Erste Fortsetzung

Einen gewissen, wenn auch keinen entscheidenden Anteil an der Ungunst der über das Nikolaitische Zeitalter gefällten Urteile haben die in dem slawischen Charakter begründete Neigung zur Medisance und zur Selbstironie und der bekannte Umstand gehabt, dass in Ländern, welche der Öffentlichkeit entbehren, das Anekdotenwesen eine mächtige Rolle spielt. Vollständiger Ausschluss der Öffentlichkeit ist nur möglich, wo Macht und Einfluss in den Händen einzelner Personen konzentriert sind, wo die Kunde von den Eigentümlichkeiten dieser Personen, auch wenn sie sich auf die untergeordnetsten Dinge bezieht, einen praktischen, zuweilen einen historischen Wert erlangt. Ist über die eigentlichen Staatsaktionen der Schleier eines undurchdringlichen Geheimnisses gebreitet, so bleibt nicht aus, dass den privaten und sekundären Handlungen der Akteure auf das eifrigste nachgegangen wird; liegen in einem Staate die Dinge so, dass die wichtigsten auf denselben bezüglichen Entscheidungen wesentlich nach Laune und Eigentümlichkeit einzelner Machthaber gefällt werden, so erwirbt Alles was auf diese Launen und Eigentümlichkeiten Bezug hat, symptomatische Bedeutung. Zum genauesten Kenner der politischen Temperatur wird dann, wer die ausgebreitetste Personenkenntnis besitzt und den größten Schatz von auf diese Personen bezüglichen Erfahrungen gesammelt hat; dauert ein solcher Zustand längere Zeit an, so verdichten diese Sammlungen sich zu einem Literaturzweig , und rückt die Anekdote in die Stellung der geschichtlichen Quelle. — In Russland ist dem so gewesen, weil die anekdotische Tradition anderthalb Jahrhunderte lang die Haupt quelle Alles dessen war, was man von den öffentlichen Zuständen und deren Beherrschern überhaupt erfuhr. Dabei war und ist Regel, dass in den breiteren gesellschaftlichen Schichten, neben bloßen Märchen und an das Ungeheuerliche streifenden Fabeln, heroische und sentimentale Anekdoten besonders eifrig gepflegt werden, während die sogenannten höheren Kreise Träger einer nichts weniger als rosenfarbig kolorierten Überlieferung sind und für skandalöse und unerfreuliche Züge aus dem Leben der früheren Machthaber ein sehr viel treueres Gedächtnis zeigen, als für freundliche Erinnerungen an dieselben. Es gibt kaum ein die russischen Zustände behandelndes russisches, deutsches, französisches oder englisches Buch, das nicht Anekdoten und unter diesen einige angeblich oder wirklich historische auftischte; je nach dem Maße des in diesen Anekdoten aufgespeicherten Bosheitquantums wird der Kenner sofort angeben, in welchen Schichten der russischen Gesellschaft der Erzähler sich bewegt hat.

Dergleichen auf die Geschichte der Jahre 1825 bis 1855 bezüglichen Erzählungen liegen heute in ziemlich bedeutender Anzahl vor. Die große Mehrheit derselben ist bei Lebzeiten des Kaisers Nikolaus und zwar von Männern niedergeschrieben worden, die sich selbst für Anhänger dieses Monarchen und seines Systems hielten. Weil sie die Möglichkeit einer Publikation ihrer Aufzeichnungen ausgeschlossen glaubten, haben diese Berichterstatter sich indessen keinen Zwang auferlegt, sondern frischweg erzählt und geurteilt, wie man zu ihrer Zeit eben zu erzählen und zu urteilen pflegte. Da nimmt es sich denn höchst verwunderlich und zugleich höchst charakteristisch aus, dass der Kaiser und seine Vertrauten bei ihren eignen Zeitgenossen eigentlich ebenso schlecht weggekommen wie bei ihren Nachfahren. Kaum, dass ein wohltuender Zug auf die Hunderte peinlicher und widerwärtiger Vorkommnisse kommt, die von den zeitgenössischen Memoirenschreibern registriert worden sind und dass die in dem heutigen Russland landläufigen Urteile über des Kaisers Unfähigkeit sich von der Sorge um kleinliche Äußerlichkeiten zu großen und allgemeinen Gesichtspunkten zu erheben, von des Monarchen eignen und dazu höchst loyalen Mitlebenden, gerade so bestätigt werden, wie die Erzählungen von dem kaum glaublichen Maß moralischer Unwürdigkeit und intellektueller Unfähigkeit der Nikolaitischen Günstlinge und Vertrauensmänner. Besonders merkwürdig sind in dieser Rücksicht die im vorigen Jahre veröffentlichten, den Jahren 1841 bis 1853 angehörenden Aufzeichnungen des Staatsrats Boguslawski, eines hohen Beamten der 40er Jahre, der — als echter Bürokrat seiner Zeit — die Verkommenheit und Unfähigkeit seiner eignen Genossen zum Hauptgegenstand seiner umfassenden Anekdotensammlung gemacht zu haben scheint. Je höher in der damaligen bürokratischen Hierarchie hinauf, desto lebhafter und stärker war man davon überzeugt, dass eine russische Behörde nichts mehr als eine Parodie auf sich selbst sein könne. Als Alexander I. auf den Rat des Staatssekretärs und Senators Troschtschinski (desselben der als Teilnehmer an der Verschwörung gegen das Leben Pauls das diesem vorzulegende und in der Folge wirklich vorgelegte Thronentsagungsmanifest entworfen hatte) das höchste Gesetzgebungs- und Verwaltungskollegium, den noch heute bestehenden Reichsrat; errichtete und die zu Gliedern desselben ernannten vornehmen Herren sich die Ehre ausbaten die bezügliche Lokalität einrichten zu dürfen, hatte der miternannte Graf Rostopschin das für ein russisches Amtszimmer unentbehrliche Heiligenbild (den sogenannten Obras) zu beschaffen; der Graf spendete ein Passionsbild mit der Unterschrift: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun." Dieser Einfall wurde von allen die davon Kunde erhielten als außerordentlich witzig und zutreffend belacht, obgleich der zum Stichblatt desselben gemachte Reichsrat zu jener Zeit noch nicht fungiert, mithin auch noch keine Gelegenheit gehabt hatte seine Unfähigkeit zu dokumentieren. In ähnlichem Sinne jauchzte alle Welt einem Witzworte zu, das einige Jahrzehnte später gegen eine andere, und zwar gegen eine in ihrer Weise höchst verdiente Reichsbehörde, das Domänen-Ministerium, gerichtet, und von dem vielbeliebten General Jermoloff ausgesprochen wurde — einem Mann, der freilich nur den Mund aufzutun brauchte, damit das gesamte „nationale" Russland in frenetische Beifallsrufe ausbrach. Als Mitglied des Reichsrats war der damals in Moskau lebende Jermoloff von einem Freunde, dem Fürsten Drucki-Luberki (letztem Finanzminister des „konstitutionellen" Königreichs Polen und einem der wenigen Polen, die unter dem Kaiser Nikolaus in St. Petersburg eine Rolle spielten) aufgefordert worden, in die Residenz zu kommen um an der Entscheidung darüber teilzunehmen, „ob das Domänen Ministerium beibehalten werden solle". Der General gab zur Antwort: dass er unter allen Umständen für die Beibehaltung einer bürgerlichen Institution votieren werde, die sich in militärischer Hinsicht so außerordentlich nützlich erwiesen habe: seit Errichtung dieses Ministeriums seien auf den demselben unterstellten Domänen-Gütern nicht weniger als 42 Bauernaufstände ausgebrochen und dadurch den Truppen Sr. Majestät 42 Gelegenheiten zur Übung in den Waffen geboten worden. Und doch wussten sowohl Jermoloff als der diese „geistreiche Pointe" weiter verbreitende Fürst Drucki-Luberki und der Chronist derselben, Hr. Boguslawski, dass das Domänen-Ministerium, trotz der sprichwörtlichen Unredlichkeit seiner Beamten und trotz zahlreicher seitens der Oberverwaltung begangenen Missgriffe, eine für die Dauer des Zustandes der Leibeigenschaft unentbehrliche Institution und das einzige Korrektiv war, durch welches die Regierung in ihrer Eigenschaft als größte Grundbesitzerin des gesamten Reiches auf eine menschliche Behandlung der Bauern und auf die allmähliche Anbahnung agrarischer Reformen hinwirken konnte. Die Gewohnheit von den bestehenden Einrichtungen immer nur die Schattenseiten zu sehen und jede Art von abfälliger Kritik als Zeichen unabhängiger Gesinnung und tiefer Einsicht in das Wesen russischer Dinge zu behandeln, war unter dem alten Regime eben so tief eingewurzelt, dass sie schließlich auch in den höchsten, an der Erhaltung des Bestehenden zumeist interessierten Schichten der russischen Gesellschaft zum guten Ton wurde, und dass die schärfsten, bittersten und einseitigsten Spötter die meisten Lacher auf ihrer Seite hatten. Wo Alles über den Zustand bürokratischer Versumpfung lachte, bei welchem man angelangt war, ohne dass ein Ausweg möglich schien — da blieb der Bürokratie nichts übrig als das Mitlachen. Und gelegentlich — Hr. Boguslawski berichtet über mehrere derartige Züge — lachten nicht nur hohe, sondern auch allerhöchste Personen mit; ja selbst der strenge, unziemlichem Scherz abgeneigte Kaiser Nikolaus vermochte im Angesicht der ihn umgebenden, das Maß alles Glaublichen überschreitenden Korruption nicht immer den gemessenen Ernst seines Wesens zu behaupten. Boguslawski erzählt eine in dieser Rücksicht höchst charakteristische Anekdote, deren Inhalt etwa der folgende ist.


Bei Gelegenheit eines sommerlichen Morgenspaziergangs, den er an der Seite seines Flügeladjutanten du jour, des Obersten Asstafjeff, unternahm, traf der Kaiser Nikolaus auf einen kurz zuvor von Hamburg nach St. Petersburg eingewanderten Schuster, der mit den beiden ihm unbekannten Offizieren in ein Gespräch geriet und denselben erzählte: er habe einen Plan ausgearbeitet, dessen Annahme der kaiserlichen Armee zu solidem und außerordentlich wohlfeilem Schuhzeug verhelfen würde, indessen noch keine Gelegenheit gefunden diesen Plan an den rechten Mann zu bringen. Auf des Kaisers Frage: warum er (der Schuster) sich nicht an den Oberpolizeimeister der Residenz, Kakoschkin, (NB. wegen seiner Ungeschicklichkeit gewöhnlich cache-coquin genannt), an den Generalgouverneur v. Essen oder an den Großfürsten Michael Pawlowitsch gewendet habe, gab der biedere Schuster zur Antwort: er habe als armer Teufel weder die von dem Kanzlei-Direktor des Oberpolizeimeisters geforderten 300 Rubel noch die von dem Sekretär des Generalgouverneurs verlangten 500 Rubel aufzubringen vermocht — mit dem Großfürsten, dem „Soldatenschinder“, wolle er aber nichts zu schaffen haben. — Wie von Boguslawski unter Mitteilung verschiedener unverkennbar das Gepräge der Wahrheit an sich tragenden Einzelzüge weiter erzählt wird, fand der Kaiser an dieser Erzählung so viel Gefallen , dass er seinen Bruder und die beiden genannten Generale noch an demselben Tage zur Tafel laden ließ und ihnen während derselben sein Abenteuer und die drei Aussprüche des naiven Hamburgers stückweise erzählte, sich an der Verlegenheit des jedesmal Betroffenen und der Schadenfreude der beiden anderen ergötzte, und schließlich in ein Gelächter ausbrach, als seine sämtlichen drei Tischgenossen beschämt und verlegen vor sich niedersahen. Dass dieser Vorgang für irgendeinen der Beteiligten Folgen gehabt habe, wird nicht berichtet, wohl aber, dass der Kaiser der Witwe des bald darauf verstorbenen Schusters eine Pension aussetzte. — Feststehende Regel scheint zu jener Zeit eben gewesen zu sein, dass die „Allerhöchsten Personen" sich über peinliche Erfahrungen, die sie mit der Ehrlichkeit oder Geschicklichkeit ihrer Günstlinge machten, durch kleine Bosheiten abfanden, um dadurch der Notwendigkeit strafend vorzugehen überhoben zu werden. Als der Minister des Innern, Graf Perowski, überführt worden war einen Staatsrat Klewenski, der 156.000 Rubel gestohlen hatte, „als Diamanten unter seinen Beamten“ kaiserlicher Huld empfohlen zu haben, kam er mit dem im Scherz erteilten Auftrage davon: er möge „als Brillantenkenner" die der Braut des Großfürsten Constantin bestimmten Brillanten aussuchen. Auf einen Bericht darüber, dass eine von dem berüchtigten Bautenminister Grafen Kleinmichel mit großem Kostenaufwande gebaute Chaussee nach Jahresfrist völlig unbrauchbar geworden und dass Niemand an diesem Unfälle schuld sei, schrieb der Kaiser: „Da die Chaussee weg ist, das Geld weg ist und der Schuldige weg ist, so ist die Akte zu schließen und eine neue Chaussee zu bauen." Kleinmichels amtliche und gesellschaftliche Stellung blieb von diesem Vorfall eben so unberührt wie von einer aus älterer Zeit datierenden Geschichte, die noch charakteristischer ist. — Das im Jahre 1837 abgebrannte Winter-Palais war binnen Jahresfrist wieder aufgebaut und der Chef des öffentlichen Bauwesens für die Leitung der bezüglichen Arbeiten mit dem Grafentitel und einer goldenen reich mit Brillanten geschmückten Medaille belohnt worden, welche die Inschrift „Ich danke" trug. Kaum ein Jahr später stürzte ein Teil dieses Bauwerkes, der reich ornamentierte Georgen-Saal, zufolge der Liederlichkeit, mit welcher er aufgeführt worden, wieder ein. In Begleitung Kleinmichels und des Großfürsten Michael begab Nikolaus sich an Ort und Stelle, um den Umfang des erlittenen Schadens zu übersehen. Beim Anblick des trostlosen Trümmerhaufens brach der Monarch in den Ausruf aus: „Comme c' est dommage, que de pertes!" Der Großfürst wies boshaft auf den neben ihm stehenden neugebackenen „Grafen" hin, indem er sagte: „Oui, Sire, mais du reste, Je compte (comte) est déjà fait." Der Kaiser lachte und bemerkte, dass auf der dem „Grafen" verliehenen Medaille gar „Ich danke" stehe, worauf der Großfürst als Inschrift für den Revers der Medaille die Worte „Il n'y a pas de quoi" empfahl. Damit war die Sache erledigt, und alles blieb beim Alten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus der Petersburger Gesellschaft