Das Drama aus dem Geiste der Musik.

Wagners geschichtliche Stellung beruht auf der Entwicklung unsrer großen deutschen Musik und Dichtung im 18. Jahrhundert. Hier wie dort war die Sonderkunst in der Fülle ihres nach Äußerung drängenden Gehalts zur Grenze ihrer Ausdrucksmittel gelangt, zugleich aber auch zu ungemeiner Verfeinerung, Steigerung und Vertiefung dieser Mittel innerhalb der Grenzen des Möglichen. Von Bach zu Beethoven ward die deutsche Musik geschaffen, als Ausdruck tief innerster Gefühle, als Vertonung innerlich erschauter Bilder, als symphonische Dichtung, als Offenbarung einer dichterischen Idee im Sinne des Schillerschen Wortes: „Die Musik in ihrer höchsten Veredelung muss Gestalt werden“ — und damit als voller Gegensatz zum äußerlichen Formspiel einer bloß sinnlich gefälligen Scheinkunst. „Dies aber ist das Wesen des deutschen Geistes, dass er von innen baut.“ Deutsche Musik ist tief innerer Wesensausdruck, romanische Musik Spiel des schönen Scheins. Der Deutsche ist Tondichter, der Romane Komponist. Unter allen Künsten steht, wie Schopenhauer meint, die Musik aber voran, weil sie vom Wesen redet, die anderen Künste nur vom Schatten, weil sie ganz unmittelbar den Urgrund und Ursprung unsres Empfindungslebens zu gestalten vermag. Wagner schreibt: „Wo die anderen Künste sagen: das bedeutet, sagt die Musik: das ist.“

Der Tondichter hebt mit dem unausgesprochenen, oft auch unaussprechlichen Gefühl an, der Wortdichter mit dem verstandesmäßigen Begriff. Damit treffen wir auf Gegenpole unsres seelischen Lebens, dessen restlos erschöpfende , unmittelbar fassbare und wirkungsvolle Darstellung die höchste Aufgabe der Kunst ist. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts suchen unsre deutschen Dichter nach einem deutschen Drama, nach dem höchsten, in Gehalt und Form ganz eigenartigen, selbständigen, grunddeutschen Kunstwerk. Der literarische Ausgangspunkt ihres Bemühens verführte zu allerlei Umwegen und Irrtümern. Am Vorbild des französischen, englischen, klassischen Dramas ward das deutsche gesucht, das wie die Morgenröte eines neuen Tages manchmal gerade dort aufleuchtet, wo die Dichter der unzulänglichen Ausdrucksmittel ihrer Kunst sich bewusst werden und den Blick über die ihnen gesteckten Grenzen hinausschweifen lassen.


Die Bayreuther Blätter haben als „Stimmen der Vergangenheit“ zahlreiche Aussprüche früherer Dichter und Denker gesammelt, „welche beweisen, dass auch in ihnen das von uns Erstrebte irgendwie als Ahnung, Wunsch oder Idee schon gelebt und dieselben Entgegnungen und Erschwerungen von selten des Zeitgeistes und der Kritik zu erfahren gehabt hat, wir also keineswegs, wie man uns mitunter hat nachreden wollen, von allem geschichtlichen Zusammenhange uns herausgelöst, vielmehr überall unser Wollen als in dem edelsten Sinnen und Streben der Vorzeit wurzelnd betrachtet zu wissen wünschen.“ Zugleich aber sei an Schopenhauers Wort erinnert: „Von jeder Wahrheit, ehe sie gefunden worden, gibt sich ein Vorgefühl kund, eine Ahndung, ein undeutliches Bild, wie im Nebel, und ein vergebliches Haschen, sie zu ergreifen; weil eben die Fortschritte der Zeit sie vorbereitet haben. Demgemäss präludieren dann vereinzelte Aussprüche. Allein nur wer eine Wahrheit aus ihren Gründen erkannt und in ihren Folgen durchdacht, ihren ganzen Inhalt entwickelt, den Umfang ihres Bereiches übersehen und sie sonach, mit vollem Bewusstsein ihres Wertes und ihrer Wichtigkeit, deutlich und zusammenhängend dargelegt hat, der ist ihr Urheber.“

Lessing stellte im Laokoon die Grenzen zwischen den redenden und bildenden Künsten fest, um zu verhindern, dass sich der Dichter und Bildner im Stoff und in den Ausdrucksmitteln vergriff. Aber die Fortsetzung des Laokoon hätte eben die Möglichkeit und Notwendigkeit des Zusammenwirkens der Künste im Drama behandeln sollen. Von Poesie und Musik meint Lessing, „dass die Natur selbst sie nicht sowohl zur Verbindung als vielmehr zu einer und ebenderselben Kunst bestimmt zu haben scheint. Es hat auch wirklich eine Zeit gegeben, wo sie beide zusammen nur eine Kunst ausmachten. Ich will indes nicht leugnen, dass die Trennung nicht natürlich erfolgt sei, noch weniger will ich die Ausübung der einen ohne die andere tadeln; aber ich darf doch bedauern, dass durch die Trennung man an die Verbindung fast gar nicht mehr denkt, oder wenn man ja noch daran denkt, man die eine Kunst immer nur zu einer Hilfskunst der anderen macht und von einer gemeinschaftlichen Wirkung, welche beide zu gleichen Teilen hervorbringen, gar nichts mehr weiß.“ Lessing wirft dann einen Blick auf die Oper, aber nur um zu erkennen, dass hier Musik und Poesie im Missverhältnis stehen, dass hier jede einheitliche künstlerische Wirkung durchaus fehlt.

J. G. Sulzer meint in seiner allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771), dass die Oper „das größte und wuchtigste aller dramatischen Schauspiele“ sein könne, „weil darin alle schönen Künste ihre Kräfte vereinigen“. Der festeste Grund einer Reform der Oper „wäre ihre genaue Verbindung mit dem Nationalinteresse eines ganzen Volkes“. „Die Hauptsache käme nun auf den Dichter an. Dieser müsste, ohne Rücksicht auf die Sänger, bloß dies zum Grundsatz nehmen: ein Trauerspiel zu verfertigen, dessen Inhalt und Gang sich für die Hoheit oder wenigstens das Empfindungsvolle des lyrischen Tones schickte. Dazu ist in Wahrheit jeder tragische Stoff schicklich; wenn nur dieses einzige dabei statthaben kann, dass die Handlung einen nicht eilfertigen Gang und keine schweren Verwickelungen habe.“ Die Musik soll ohne jede Künstelei als Verkünderin des dramatisch dichterischen Gehaltes „Kraft und Ausdruck der Empfindung haben“. Die Einrichtung der Schaubühne ist wichtig, aber nicht um äußeren Prunk zu entfalten, sondern „um die Gemüter zu stimmen“. So entwürdigt die Oper jetzt auch sei, „so wichtig und ehrwürdig könnte sie sein, wenn sie auf den Hauptzweck aller schönen Künste geleitet würde“. Glucks musikalische Reformen wirkten unmittelbar auf unsere Klassiker. Klopstock hatte den kühnen Gedanken einer altgermanischen Trilogie, Hermanns Schlacht, Hermann und die Fürsten, Hermanns Tod. Diese drei Dramen in Prosa sind mit schwungvollen Bardengesängen geschmückt. Glucks Lieblingsgedanke, der ihn bis aufs Totenbett begleitete, war die Musik zu Klopstocks Hermann. Wieland bemühte sich um Operndichtungen im Sinne Glucks, um das lyrische oder musikalische Drama, dem nur solche Stoffe gerecht würden, „welche der musikalischen Behandlung vorzüglich fähig sind“. Gefordert wird „möglichste Einfalt im Plan“ der äußeren Handlung, um uns tief „in das Innerste der Personen schauen zu lassen“.

Herder verlangt eine deutsche Oper „auf menschlichem Grund und Boden, mit menschlicher Musik und Deklamation und Verzierung, aber mit Empfindung. Der Plan muss einfach sein: keine Verkleidung, keine Verwicklung, keine Geschichte und Novelle und Romane, keine Handlung, die das Auge auch ohne Ohr nicht sehen, erkennen, übersehen, verfolgen, beurteilen könnte. Der Taube muss die Oper verstehen können.“ „Der Fortgang des Jahrhunderts wird auf einen Mann führen, der, diesen Trödelkram wortloser Töne verachtend, die Notwendigkeit einer innigen Verknüpfung rein menschlicher Empfindung und der Fabel selbst mit seinen Tönen einsieht. Von jener Herrscherhöhe, auf welcher sich der gemeine Musikus brüstet, dass die Poesie seiner Kunst diene, stieg er hinab und lieh, soweit es der Geschmack der Nation, für die er Töne dichtete, zuließ, den Worten die Empfindung, der Handlung selbst mit seinen Tönen dienend. Er hat Nacheiferer, vielleicht eifert ihm bald jemand vor, dass er die ganze Bude des zerschnittenen and zerfetzten Opernklingklangs umreiße und ein Odeum aufrichte, ein zusammenhängendes lyrisches Gebäude, in welchem Poesie, Musik, Aktion, Dekoration eins sind.“ Herders letzte Arbeit war „Über den Zutritt der nordischen Mythologie zur neuen Dichtkunst“, und er schloss mit den Worten aus Gerstenbergs Gedicht eines Skalden:

„In neue Gegenden entrückt,
Schaut mein begeistert Aug’ umher, erblickt
Den Abglanz höhrer Gottheit, ihrer Welt,
Und diese Himmel ihr Gezelt!
Mein schwacher Geist, in Staub gebeugt,
Fasst ihre Wunder nicht und schweigt.“


Schiller „hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, dass aus ihr wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edleren Gestalt sich loswickeln sollte. In der Oper erlässt man wirklich jene servile Naturnachahmung, und obgleich nur unter dem Namen von Indulgenz, könnte sich auf diesem Wege das Ideale auf das Theater stehlen. Die Oper stimmt durch die Macht der Musik und durch eine freiere harmonische Reizung der Sinnlichkeit das Gemüt zu einer schöneren Empfängnis; hier ist wirklich auch im Pathos selbst ein freieres Spiel, weil die Musik es begleitet, und das Wunderbare, welches hier einmal geduldet wird, müsste notwendig gegen den Stoff gleichgültiger machen.“ In den ausgezeichneten Vorbemerkungen zur Braut von Messina „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“ erhofft Schiller vom Chor fast ganz dasselbe, was Wagner von der Mitwirkung der Musik im Drama verlangt: eine Stilisierung, die das Reale und Ideale glücklich ausgleicht, eine Entlastung und Reinigung der Handlung von aller Reflexion, eine Erhebung der ganzen Sprache des Gedichtes. „Wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung, aber die schöne und hohe Ruhe, die der Charakter eines edeln Kunstwerkes sein muss.“ Drei Tage vor seinem Tode sagte Schiller, den wir als den Schöpfer des historischen Dramas zu betrachten pflegen, der aber in seinen Entwürfen weit darüber hinausgriff: „Gebt mir Märchen und Rittergeschichten, da liegt doch der Stoff zu allem Schönen und Großen.“

Goethe meinte einmal: „Wenn alle diese Künste (Poesie, Malerei, Gesang, Musik, Schauspielkunst) und Reize von Jugend und Schönheit an einem einzigen Abende und zwar auf bedeutender Stufe zusammenwirken, so gibt es ein Fest, das mit keinem andern zu vergleichen.“ Im Faust sind auch in jeder Hinsicht alle Schranken des herkömmlichen gesprochenen Dramas übersprungen. Wir haben hier schon das Gesamtkunstwerk, das Drama aus dem Geiste der Musik, freilich leider ohne die Partitur, die den Rhythmus des Spieles und den Vortrag uns bezeichnen könnte.

Jean Paul schrieb am 24. November 1813, sechs Monate nach Wagners Geburt: „Bisher warf der Sonnengott die Dichtergabe mit der Rechten, die Tongabe mit der Linken zwei so weit auseinanderstehenden Menschen zu, dass wir noch bis auf diese Stunde des Mannes harren, der eine echte Oper zugleich dichtete und setzte.“

Durch alle diese Aussprüche, die sich noch sehr vermehren ließen, geht die tiefe Sehnsucht nach einem Drama, das alle Künste, insbesondere aber Töne und Worte, zu einer organischen Einheit verbände, das durch edle Einfachheit des womöglich deutschen, sagenhaften oder mythischen Stoffes und der äußern Handlung, durch einen streng stilisierten, vornehmen und der Willkür enthobenen Vortrag von den vorhandenen gesprochenen Literaturdramen sich unterscheide. Zugleich aber besteht die feste Überzeugung, dass die Oper nur äußerlich und unorganisch zu leerem Prunk ohne künstlerische Notwendigkeit die Sonderkünste nebeneinander stelle, dass mithin der Einheits- und Mittelpunkt erst gefunden werden müsse, von dem aus die natürliche, notwendige, lebendige Verbindung zu geschehen habe.

In der Tonkunst, wie sie durch Beethoven geschaffen wurde, ist nun aber wirklich die Seele des von unsren Klassikern gesuchten Dramas gewonnen, die Möglichkeit und Fähigkeit, das Wichtigste und Wesentlichste unmittelbar auszudrücken, wie Wagner einmal sagt: „Das Orchester ist das Vermögen der Kundgebung des Unaussprechlichen.“ Die Tonsprache Beethovens und Wagners ist „die tiefe Kunst des tönenden Schweigens“. Was Wagner hier, mächtig der Tat, gestaltend in das Drama einführte, ist von den Dichtem, die nicht nur im Literarischen befangen blieben, geahnt und genau bezeichnet worden. Hierfür folgende Beispiele: Von Schiller wissen wir, dass er aus musikalischen Empfindungen und Stimmungen heraus dichtete. Streicher erzählt von der Entstehung der Luise Millerin, wo die Musik Schillers Begeisterung erhielt und das Zuströmen der Gedanken erleichterte. Mit einbrechender Dämmerung begann Streicher auf dem Klavier zu phantasieren, „während Schiller im Zimmer, das oft bloß durch den Mondschein erleuchtet war, mehrere Stunden auf und ab ging und nicht selten in unvernehmliche begeisterte Laute ausbrach“. Heinrich von Kleist war der Meinung, dass der Mensch überschwengliche Gefühle nicht auszusprechen vermöge, sondern, wenn er sie hat, verstumme, weil er keine dem Gefühl entsprechenden Worte finde. „Ach, es gibt kein Mittel, sich andren ganz verständlich zu machen, und der Mensch hat von Natur keinen andern Vertrauten als sich selbst.“ „Selbst das einzige, was wir besitzen, die Sprache, taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke.“ Otto Ludwig schildert den seelischen Zustand des dramatischen Dichters in lichtvoller Weise also: „Es geht eine Stimmung voraus, eine musikalische, die wird mir zur Farbe, dann sehe ich Gestalten, eine oder mehrere, in irgendeiner Stellung oder Gebärdung für sich oder gegeneinander . . . Wunderlicherweise ist jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgendeiner pathetischen Stellung; an diese schließt sich aber sogleich eine ganze Reihe, und vom Stücke erfahre ich nicht die Fabel, den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts bald nach dem Ende zu von der erstgesehenen Situation aus schießen immer neue plastisch -mimische Gestalten und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Szenen habe; dies alles in großer Hast, wobei mein Bewusstsein ganz leidend sich verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat . . . Nun findet sich zu den Gebärden auch die Sprache. Ich schreibe auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung verlässt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein toter Buchstabe.“

Jede menschliche Handlung besteht zunächst aus einem inneren Motiv, einer seelischen Erregung, und aus deren Äußerung in Wort und Gebärde. Während der Wortdichter nur die an den Verstand gerichteten Äußerungen schildern kann und sozusagen auf Umwegen das Seelische und Unaussprechliche erraten lässt, während er zum Wort nur noch sehr allgemein die Gebärde fügen kann, baut der Tonwort-Dichter von innen nach außen, durchleuchtet seine Gestalten von innen her und besitzt vor allen andern das wichtigste künstlerische Ausdrucksmittel, „die Seele zu malen“. Nietzsche sagt: „Wagner, der erste, welcher die inneren Mängel des Wortdramas erkannt hat, gibt jeden dramatischen Vorgang in einer dreifachen Verdeutlichung, durch Wort, Gebärde und Musik; und zwar überträgt die Musik die Grundregungen im Innern der darstellenden Personen des Dramas unmittelbar auf die Seelen der Zuhörer, welche jetzt in den Gebärden derselben Personen die erste Sichtbarkeit jener inneren Vorgänge und in der Wortsprache noch eine zweite abgeblasstere Erscheinung derselben, übersetzt in das bewusstere Wollen, wahrnehmen. Alle diese Wirkungen erfolgen gleichzeitig und durchaus ohne sich zu stören und zwingen den, welchem ein solches Drama vorgeführt wird, zu einem ganz neuen Verstehen und Miterleben, gleich als ob seine Sinne auf einmal vergeistigter und sein Geist versinnlichter geworden wäre, und als ob alles, was aus dem Menschen heraus will und nach Erkenntnis dürstet, sich jetzt in einem Jubel des Erkennens frei und selig befände.“

In seiner Schrift „Über das Dichten und Komponieren“, 1879, unterscheidet Wagner in tiefsinniger Weise drei Stufen des „Poietes“: den Seher, den Dichter, den Künstler. Der Seher sieht nicht bloß wie die gewöhnlichen Sterblichen den Schein, sondern schaut zum Grund der Dinge, das Wesen der Welt. Seinem scharfen und tiefen Blick offenbart sich die Wahrheit. Die Sehergabe ist unbewusstes künstlerisches Erkennen. Der Dichter ist bewusster Schöpfer. Aus der Anschauung erhebt er sich zur Mitteilung und Darstellung. Der eigentliche Dichter ist der Erzähler, der Epiker, der Schilderer in irgend einer Sonderkunst. Er gibt gleichsam beschränkten und einseitigen Bericht von dem, was er als Seher geschaut. Der Künstler aber verwirklicht durch Beherrschung und Anwendung der höchsten, allumfassenden Kunst zu unmittelbarster sinnlicher Anschauung alles, was der Seher schaute und wovon der Dichter erzählte. Dieser Künstler ist aber vor allem der lyrische Tragiker, der in seinem Werk restlos und mit vollendeter Deutlichkeit alles gestaltet. Tonkunst, Tanzkunst und Dichtkunst, d. h. seelische Erregung, Gebärde, Wort oder das Motiv, die Mimik, die Rede betrachtete Wagner von Anfang an als die bindenden und gestaltenden Grundkräfte des Gesamtkunstwerks. Dies alles ist in wundervoll klarem und einheitlichem Rhythmus gegeben, in jenem erhabenen, großen Stil, den Goethe und Schiller als reinste Kunst, als Ausgleich und Versöhnung bloßer Naturnachahmung und manierierter, d. h. von außen her geholter Form erstrebten, aber mit ihren „dichterisch“ beschränkten Ausdrucksmitteln doch nie klar genug zu fassen und darzustellen vermochten. Die Musik gab dem deutschen Drama die Seele und schuf ihm die Gestalt, baute das Kunstwerk von innen nach außen.

Natürlich mussten hierbei Sprache und Musik eigenartig und neu fortgebildet werden, so dass dem einseitigen Literator und Fachmusiker vieles, wenn nicht alles unverständlich blieb, dem wirklich Musikalischen, d. h. künstlerisch Empfindenden aber alles erst recht deutlich und unmittelbar verständlich ward. Nietzsche fährt fort: „Weil jeder Vorgang eines Wagnerischen Dramas sich mit der höchsten Verständlichkeit dem Zuschauer mitteilt, und zwar durch die Musik von innen heraus erleuchtet und durchglüht, konnte sein Urheber aller der Mittel entraten, welche der Wortdichter nötig hat, um seinen Vorgängen Wärme und Leuchtkraft zu geben. Der ganze Haushalt des Dramas durfte einfacher sein, der rhythmische Sinn des Baumeisters konnte es wieder wagen, sich in den großen Gesamtverhältnissen des Baues zu zeigen . . . Die Sprache zog sich aus einer rhetorischen Breite in die Geschlossenheit und Kraft einer Gefühlsrede zurück; und trotzdem, dass der darstellende Künstler viel weniger, als früher, über das sprach, was er im Schauspiel tat und empfand, zwangen jetzt innerliche Vorgänge, welche die Angst des Wortdramatikers vor dem angeblich Undramatischen bisher von der Bühne ferngehalten hat, den Zuhörer zum leidenschaftlichen Miterleben, während die begleitende Gebärdensprache nur in der zartesten Modulation sich zu äußern brauchte. Nun ist überhaupt die gesungene Leidenschaft in der Zeitdauer um etwas länger, als die gesprochene; die Musik streckt gleichsam die Empfindung aus: daraus folgt im allgemeinen, dass der darstellende Künstler, welcher zugleich Sänger ist, die allzugroße unplastische Aufgeregtheit der Bewegung, an welcher das aufgeführte Wortdrama leidet, überwinden muss. Er sieht sich zu einer Veredlung der Gebärde hingezogen, um so mehr, als die Musik seine Empfindung in das Bad eines reineren Äthers eingetaucht und dadurch unwillkürlich der Schönheit nähergebracht hat.

Die außerordentlichen Aufgaben, welche Wagner den Schauspielern und Sängern gestellt hat, werden auf ganze Menschenalter hin einen Wetteifer unter ihnen entzünden, um endlich das Bild jedes Wagnerischen Helden in der leiblichsten Sichtbarkeit und Vollendung zur Darstellung zu bringen: so wie diese vollendete Leiblichkeit in der Musik des Dramas schon vorgebildet liegt.“ Chamberlain sagt von diesem Drama: „Durch die Mitwirkung der Musik wird der Atem der Dichtkunst zu ungeahnter Fülle ausgedehnt und der Wortdichter gewinnt die Fähigkeit zu Kühnheiten, die er allein nicht hätte wagen können. Und umgekehrt bedeutet für die Musik der unendlich mannigfaltig zu gestaltende Sprachvers eine ewig quellende Befruchtung des rein musikalischen Vermögens des Menschen.“ Allerdings werden in diesem streng geschlossenen Kunstwerk sogenannte Schönheiten der Einzelkünste, schöne Stellen, dankbare Nummern und dergleichen Tand zwecklos, überflüssig, ja unmöglich. Alles dient dem Ganzen. Und damit ist auch eine neue Schauspielkunst geschaffen, zu der Appia bemerkt: „Dem Schauspieler bleibt jetzt nichts mehr in einer Rolle zu schaffen, sondern der Dichter stellt die Rolle fertig hin, er haucht ihr den Lebensatem ein; der Schauspieler hat keinerlei Recht auf sie; sein höchstes Ziel muss die vollkommene Entsagung sein, um durch die Vermittlung der Musik die neue Seele, die der schöpferische Dichter ihm aufzwingt, zu empfangen und sie die volle Herrschaft über ihn gewinnen zu lassen.“ Es vollzieht sich also hier, wie Wagner sagt, „die Seelenwanderung des Dichters in den Leib des Darstellers“ und zwar in einer Weise, wie vordem ganz undenkbar. Hier wird der Darsteller wirklich Bildner und Gestalter, kein eitler Komödiant, der mit eigenen geistreichen Einfällen und mit falschem Vortrag eine Rolle verdirbt.

Dieses Drama aus dem Geiste der Musik nennt Chamberlain mit Recht schlechthin das deutsche Drama und Wagner seinen Schöpfer. Aus deutschem Grunde, aus dem Sehnen deutscher Ton- und Wortdichter ist es erwachsen und von einem deutschen Meister ins Leben gerufen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bayreuth