Böser Blick

Der Glaube an den bösen Blick (das mal' occhio der Italiener!) ist hier bei den Städtern in Sfax, wie auch bei den Nomaden der Steppe allgemein verbreitet. Man versteht unter dem néfs (denn so lautet der arabische Ausdruck hierfür) hauptsächlich eine Schädigung, die man sich selbst oder anderen durch unvorsichtiges oder übertriebenes Loben und Bewundern, durch allzu bestimmte Hoffnung auf den günstigen Ausgang einer Sache oder Unternehmung zufügen kann. Auch dadurch, dass einer den andern um ein Besitztum, um eine gute Eigenschaft beneidet, kann er dazu beitragen, dass diese jenem verloren gehen.

Der Glaube an diese Einflüsse ist hier so fest eingewurzelt, dass man jemanden, der nichts darauf gibt, bisweilen sogar als Ungläubigen bezeichnet. Denn nach der Überlieferung soll selbst der Prophet den néfs geglaubt haben. So wird die vorletzte Sure(Kapitel) des Koran (besonders deren letzter Vers — „ich flüchte zu Gott vor dem Übel des Neiders, wenn er neidet“) in der Tat in diesem Sinn interpretiert.
Das in jener Sure vorkommende „die Knotenanbläserinnen“ übersetzt und das also eine besondere Art Zauberinnen bezeichnet. Namentlich gelten kleine Kinder und schöne Augen als besonders der Gefahr des néfs ausgesetzt; so hört man recht häufig sagen, wenn man fragt, wie irgend eine Augenkrankheit begonnen habe: „er wurde vom néfs betroffen, weil er hübsche Augen hatte.“


Mütter kann man in die größte Furcht setzen, wenn man — etwa beim Eintritt in ihr Haus — sich über die große Zahl der Kinder oder deren gutes Aussehen lobend ausspricht. Sofort beeilt man sich ein „Gott verhüt's!“ oder „Gott, sei mit dem Propheten!“ hinzuzufügen, um den néfs unschädlich zu machen.

Zu demselben Zwecke stickt man in die Hauben der kleinen Kinder einen Skorpion oder Koransprüche mit schwarzem Faden ein. Als besonders wirksam gegen die Schädigungen, denen die Kinder durch den bösen Blick nach dem Glauben ihrer Mütter ausgesetzt sind, gilt die bekannte Formel: „es gibt nicht Macht noch Stärke, außer bei Gott dem Allerhöchsten“. Diese Worte sind auf den Hauben der meisten kleinen Knaben aufgestickt zu finden. Niemals aber habe ich diesen Spruch auf dem Kopfschmuck kleiner Mädchen gesehen.

Fischchen aus Perlmutter, kleine Korallenstücke, die Spitze eines Gazellenhorns in Silber, seltener in Gold gefasst, sieht man häufig auf den roten Mützen der Knaben, — auch diesen Gegenständen kommt die Rolle eines Schutzmittels gegen den néfs zu.

Sehr verbreitet ist das Tragen von Talismanen. Seidensäckchen, in die entweder von Wahrsagern geschriebene Sprüche oder noch häufiger verschiedene Gewürze eingenäht sind. Sie werden am „Fes“ (hier Schâschîja genannt) oder sonst an irgend einem Kleidungsstücke befestigt dieselbe schützende Wirkung hat die sogenannte hámsa d. h. eine bandförmige Figur, die auf Türen, über Fenstern, auf Kisten, auf den Hinterbacken von Reittieren angebracht wird. Die Beduinenfrauen tragen sie als Schmuckstück aus Silber gefertigt. Die hámsa (das Wort ist das Zahlwort „fünf“; eigentlich bedeutet hámsa also: fünf [Finger]!) wird unter dem Namen „Hand der Fâtma" namentlich gern von Fremden gekauft Die hiesigen Eingeborenen (Stadtbewohner, Fellachen und Nomaden) kennen jedoch diese Deutung der hámsa als der Hand der Tochter des Propheten nicht.

Sehr selten äußern sich die Eingeborenen befriedigt über irgendeine Handlung und sehen dies auch nicht gerne bei anderen Personen. Ich habe es mir seit langer Zeit zur Regel gemacht, niemals ein Wort der Zufriedenheit auszusprechen, wenn mir meine Augenoperationen gut gelangen; denn jedesmal waren meine eingeborenen Patienten höchst unwillig darüber, wenn derartiges meinem Munde entschlüpfte, — konnte das doch nach ihrem festen Glauben den Erfolg des Eingriffes völlig in Frage stellen! Lebhaft erinnere ich mich noch an folgendes Vorkommnis in der ersten Zeit meiner augenärztlichen Praxis unter den Arabern des tunisischen Südens.

Ich hatte ein junges Mädchen mit recht gutem Erfolge an Trichiasis und Entropium operiert, — Krankheiten die von anderen Ärzten hier immer ohne Erfolg behandelt worden waren. Ich gab meiner Freude an dem guten Resultate rückhaltlos Ausdruck, — als ich merkte, dass alle Gesichter sich verfinsterten. Am nächsten Tage war wirklich eine kleine Sticheiterung mit Schwellung des Oberlides aufgetreten, und alle beschuldigten mich als den Urheber dieser Komplikation, denn meine am vergangenen Tage offen zur Schau getragene Freude habe notwendig diese Verschlimmerung herbeiführen müssen! Nur mit Mühe gelang es mir, die Angehörigen zu bestimmen, mich die Operierte weiter behandeln zu lassen.

Als ich im vorigen Winter, nachdem ich vorher mehrere Augenoperationen mit gutem Erfolge ausgeführt hatte, zufällig an einem Panaritium litt, waren alle arabischen Frauen meiner Praxis überzeugt, dass mir jemand aus Neid über meine Geschicklichkeit den néfs angetan habe.

Die Furcht, sich eine Verschlimmerung ihres Leidens zuzuziehen, hindert die eingeborenen Kranken fast immer, dem Arzt von einer selbstbemerkten Besserung Mitteilung zu machen. Man erhält auf die Frage: „wie geht es dir heute?" nur unbestimmte Antworten, wie etwa: „Gott segne dich!“
Dringt man weiter in die Leute und fragt man: „geht es besser oder nicht?“, so erhält man als Zeichen der Bejahung höchstens die Antwort: „so Gott will!“