Die Aussätzigen von Jakutsk. (Fortsetzung)

Trotz des traurigen Loses, das den Bewohnern einer Aussatz-Jurte zugefallen, ist in denselben weltliches Gelüst nicht ertötet; sie bestehlen einander, um lächerlichen Luxusbedürfnissen zu frönen, und es fehlt auch nicht an Liebesepisoden.

Eine aussätzige Frau und ein aussätziger Mann, die sich in der Jurte kennen gelernt, liebten einander. Eines Tages glaubte die Frau zu bemerken, dass ihr Geliebter sein Herz auch einer anderen Aussätzigen zugewendet Da erwachte in ihr wilde Eifersucht, und im Dunkel der Nacht kroch sie mit dem letzten Aufgebot ihrer Kraft zu der Rivalin und erwürgte dieselbe mit ihren abgefaulten Händen . . .


Das Leben der einzeln eingesperrten Aussätzigen ist nicht minder traurig.

Jahrelang liegt so ein Unglücklicher einsam in seinem Stall. Ringsum Unbeweglichkeit, Totenstille. Gierig lauscht der Kranke dem bekannten Schrei, mit welchem ein- oder zweimal in der Woche Vater oder Sohn, Mutter oder Frau ihm künden, dass sie seine kärgliche Nahrung gebracht.

Kriechend erreicht er die Thür seiner Behausung, jammernd vor Weh wälzt er sich durch dieselbe und rollt ins Freie, mit den Resten der Hand packt er die Nahrung, keuchend kehrt er zurück, macht mühsam Feuer und bereitet sein Mahl.

Wenn es ihm schlechter zu gehen beginnt und er nimmer imstande ist, den kurzen Weg zur Tür, zum Proviantplatz zurückzulegen, so steckt der Verwandte einen langen Stab durch die Ritzen der Jurte und fuchtelt mit dem Stabe umher, bis er den Kranken an irgend einer Wunde trifft und der Ärmste laut aufstöhnt; so erfahrt der draußen Stehende, dass der Kranke noch am Leben, er bindet also die Speise an den Stab und schiebt sie durch irgend ein Loch in die Jurte. Hört der Proviantbringer keinen Laut, so weiß er, dass sein Verwandter gestorben . . .

Die strengen Gesetze gegen die Aussätzigen zerreißen alle Familienbande. Die Gattin darf sich nicht mehr dem Gatten nähern, die Mutter nicht den Sohn pflegen. Und doch findet man unter diesen halbwilden Menschen nicht alles menschliche Gefühl erstorben, und die Liebe einer Mutter zu ihrem Kinde oder eines Kindes zur Mutter setzte sich schon manchmal Uber die fürchterlichen Absperrungsgebräuche hinweg, aller Gefahr von Seiten der Krankheit, von Seiten der strafenden Gemeinde zum Trotz.

Im Kreise Wiljuy erkrankte ein Knabe am Aussatz, die Gemeinde verjagte ihn aus dem Dorf und sperrte ihn in eine einsame Jurte im Walde, fern vom Dorfe.

Das arme Kind aber sehnte sich nach der Mutter, und als die Nacht schützend niederfloss, entwich es heimlich aus der Hütte und kroch ins Dorf zurück. Seine Mutter grub darauf neben ihrer Hütte eine tiefe Grube und verbarg das Kind hier über Nacht.

Früh morgens aber, ehe der erste Lichtstrahl über das Dorf zuckte, stieg der Knabe aus der Grube und kletterte krampfhaft in seine Verbannungshütte.

Allnächtlich kam er hinfort zur Mutter und suchte an ihrem Herzen Trost in seinem grauenvollen Leiden . . .

Eine Frau, die mit ihrer Tochter zusammenlebte, erkrankte. Die Tochter brachte es trotz des strengen Gebots, jede Erkrankung sofort beim Gemeindeältesten

anzuzeigen, nicht übers Herz, die arme Mutter der Verbannung preiszugeben. Sie pflegte sie so gut sie konnte, sie ließ keinen Fremden ins Haus, sie besorgte alle Einkäufe.

Aber endlich kam die Verheimlichung ans Licht. Die Mutter wurde sofort verstoßen, und zur Strafe für ihre Kindesliebe auch die Tochter, die völlig gesund war und gesund blieb, unter die Aussätzigen verbannt . . .

Eine aussätzige Frau konnte die Trennung von ihrem Mann und ihren Kindern nicht ertragen. Sie schlich immer und immer ins Dorf zurück.

Da befahl der Dorfälteste, ihr die letzten Kleiderfetzen zu nehmen, damit sie nicht mehr aus der Jurte könnte.

Die Frau vermochte trotzdem ihre Sehnsucht nicht zu stillen, im bittersten Winter kroch sie nackt aus der Jurte und wollte ins Dorf zu den Ihren. Aber nachdem sie zwei Werst zurückgelegt — wie leidvoll, wer kann das beschreiben? — verließen sie die Kräfte, sie blieb erstarrt liegen . . .

Eine andere Mutter vermag nicht weit zu kriechen und möchte doch ihre Kinder sehen, die noch bei Lebzeiten der Mutter Waisen sind.

Da bringt denn der Vater jedes Mal, wenn er die Nahrung herbeiträgt, auch die Kinder mit, stellt sie in einiger Entfernung von der Jurte auf, öffnet mit einem Stab die Tür und unterhält sich dann laut schreiend mit seiner unglücklichen Frau, die Kinder jauchzen der Mutter zu, erzählen von ihrem lustigen Treiben und begreifen nicht, weshalb die Mutter von ihnen abgesperrt ist . . .

Es fehlt traurigerweise auch nicht an schlechten Leuten, welche die Furcht der Gemeinden vor den Aussätzigen ausbeuten.

Es starben ein Mann und eine Frau fast gleichzeitig und hinterließen ihrem einzigen Kinde vier Kühe. Die Gemeinde betraute einen Oheim der Waise mit deren Erziehung.

Aber dem Vormund stach der Reichtum des Mündels gar sehr in die Augen, und er sann und sann, wie er sich in den Besitz der kostbaren vier Kühe setzen könnte.

Endlich tat er so:

Er eilte betrübten Herzens und jammernd und klagend zum Gemeindeältesten.

„Ein großes Unglück," rief er dem zu, „ein schweres Unglück ist über mich gekommen, Bruder. Rette, rate! Das Kind, mein Schwesterkind, welches mir die Gemeinde zur Obhut übergeben, ist aussätzig."

Darauf wurde das arme Kind, ob es auch völlig gesund war, ohne weiteres — durfte man doch dem angesehenen Vormund glauben — in eine Jurte verbannt, der Oheim aber erbat sich die Erlaubnis, dem Kinde stets selbst die Nahrung bringen zu dürfen.

Und der gute Oheim rannte zwei-, auch dreimal wöchentlich in den fernen Wald, zur einsamen Jurte seines Mündels.

Aber ach, sein Bündel enthielt nicht Nahrung, nur — Steine.

Fühllos hörte er das Jammern und Stöhnen des hungernden Kindes — er dachte nur an die Erbschaft . . .

Und eines Tages war der Knabe tot . . .

Um seine ruchlose Tat auf ewig zu verbergen, begrub der Vormund selbst sein Mündel in stiller Nacht und meldete das Ende des Kindes dem Dorfältesten. Der sprach dem guten pflichtgetreuen Oheim, der sein Schwesterkind so liebevoll gepflegt, ohne Bedenken die vier Kühe zu.

Aber der Herr ließ die böse Tat nicht ungesühnt; ich weiß nicht, auf welche Weise sie entdeckt wurde; aber ich weiß, dass dem schlechten Manne die vier Kühe Freiheit und Leben kosteten . . .

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Die Entfernung des Landes vom Centrum des Reiches, seine Abgeschlossenheit von aller Kultur und Zivilisation machen es begreiflich, dass man von den geschilderten Zuständen der Aussätzigen von Jakutsk kaum in Sibirien, geschweige denn in Russland oder in Europa etwas wusste. Erst vor kurzem ist durch die Reise, welche die englische Philanthropin Miss Marsden in jene Gegenden unternommen, über diese Zustände Licht verbreitet worden. Miss Marsden, eine Dame von 33 Jahren, legte mit wahrem Heldenmut die riesige Strecke zurück, um den unglücklichen Aussätzigen Trost und Hülfe zu bringen, und da keine Geringere als die Zarin selbst die Engländerin unterstützte, waren deren Bemühungen nicht erfolglos.

Schon im Jahre 1827 hatte der Kreisarzt von Wiljuy, Doktor Kruse, das Gouvernement auf das Herrschen des Aussatzes unter den Jakuten aufmerksam gemacht. Die Antwort auf diese Eingabe des Doktors Kruse erfolgte aber erst — 1860. Damals wurde befohlen, in Mittel-Wiljuy auf drei Jahre eine Probeansiedelung für Aussätzige, auf Kosten der Gemeinden, zu erbauen. Aber die Krankenjurten, für je 40 Personen berechnet, wurden aus schlechtem, feuchtem Holz und zu hastig errichtet, die Beheizung der Jurten war elend, die Kranken bekamen weder Wäsche noch Kleider, nicht einmal ordentliche Nahrung. Auf diese Weise konnten die drei Probejahre kein gutes Resultat liefern. Die Gemeinden verweigerten schließlich die Bezahlung weiterer Kosten, die Angelegenheit blieb liegen, die Kolonie verödete, die Kranken gingen nach wie vor elend und hilflos zu Grunde.

Im Jahre 1890 endlich griff der tatkräftige Gouverneur von Jakutsk, General W. S. Kolenko, zu neuen energischen Maßregeln, er setzte sich mit dem Generalgouverneur von Ost-Sibirien und dem Minister des Innern in Verbindung, er ernannte eine Sanitätskommission, stellte genaue Untersuchungen über die Verbreitung der Krankheit an, befahl zwei Kolonien für die Kranken — eine für Männer, die andere für Frauen — zu errichten und zwar in möglichst reiner Gegend, die Jurten mit genügendem Heizmaterial zu versehen, außerdem jeder Kolonie ein ständiges ärztliches Personal beizugeben, viele sumpfige Stellen trockenzulegen oder die Einwohner aus solchen Morastgegenden in gesündere zu überführen, endlich den allgemeinen Wohlstand durch Steuernachlässe zu verbessern.

Den Maßregeln des Gouverneurs kam Miss Marsdens Reise zu gute. Die Zarin hörte von derselben und befahl die mutige Frau, welche Tausende und Tausende Werst unter schwerer Mühsal zurückgelegt, um unglücklichen Menschen mit Wort und Tat, mit Medizin und Geld, mit Kleidung und Wäsche zu helfen, zur Audienz. Das Interesse der Kaiserin blieb nicht ohne Einfluss auf den Gang der Angelegenheit, die Gesellschaft von Petersburg und Moskau bildete Wohltätigkeitskomitees und spendete reiche Mittel für die Aussätzigen von Jakutsk, und wenn nicht wieder ein administratives Verzögerungskunststück dazwischen kommt, dürften des Gouverneurs Kolenko edle Pläne bald zur Ausführung gelangen und endlich ein Stück Elend aus der Welt schaffen, wie es gräflicher nicht gedacht werden kann.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem modernen Russland.