ein ganz anderes Verhältnis zu dem ihm Gebotenen treten. Klar und bestimmt davon unterrichtet, was es sich diesmal und hier zu erwarten habe, würde unser Publikum aus von näher und ferner her öffentlich Eingeladenen bestehen, welche nach dem gastlichen Ort der Aufführung reisen und hier zusammenkommen, eben um den Eindruck unserer Aufführungen zu empfangen. Im vollen Sommer wäre für jeden dieser Besuch zugleich mit einem erfrischenden Ausfluge verbunden, auf welchem er, mit Recht, zunächst sich von den Sorgen seiner Alltagsgeschäfte zu zerstreuen suchen soll. Statt dass er, wie sonst, nach mühsam am Kontor, am Bureau, im Arbeitskabinett oder in sonst welcher Berufstätigkeit, hingequältem Tage, des Abends die einseitig angespannten Geisteskräfte wie aus ihrem Kampfe loszulassen, nämlich sich zu zerstreuen sucht, und deshalb, je nach Geschmack, eben oberflächliche Unterhaltung ihm wohltätig dünken muss, wird er diesmal sich am Tage zerstreuen, um nun, bei eintretender Dämmerung, sich zu sammeln: und das Zeichen zum Beginn der Festaufführung wird ihn hierzu einladen. So, mit frischen, leicht anzuregenden Kräften, wird ihn der erste mystische Klang des unsichtbaren Orchesters zu der Andacht stimmen, ohne die kein wirklicher Kunsteindruck möglich ist. In seinem eigenen Begehren erfasst, wird er willig folgen, und schnell wird ihm ein Verständnis aufgehen, welches ihm bisher fremd bleiben, ja unmöglich sein musste. Da, wo er sonst mit ermüdetem Hirn, zerstreuungssüchtig angelangt, neue Anspannung, und somit schmerzliche Überspannung finden musste, wo er deshalb bald über Länge, bald über zu großen Ernst und endlich völlige Unverständlichkeit zu klagen hatte, wird er jetzt zu dem wohltätigen Gefühle der leichten Tätigkeit eines bisher ungekannten Auffassungsvermögens gelangen, welches ihn mit neuer Wärme erfüllt und ihm das Licht entzündet, in welchem er deutlich Dinge gewahrt, von denen er zuvor keine Ahnung hatte.“

Hier ist also bereits 1862 alles genau so geplant, wie es in Bayreuth ausgeführt wurde. Das Haus mit dem amphitheatralischen Zuschauerraum, das verdeckte Orchester, die sommerliche Spielzeit; ja auch Wiederholungen der Festspiele, je nach Umständen ein-, zwei-, dreijährig, sind vorgesehen. Eine Wirkung auf die Künstler wird erhofft: „unmöglich könnte diese Erfahrung für ihre weiteren eigenen Leistungen gänzlich ohne Einfluss bleiben.“ Darsteller und Zuhörer sind durch Tatsachen überzeugt und gebildet worden. „Schon hieraus könnten sich die Ansätze zu einem wirklichen Stil für musikalisch-dramatische Aufführungen bilden, von denen gegenwärtig noch keine Spur vorhanden ist.“ Also wie der Gral könnte der Tempel der Festspiele seinen Segen und seine Boten auch hinaus ins Weltgetriebe senden, dort verborgene Keime zum Blühen bringen und den Glauben stärken.

Zur Beschaffung der nötigen Mittel stellten sich zwei Wege dar: eine Vereinigung kunstliebender vermögender Männer und Frauen oder ein deutscher Fürst. „Wird dieser Fürst sich finden?“

Die Ausgabe des Ringes mit diesem Vorwort kam im April 1863 heraus. Am 4. Mai 1864 stand Wagner zum ersten Male vor König Ludwig. Alles schien rascher, glücklicher Lösung nahe zu sein. König Ludwig schrieb am 26. November 1864 an Wagner: „Der Satz, welchen Sie in der Vorrede zum Gedichte Der Ring des Nibelungen anführen, soll in das Leben treten; ich rufe aus: Im Anfang sei die Tat! Ich habe den Entschluss gefasst, ein großes steinernes Theater erbauen zu lassen, damit die Aufführung des Ringes des Nibelungen eine vollkommene werde; dieses unvergängliche Werk muss einen würdigen Raum für seine Darstellung erhalten. Mögen Ihre Bemühungen in betreff tüchtiger dramatischer Sänger von schönem Erfolge gekrönt werden!“ In den letzten Dezembertagen des so verheißungsvollen Jahres 1864 war Semper aus Zürich nach München gekommen und vom König zur Beratung über den Bau empfangen worden. Im Januar 1867 ging das Modell des Theaters nach München, wo es heute im k. b. Nationalmuseum ausgestellt ist. Aber inzwischen war die Verwirklichung des königlichen Gedankens unmöglich geworden. Wohl kam mit dem Tristan im Sommer 1865 in München das erste Festspiel zustande, aber in den Räumen des Hoftheaters. Am 10. Dezember 1805 verließ Wagner München. Wie es dazu kam, mag man bei Glasenapp III, I nachlesen. Es war im Grunde doch nur eine glückliche Fügung des Schicksals. „Der erste und ursprüngliche Gedanke des Meisters kam damit wieder zur Geltung: sein Festspielhaus in einer lieblichen Einöde, an einem abgelegenen Orte, wie Zürich, Weimar oder am Rheine, fern von dem Getriebe, dem Qualm und Dunst unserer Großstädte zu errichten. Seinem königlichen Freunde und Beschützer zuliebe hatte er diesen ursprünglichen Gedanken zugunsten der bayerischen Residenzstadt aufgegeben, München aber dem Könige seine hochsinnigen Absichten vereitelt. Zu keiner weiteren Konzession verpflichtet, und nachdem er noch eine Reihe von Jahren abwartend der Entwicklung der Verhältnisse zugesehen, kam Richard Wagner auf seinen längst gehegten Gedanken zurück: sein Festspielhaus in einer kleinen entlegenen Stadt im Herzen Deutschlands erstehen zu lassen. Aus Dank gegen seinen erhabenen Beschützer erwählte er sich dazu eine Stadt im bayerischen Lande, das trauliche Bayreuth, vornehm und idyllisch zugleich in seiner ganzen Erscheinung, inmitten einer reizvoll poetischen landschaftlichen Umgebung. In gerechter Würdigung dessen, dass der Meister die richtige Wahl getroffen, dass der von ihm gewählte Ort der geeignete sei und die Festspiele in Bayreuth dem ganzen bayerischen Lande Nutzen und Ehre brächten, entsagte König Ludwig einer müßigen Wiederholung desselben Baues in seiner Hauptstadt.“

Im April 1871 erließ Wagner eine Mitteilung und Aufforderung an die Freunde seiner Kunst: „Über die Aufführung des Bühnenfestspieles: Der Ring des Nibelungen“, wo die Gedanken des Vorworts zur Ausgabe der Dichtung nochmals zusammengefasst sind. Es galt nun, einen Verein von Freunden und Förderern der großen Sache zu begründen. Karl Tausig in Berlin, Emil Heckel in Mannheim, Freifrau Marie von Schleinitz, jetzt Gräfin von Wolkenstein, entwarfen den Plan des Patronatvereins und suchten die nötige Anzahl der Patrone zu werben. Die Gesamtkosten des Festspiels wurden auf 300.000 Taler veranschlagt, die dadurch beschafft werden sollten, dass 1.000 Patronatscheine zu 300 Talern bei den Förderern und Freunden untergebracht wurden. Der Patron erwarb damit Anrecht auf einen Platz zu den beabsichtigten drei Ringaufführungen im Festspielhaus. Durch Heckel wurden die Wagnervereine ins Leben gerufen, um nach Kräften das Unternehmen zu fördern und dafür zu werben. Tausig, an dessen Wirksamkeit sich große Hoffnungen geknüpft hatten, starb schon am 17. Juli 1871. Am 22. Mai 1872 wurde der Grundstein zum Festspielhause gelegt.

„Hier schliess’ ich ein Geheimnis ein,
Da nah’ es viele hundert Jahr’:
Solange es verwahrt der Stein,
Macht es der Welt sich offenbar.“


Auserlesene Künstler waren der Einladung des Meisters gefolgt, so dass am selben Abend Beethovens „Wundersymphonie“ im markgräflichen Opernhaus den Patronen den Festgruß zutönen konnte.

In seiner herrlichen Weiherede bezeichnete der Meister klar und fest den Bayreuther Gedanken. Den Namen des „National -Theaters in Bayreuth“ wies er zurück.

[i]„Wo wäre die Nation, welche dieses Theater sich errichtete?“

„Nur Sie, die Freunde meiner besonderen Kunst, meines eigensten Wirkens und Schaffens, hatte ich, um für meine Entwürfe mich an Teilnehmende zu wenden: nur um Ihre Mithilfe für mein Werk konnte ich Sie angehen: dieses Werk rein und unentstellt denjenigen vorführen zu können, die meiner Kunst ihre ernstliche Geneigtheit bezeigten, trotzdem sie ihnen nur noch unrein und entstellt bisher vorgeführt werden konnte, — dies war mein Wunsch, den ich Ihnen ohne Anmaßung mitteilen durfte. Und nur in diesem, fast persönlichen Verhältnisse zu Ihnen, meine Gönner und Freunde, darf ich für jetzt den Grund erkennen, auf welchen wir den Stein legen wollen, der das ganze, uns noch so kühn vorschwebende Gebäude unserer edelsten deutschen Hoffnungen tragen soll. Sei es jetzt auch bloß ein provisorisches, so wird es dieses nur in dem gleichen Sinne sein, in welchem seit Jahrhunderten alle äußere Form des deutschen Wesens eine provisorische war. Dies aber ist das Wesen des deutschen Geistes, dass er von innen baut: der ewige Gott lebt in ihm wahrhaftig, ehe er sich auch den Tempel seiner Ehre baut. Und dieser Tempel wird dann gerade so den inneren Geist auch nach außen kundgeben, wie er in seiner reichsten Eigentümlichkeit sich selbst angehört. So will ich diesen Stein als den Zauberstein bezeichnen, dessen Kraft die verschlossenen Geheimnisse jenes Geistes Ihnen lösen soll. Er trage jetzt nur die sinnvolle Zurüstung, deren Hilfe wir zu jener Täuschung bedürfen, durch welche Sie in den wahrhaftigen Spiegel des Lebens blicken sollen. Doch schon jetzt ist er stark und recht gefügt, um dereinst den stolzen Bau zu tragen, sobald es das deutsche Volk verlangt, zu eigener Ehre mit Ihnen in seinen Besitz zu treten. Und so sei er geweiht von Ihrer Liebe, von Ihren Segenswünschen, von dem tiefen Danke, den ich Ihnen trage, Ihnen Allen, die mir wünschten, gönnten, gaben und halfen! — Er sei geweiht von dem Geiste, der es Ihnen eingab, meinem Anrufe zu folgen; der Sie mit dem Mute erfüllte, jeder Verhöhnung zum Trotz, mir ganz zu vertrauen; der aus mir zu Ihnen sprechen konnte, weil er in Ihrem Herzen sich wiederzuerkennen hoffen durfte: von dem deutschen Geiste, der über die Jahrhunderte hinweg Ihnen seinen jugendlichen Morgengruß zujauchzt.“


Sinnig deutete Wagner den Namen Bayreuth „beim Reuth“. „Immer handelt es sich jedenfalls um das Reuth, die der Wildnis abgerungene, urbar gemachte Stätte.“ Und weiterhin vertiefte er den Namen Bayreuth zu einem teuren Angedenken, zu einem ermutigenden Begriffe, zu einem sinnvollen Wahlspruche.

„Und solchen Wahlspruches bedarf es, um im täglichen Kampfe gegen das Eindringen der Kundgebungen eines tief sich entfremdeten Geistes der deutschen Nation auszudauern. Was unsere nicht immer sehr geistvollen Witzlinge bisher unter dem unsinnigen Begriffe einer ,Zukunftsmusik’ zu ihrer Belustigung sich auftischten, das hat jetzt seine nebelhafte Gestalt verändert, und ist auf festem Grund und Boden zu einem wirklich gemauerten ,Bayreuth’ geworden. Der Nebel hat also ein Lokal gewonnen, in welchem er eine ganz reale Form annimmt. Dieses ist das kleine, abgelegene, unbeachtete Bayreuth. Jedenfalls bin ich sonach nicht darauf ausgegangen, meine Unternehmung im Glänze einer reichbevölkerten Hauptstadt bespiegeln zu lassen, was mir allerdings minder schwierig gefallen wäre, als mancher zu glauben vorgeben mag. Möge nun der Spott jener Witzigen bald an der Kleinheit des Lokales, bald an der Überschwenglichkeit des damit verbundenen Begriffes sich ergehen, immer verbleibt dem Spottbilde die Eigenschaft eines zum Lokale gewordenen Begriffes, welchen ich jetzt mit größerer Befriedigung aufnehme, als dies mir einst mit dem sehr sinnlosen einer ,Zukunftsmusik’ möglich war.“

Am 2. August 1873 ward das Haus unter Dach gebracht. Zum Hebefest dichtete Wagner sinnige Handwerkersprüche.

„So sag’ ich euch auch, wer den Plan gemacht.
Mag wer will Teufelswerk drin erschauen,
ich sag’s: den Plan entwarf — das Vertrauen!
Ein tief urgründlich deutsches Verlangen
sollt wieder einmal zum Vertrauen gelangen:
es vertraute einer auf deutsches Wesen;
nun hört, ob er damit unglücklich gewesen!
In langen Jahren schuf er sein Werk;
ihm gab das Vertrauen Kraft und Stärk’:
und dass er sein Werk getrost vollende,
reicht’ ein König ihm selbst die Hände.
Im bayerischen Frankenland
bot ihm der Bürger nun auch die Hand;
und hatt’ er auf sich selbst vertraut,
Vertrauen nun auch das Haus ihm baut,
darin sein Werk aus seinem Plan
nun deutlich auch tret’ an die Welt heran.“


Aber nun begann das Werk zu stocken. Es fehlte an Mitteln. Nietzsche verfasste einen „Mahnruf an die Deutschen“, der in edlen, kräftigen Worten das Ehrgefühl im deutschen Volke wecken sollte. Ein „Bericht und Aufruf“ von Adolf Stern wurde versandt: „Wir betrachten als Ehrenpflicht des deutschen Volkes, seinem berühmtesten lebenden Künstler die Mittel zur Durchführung seines größten künstlerischen Gedankens, an den er sein Leben gesetzt, nicht zu versagen; wir betrachten es ferner als Ehrenpflicht aller, die sich Freunde echter Kunst nennen, zum Gelingen der Bayreuther Aufführungen durch die Tat beizutragen, und hegen das Vertrauen, dass es nur dieser Mahnung bedürfe, um unserer Sache zahlreiche neue Freunde in allen Kreisen zu gewinnen!“

Aber im weiten Deutschen Reiche verhallte dieser Notruf fast ungehört. Hätte Wagner seinen Festspielgedanken aufgeopfert und den „Ring“ der Großstadt preisgegeben — Berlin, London, Chicago — , so wären die Mittel sofort flüssig gewesen. Glänzende Angebote ergingen an den Meister aus der Welt, die für den Bayreuther Gedanken nichts übrig hatte, die des Meisters Lebenswerk auf Tod und Leben befehdete. Je schwerer die äußeren Verhältnisse lasteten, um so reiner und größer erhob sich immer Richard Wagner. So auch hier, wo es galt, den Adel des Gedankens unbefleckt zu wahren. Im Januar 1874 sagte Wagner zu Heckel, das Unternehmen sei gescheitert, man müsse bessere Zeiten abwarten. Da, in letzter und höchster Not, griff noch einmal der König ein, um durch Kreditgewähr die Vollendung des Baues zu ermöglichen. Im November 1874 wurde die Götterdämmerung und damit das ganze Bühnenfestspiel fertig. Die Widmung lautet: „Im Vertrauen auf den deutschen Geist entworfen und zum Ruhme seines erhabenen Wohltäters des Königs Ludwig II. von Bayern vollendet.“ Im Sommer 1875 fanden die Vorproben statt. Zum ersten Male wurde der Ring vom 13. bis 17. August 1876 aufgeführt. Die Presse hatte sich fast durchweg, mit ganz wenigen rühmlichen Ausnahmen, feindselig gegen Bayreuth gestellt, in den schweren Jahren der Vorbereitung und des Baues durch Hohn, Lügenberichte, Verschweigen, nach Möglichkeit und mit Erfolg Schaden gestiftet und warf sich jetzt mit fanatischer Wut auf die künstlerische Großtat.

Wenn das erste Festspiel mit einem großen Fehlbetrag abschloss und der Meister, statt seine künstlerischen Pläne weiterführen zu können, alle Kraft dransetzen musste, um dieser drückenden Sorge ledig zu werden, so war das vornehmlich das Werk der Presse, der literarischen und musikalischen Kritik, der systematisch irregeleiteten öffentlichen Meinung. „In der Bekämpfung von irgendetwas als gefährlich Ausgegebenem liegt die Macht des Journalisten und der Anreiz, den er auf sein Publikum ausübt. Alle sind liberal und hassen das Ungemeine, vor allem das seinen eigenen Weg Gehende und um sie nicht sich Kümmernde.“ So klagt Wagner einmal aus bittrer Erfahrung, die ihm sein ganzes Leben lang sich immer wieder erneuerte. Keinem Meister begegnete so wilder, unergründlicher Hass aller Gemeinen und Mittelmäßigen, deren geborener und geschworener Feind in Richard Wagner aufstand; aber auch keinem andren flammte solche Liebe auf.

„Im Betreff des künstlerischen Interesses hatte ich mich nicht geirrt: dieses ist mir bis zum letzten Augenblick treu und meinem Unternehmen innig verwoben geblieben. Sehr gewiss hatte ich mich aber in der Annahme, auch ein nationales Interesse geweckt zu haben, getäuscht.“

Und doch verzweifelte der Meister keinen Augenblick. Er entwickelte im Januar 1877 Gedanken über die Bildung eines neuen Patronatvereins zur Pflege und Erhaltung der Bühnenfestspiele. Er beabsichtigte eine Stilbildungsschule, „um nicht nur ein Personal für die Darstellung meiner dramatischmusikalischen Werke auszubilden, sondern überhaupt Sänger, Musiker und Dirigenten zur richtigen Ausführung ähnlicher Werke wahrhaft deutschen Stiles verständnisvoll zu befähigen“. Die Richtigkeit der geistigen Auffassung, sowie der höhere Vortrag selbst sollten zur Geltung gelangen. Für 1880 wurden als Festspiele der Fliegende Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, für 1881 Tristan und Isolde und die Meistersinger, für 1882 der Ring, für 1883 Parsifal angesetzt. Aber erst am 26. Juli 1882 nach neuen schweren Sorgen und Mühen tat sich das Bayreuther Haus wieder auf zum Parsifal, in den zwei ersten Aufführungen für die Mitglieder des Patronatvereins, dann öffentlich gegen Verkauf von Eintrittskarten, wie seitdem immer. Im Rückblick auf die Festspiele von 1876 bekannte Wagner rückhaltslos: „Noch sind wir erst in der Ausbildung des neuen Stiles begriffen; wir haben nach jeder Seite hin Mängel zu beseitigen und Unvollkommenheiten auszugleichen.“ Im Festspiel 1882 war der Stil gewonnen. „Wer mit richtigem Sinne und Blicke den Hergang alles dessen, was während jener beiden Monate in den Räumen dieses Festspielhauses sich zutrug, dem Charakter der hierin sich geltend machenden produktiven wie rezeptiven Tätigkeit gemäss zu erfassen vermochte, konnte dies nicht anders als mit der Wirkung einer Weihe bezeichnen, welche, ohne irgendeine Weisung, frei über alles sich ergoss.“ „Ich halte alljährliche Wiederholungen des Parsifal für vorzüglich geeignet, der jetzigen Künstlergeneration als Schule für den von mir begründeten Stil zu dienen.“

1883 war der Parsifal eine ernste Gedächtnisfeier. Man glaubte in der Welt, mit dem Tode des Meisters seien auch die Festspiele dahin. Die Künstler wahrten damals echte Treue und taten, was an ihnen lag, um die Welt vom Gegenteil zu überzeugen. Und nun begann bald eine hohe geistige Macht anordnend und gestaltend einzugreifen, jene „ganz unerhört seltsam begabte Frau“, die wie niemand sonst auf der Welt mit dem Willen des künstlerischen Schöpfers aufs innigste vertraut war. 1886 trat der Tristan zum Parsifal, 1888 die Meistersinger, 1891 Tannhäuser, 1894 Lohengrin, 1896 der Ring in erneuter Gestalt, 1901 der Fliegende Holländer. So ist alles, was der Meister wollte, nach seinem Tode in Bayreuth doch noch zustande gekommen! Der Ring musste, um den Fehlbetrag von 1876 zu decken, den Theatern freigegeben werden, und ein geschäftskundiger Unternehmer führte das Werk in allen Städten Deutschlands und im Ausland auf, künstlerisch ganz unzulänglich, aber doch insofern nicht vergeblich, weil dadurch die Behauptung zuschanden ward, der Ring sei unaufführbar. Aus der Lügengestalt, in der die Meisterwerke über unser Theater gehen, wurden sie ins Bayreuther Festspiel gerettet und erschienen hier in reinster, leuchtender Schönheit, aus der Oper zum Drama erlöst.

Der Ring des Nibelungen ist ein Bühnenfestspiel, der Parsifal ein Bühnenweihfestspiel. „Indem ich mit meiner Dichtung eine unseren Operntheatern mit Recht durchaus abgewandt bleiben sollende Sphäre beschritt, glaube ich die Veranlassungen, welche den Ring des Nibelungen dem Bühnenfestspielhaus in Bayreuth entführten, für den Parsifal schon dadurch unmöglich gemacht zu haben.“ „Verdankte doch ja auch der Parsifal selbst nur der Flucht vor dieser Welt seine Entstehung.“ „Ich habe mich dazu entschlossen, Parsifal ausschließlich und einzig für Aufführungen im Bühnenfestspielhause zu Bayreuth zu bestimmen.“

An Feustel schreibt Wagner:

„Während der Ausführung ist mir der Charakter dieser meiner letzten Arbeit dahin immer deutlicher geworden, dass, selbst unter allen den Umständen, welche noch Aufführungen der einzelnen Stücke des Ringes des Nibelungen auf unseren Stadt- und Hoftheatern zulässig machten, das Bühnenweih-Festspiel ,Parsifal’ mit seinen unmittelbar die Mysterien der christlichen Religion berührenden Vorgängen unmöglich in das Opernrepertoire unserer Theater aufgenommen werden darf. Mein erhabener Wohltäter, der König von Bayern, stand, als ich ihm dies eröffnete, innig verständnisvoll sofort davon ab, den ,Parsifal’ auf seinem eigenen Hoftheater sich vorgeführt zu sehen, wogegen er einzig das Bühnenfestspielhaus in Bayreuth für solche — besondere und seltene — Aufführungen geeignet erklärte.“

In einem Brief an den König vom 28. Sept. 1880 heißt es:

„Ich habe mm alle meine, noch so ideal konzipierten Werke an unsere, von mir als tief unsittlich erkannte Theater- und Publikumpraxis ausliefern müssen, dass ich mich nun wohl ernstlich fragen musste, ob ich nicht wenigstens dieses letzte und heiligste meiner Werke vor dem gleichen Schicksale einer gemeinen Opernkarriere bewahren sollte. Eine entscheidende Nötigung hierfür habe ich endlich in dem reinen Gegenstande, dem Sujet meines ,Parsifal’ nicht mehr verkennen dürfen. In der Tat, wie kann und darf eine Handlung, in welcher die erhabensten Mysterien des christlichen Glaubens offen in Szene gesetzt sind, auf Theatern, wie den unsrigen, neben einem Opernrepertoire und vor einem Publikum, wie dem unsrigen, vorgeführt werden? Ich würde es wirklich unseren Kirchenvorständen nicht verdenken, wenn sie gegen Schaustellungen der geweihtesten Mysterien auf denselben Brettern, auf welchen gestern und morgen die Frivolität sich behaglich ausbreitet, und vor einem Publikum, welches einzig von der Frivolität angezogen wird, einen sehr berechtigten Einspruch erheben. Im ganz richtigen Gefühle hiervon betitelte ich den ,Parsifal’ ein Bühnenweihfestspiel.“ So muss ich denn nun eine Bühne zu weihen suchen, und dies kann nur mein einsam dastehendes Bühnenfestspielhaus in Bayreuth sein. Dort darf der ,Parsifal’ in aller Zukunft einzig und allein aufgeführt werden: nie soll der ,Parsifal’ auf irgend einem anderen Theater dem Publikum zum Amüsement dargeboten werden: und, dass dies so geschehe, ist das einzige, was mich beschäftigt und zur Überlegung dazu bestimmt, wie und durch welche Mittel ich diese Bestimmung meines Werkes sichern kann.“

Der Ring, grunddeutsch in Gehalt und Form, in seinen vier Teilen so großartig angelegt wie dereinst die griechische Trilogie, aus allem Gewöhnlichen und Alltäglichen weit hinausragend, gründete das deutsche Bühnenfestspiel und das deutsche Festspielhaus. Der Parsifal aber ist zur Weihe des Hauses und Spieles von Bayreuth gedichtet, er sollte die Festspiele zu dauerndem Bestand einweihen. Darum ist er ein Weihfestspiel. Aber auch um seines weihevollen Inhalts willen erhebt ihn schon der Name zum Erhabnen und Heiligen. Den amerikanischen Gralsraub und den Ablauf der Schutzfrist für dieses hehre Werk müssen wir aus künstlerischen und moralischen Gründen scharf verurteilen und tief beklagen. Die Freigabe des Parsifal ist ein unwürdiger Schacher mit dem Heiligsten, eine Entweihung unsrer tiefsten, zartesten religiösen Empfindung, eine Quelle zahlloser Irrtümer und Missverständnisse, eine völlige Trübung und Verwirrung der reinsten Kunstlehre, eine Versündigung am heiligen Geist deutscher Kunst, eine schwere Pietätlosigkeit gegen den letzten Willen unsres großen Meisters.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bayreuth