Von Asien nach Europa: Aus meinem Reisetagebuch

18. August. Wir kommen von Schanghai im Hafen von Dalny um acht Uhr des Abends wieder an, bleiben aber die Nacht an Bord. Gott sei Dank! denn der Weg über die schmutzige, holprige und schlecht beleuchtete Straße, wo uns kein Wagen zur Verfügung steht und die Kulis sich wieder um unser Gepäck gerissen hätten, wäre geradezu lebensgefährlich gewesen. Am nächsten Morgen ist schon um sechs Uhr alles um uns lebendig und in eifriger Tätigkeit. Vertreter der russischen Schifffahrtsgesellschaft, welche die Dampfer „Mongolia“ und „Mandschuria“ in ihren Dienst gestellt haben, finden sich bei uns ein und lassen sich unzählige Fragen, wie wir es mit unserem Gepäck zu halten haben, ruhig gefallen. Heute soll zum ersten Mal ein Versuch gemacht werden, die Passagiere mit der Eisenbahn um die Stadt herum bis zu der Stelle zu fahren, wo der sibirische Zug hält.

Bis dahin haben wir aber noch zwei Stunden Zeit und können in aller Ruhe frühstücken und uns davon überzeugen, dass wir von unseren Reiseeffekten nichts zurückgelassen haben. Der Dampfer beginnt die Ladung zu löschen. Zwei lange, schmale Rutschbahnen werden vom Ufer angelegt, und die Kulis lassen den Segen des himmlischen Reichs, den Tee, in großen, von Leinwand umhüllten und fest verschnürten Kisten herniedergleiten. An jeder der beiden Stellen rutschen immer vier bis fünf von ihnen gleichzeitig vom Bord des Schiffes ans Ufer und würden sich alsbald zu hohen Bergen auftürmen ohne die flink zugreifenden Hände, die sie beiseiteschieben. Dann kommen die Lastträger und schleppen sie im Laufschritt zu den Magazinen, wo sie bis zu dem weiteren Versand aufgestapelt werden.


Wie viele gute Dienste hat uns dies edle Getränk während der langen Fahrt auf der Eisenbahn, auf den Schiffen und bei vielen anderen Gelegenheiten erwiesen! Wir haben es in jeder Gestalt aus flachen, niedrigen Schalen in China und aus Gläsern in Russland getrunken, im Speisewagen des Zuges, im Salon des Schiffes, in Hotelrestaurants, in Gottes freier Natur vom frühen Morgen, wenn die Lebensgeister in uns wiedererwachten, bis spät in die Nacht hinein, kurz bevor uns die Augen zufielen.

In China trinkt man den Tee ohne alle Zutaten. Nur die Kinder genießen ihn dort mit Zucker, der uns Europäern unentbehrlich scheint. Die Russen lassen in dem goldig schimmernden und aromatisch duftenden Getränk eine Scheibe Zitrone schwimmen, deren Geschmack unsere Zunge lieblich kitzelt. Sie sind auch die eigentlichen Künstler in der richtigen Mischung verschiedener Sorten, von denen uns jede einzelne weit weniger munden würde als ihre richtige Zusammenstellung. Darin beruht das Geheimnis des russischen Tees wie des russischen Tabaks, der zu Zigaretten verarbeitet wird. Das Strenge muss mit dem Zarten auf geschickte Weise miteinander vermengt werden, wenn Geschmack und Geruch davon angenehm berührt werden sollen.

Tee ist der Regulator unseres inneren Menschen gewesen. Er hat uns bis in die Zehenspitzen hinunter erwärmt, wenn uns fröstelte, und gleichzeitig eine wohltuend kühle Wirkung hervorgerufen, wenn wir es vor Hitze nicht mehr aushalten konnten. Er hat den verstimmten Magen viel schneller, als es der Wein vermochte, immer wieder in gute Laune versetzt und die Verdauung während des langen Verweilens im Zuge wohltuend beeinflusst. Ganze Bäche von Tee rollten bei den Abendsitzungen durch unsere Kehle, wenn wir die Beobachtungen des Tages austauschten und jeder erzählte „woher er kam der Fahrt“ und „wie sein Nam' und Art“. Ludwig Uhland hat den Tee in seinen Gedichten besungen zum „Preise des Zärtsten, was die Erde hegt.“ Aber er scheint nur den Tee aus „Indiens mystischem Gebiete“ gekannt zu haben, und der ist lange nicht der beste. Uhlands Verse sind außerdem gar zu steif und feierlich für das gemütliche Getränk. Es harrt noch immer eines Dichters, der ihm vollkommen gerecht wird.

Man klagt allgemein über das schlechte Essen im Hotel Dalny. Mehrere von den jüngeren, unverheirateten Kaufleuten, die dort wohnen, haben sich infolgedessen zu einem Privatmittagstisch zusammengetan. Dabei ereignete sich vor kurzem eine groteske Szene. Der Vorsitzende der Tafelrunde hatte sich einen jungen Bären angeschafft, der anfänglich zur Unterhaltung seiner Freunde mancherlei beitrug. Allmählich fing er jedoch an, ungebärdig zu werden und tolle Streiche zu machen. Eines Tages kam er, während das Essen gerade ausgetragen wurde, ins Zimmer, setzte sich auf einen leerstehenden
Stuhl, griff mit der einen Pranke nach der Butter, mit der andern nach dem Kalbsbraten und raste mit seiner Beute wie toll im Zimmer umher. Als man ihm für seine Ungezogenheit eine Portion Prügel versetzen wollte, kletterte er aufs Dach und war den ganzen Tag nicht wieder herunterzubekommen. Das gelang erst, als man ihm mit einem Wasserschlauch eine gehörige Dusche versetzte.

Zu uns gesellt sich ein blondhaariger, untersetzter Mann mit struppig herabhängendem Schnurrbart und bietet uns im unverfälschten Hamburger Dialekt einen „Guten Abend!“ Man merkt ihm an der Farbe des Gesichts an, dass Wind und Wetter ihm tüchtig um die Ohren gesaust sind, und erkennt an seinem sich wiegenden Gang den alten Seefahrer. Die Vermutung bestätigt sich, denn es ist der Leiter einer großen Walfischstation an der sibirischen Küste, in dem ich bei dieser Gelegenheit eine angenehme Bekanntschaft mache.

Herr Sommermeyer gehört der Fischereigesellschaft an, die sich unter der Leitung des Grafen Heinrich Keyserling gebildet hat und nicht nur auf dem Meer ihre Expeditionen veranstaltet, sondern auch den Fang von Süßwasserfischen, vor allem von Lachsen im Amur betreibt. Zwei Schiffe dieser Gesellschaft liegen im Hafen von Dalny und sollen morgen in See stechen, um einen neuen Jagdzug auf Wale zu unternehmen. Der Mann mit dem offenen, vertrauenerweckenden Aussehen hat die Station in Gaidamak unter sich und verrät sich bald als ein ebenso schlichter wie anschaulicher Erzähler. Er kommt auf den Fang der Wale und ihre Verwertung zu verschiedenen Zwecken zu sprechen. Ich konnte bei der ersten Nordlandfahrt der „Augusta Viktoria“ im Sommer 1894 einen Einblick in die Art und Weise tun, wie an der norwegischen Küste die Riesen des Meeres getötet und verarbeitet werden.

Nach diesem Vorbild richten sich auch die Expeditionen an der sibirischen Küste, die vorläufig allerdings noch kein so großes Resultat ergeben wie dort, aber immerhin einen beachtenswerten Ertrag liefern. Man spricht von etwa dreitausend Walen, die in dieser Gegend jährlich erbeutet werden. Die Vorrichtungen sind derartig getroffen, dass die Wale von dem Fänger harpuniert und an Ort und Stelle auf dem Meer von der Besatzung des Begleitschiffes fertig verarbeitet werden. Das Fleisch wird zerschnitten und gesotten, der gewonnene Tran zu allerlei Fetten verarbeitet. Die Knochen werden zermahlen und als Düngemittel verwendet. Herr Sommermeyer erzählt, wie seine Arbeiter an den bereits verwundeten und ermüdeten Wal aus leichten Booten heranrudern und ihm dort, wo Herz und Lunge sitzen, eine Lanze tief ins Fleisch bohren und sie darin mit beiden Händen so lange herumdrehen, bis das Tier sich verblutet. Das Unglück des Wals ist zunächst seine unverbesserliche Neugierde, die ihn in die Nähe der Menschen treibt, wenn er irgendwo ein Schiff erblickt. Sein zweiter Fehler ist seine täppische Gutmütigkeit, die ihn verhindert, sich gegen seine Peiniger zu wehren, während er doch imstande wäre, gleich ein halbes Dutzend von diesen kleinen Kähnen mit einem Schlage zum Kentern zu bringen.

Wir sprechen noch mancherlei darüber, dass getrocknetes Walfischfleisch von den Japanern gegessen wird und gar nicht übel schmecken soll. Gesegnete Mahlzeit!

Die Verbindungsbahn zwischen dem Hafen und der Eisenbahnstation von Dalny besteht vorläufig aus gewöhnlichen Wagen dritter Klasse und bietet keinerlei Annehmlichkeiten. Man vermisst sie aber auch nicht, da die ganze Fahrt nicht länger als eine halbe Stunde dauert. Nachdem der Zug auf der Station eingelaufen ist, übergeben wir unser Gepäck den Beamten, die sie in einem Schuppen verschließen. Wir können nun bis zum Abend tun und lassen, was wir wollen. Die Straßen der Stadt liegen wieder ruhig vor uns, als ob alle Bewohner darin schlafen. Der alte Portier im Hotel Dalny zieht die Mütze von seinem kahlen Schädel und freut sich, dass wir mit heilen Knochen zurückgekehrt sind. Dann erscheinen die ersten Frühstücksgäste. Es sind dieselben Gesichter, die wir schon vor vierzehn Tagen an dieser Stelle erblickt haben.

Neben dem Hotel hat ein Wiener Friseur einen dickbäuchigen, russischen Offizier unter der Schere und versichert mir, dass er in fünf Minuten zur Verfügung stehen werde. Aber es dauert über zwanzig Minuten, bis der Vaterlandsverteidiger, dem Kopf und Bart angemessen gestutzt sind, sich mit schweren Tritten wieder entfernt. Als ich seinen Platz einnehmen will, finde ich ihn bereits wieder besetzt. Ärgerlich gehe ich von dannen und werde von einem japanischen Friseur, der nur wenige Schritte davon auf Kunden lauert, in sein Geschäft gelockt. Der Mann ist in seiner Art ein Künstler und entwickelt eine ruhige, geräuschlose Geschäftigkeit, die etwas geradezu Erquickendes hat nach dem aufdringlichen Getue seines Wiener Kollegen.

Die deutschen Kaufleute sind in großer Erregung, denn die politische Atmosphäre erscheint ihnen äußerst gespannt. Sie reden von nichts anderem als der Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen Russland und Japan.

Sie meinen, es könne sich nur um wenige Wochen handeln, bis die Bombe zum Platzen kommen müsste. Neulich sei der Korrespondent der „Times“, Morrisson, in Dalny gewesen und habe sich ganz in demselben Sinne geäußert. Da gilt es auf dem Posten zu sein und sich die Abschlüsse für die Lieferungen, bei denen ein gutes Stück Geld verdient werden könne, zu sichern.

Abends um neun Uhr stelle ich mich rechtzeitig auf der Station ein, um mir mein Coupé auszusuchen. Auf dem Platz vor der Treppe, die zum Gleise hinunterführt, brennt ein einsames, elektrisches Licht. Auch unten auf der Station ist niemand zu sehen. Wieder dieselbe Enttäuschung wegen des Endpunktes der sibirischen Bahn wie bei der Ankunft. Zwischen den Schuppen gehen einzelne Bahnarbeiter im Dunkeln hin und her. Wo steht denn der Luxuszug, der uns nach dem Baikalsee zurückbringen soll? Er muss „sogleich“ kommen. „Sfjeitschaß!“ Wir kennen die Bedeutung dieses Wortes zur Genüge und rüsten uns mit Geduld.

Wir haben nichts Ordentliches zu Mittag gegessen, weil man uns sagte, wir sollten unsere Mahlzeit lieber etwas später im Zuge selbst einnehmen. Endlich kommt etwas Dunkles herangerollt. Aber diese Waggons, in denen nirgends ein Licht brennt, können doch unmöglich unserm Luxuszuge angehören! Sie sind auch offenbar älteren Ursprungs und gleichen in keiner Weise dem prächtigen Mandschureizuge, von dessen Einrichtungen alle Welt mit Recht entzückt war.

Noch sind die Motoren, welche die Beleuchtung für die Coupés liefern, nicht in Tätigkeit, und da wir durchaus unsere Plätze belegen wollen, muss der Kondukteur auf dem Gang ein paar Stearinkerzen anzünden, damit wir uns zurechtfinden.

Einer unserer Freunde aus dem „Jachtklub“ stellt sich auf der Station mit Briefen ein, die er einem der Mitreisenden anvertraut. Er erklärt uns, dass wir mit diesem Zug Pech haben, denn er sei der einzige auf der ganzen Mandschureistrecke, der den modernen Anforderungen nicht entspricht, und werde nur zur Aushilfe einmal im Monat eingestellt. Der amerikanische General, der wie ein Löwe zwischen den Schuppen und Gleisen ärgerlich brummend auf und abgegangen war, erklärt, dass er mit einem solchen Zuge überhaupt nicht weiterfahren wolle, und verlangt, dass man ihm einen richtigen Salonwagen, wie er zu den Luxuszügen gehört, einstelle. Es koste was es wolle! Aber der Stationsvorsteher sucht ihm in gebrochenem Englisch auseinander zusetzen, dass er ihm das Gewünschte um keinen Preis zur Verfügung stellen könne.

So wollen wir uns wenigstens in den Speisewagen setzen und beim Essen und Trinken unseren Verdruss vergessen. Dort empfängt uns aber eine unangenehme muffige Atmosphäre. Wir reißen die Fenster auf. Dann rufen wir durch einen Druck auf den elektrischen Knopf den Kellner herbei, der eben erst selbst eingetroffen zu sein scheint und uns die Speisekarte vorlegt. Aber der Appetit vergeht uns schnell wieder, denn neben dem Tisch liegt ein großes Stück Fliegenpapier, auf dem sich Hunderte der armen geflügelten Opfer zu Tode gequält haben Wir verlangen, dass der Wisch erst zum Fenster hinausgeworfen werde, bis wir zu Messer und Gabel greifen. Das geschieht denn auch mit einigen Entschuldigungsworten. Inzwischen blitzen die elektrischen Lichter in den Coupés auf, und wir erkennen, dass wir doch etwas besser untergebracht sind, als es uns im ersten Augenblick scheinen wollte. Die Einrichtung des Zuges steht allerdings nicht auf der Höhe, bietet aber doch bequeme Schlafgelegenheit, und auch im Übrigen entsprechen die Einrichtungen ungefähr den Waggons erster Klasse, wie sie sonst auf den größeren Strecken Russlands laufen. Außerdem ist der Zugführer, ein Balte, sehr gefällig und erfüllt uns, soweit es sich mit seinem Dienst vereinigen lässt, jeden Wunsch. Nachdem der Magen zu seinem Rechte gekommen ist, stellt sich auch die gute Laune wieder ein. Unsere Freunde drücken uns herzlich die Hand und tragen uns viele Grüße für die Heimat auf, während die Lokomotive pfeift und der Zug sich in Bewegung setzt.

19. August. Wir erreichen am Morgen Dafchizjao und bekommen neue Fahrgäste aus Peking, darunter vier französische Offiziere, die seit dem Ausbruch der chinesischen Wirren der dortigen Besatzung angehört hatten und sich nun wieder nach dem Leben in der Pariser Garnison zurücksehnen. Es sind liebenswürdige, redselige Leute, die viel erfahren und gesehen haben. Nach preußischen Begriffen lassen sie sich allerdings in der Kleidung und der ganzen Haltung viel zu sehr gehen, so dass man sie ohne Uniform für gewandte Commis voyageurs halten könnte. Sie schwärmen von Moskau und dem Kreml, von Petersburg und der Isaakskirche. Natürlich wollen sie zur Verhütung patriotischer Beklemmungen nicht über Berlin—Köln sondern von Warschau über Wien—Straßburg in die Heimat zurückkehren.

Zu ihnen gesellt sich ein riesengroßer, russischer Offizier, der mit seinem kleinen chinesischen Burschen mich immer an Falstaff mit seinem Pagen erinnerte. Dieser Offizier zeichnete sich durch einen Appetit aus, wie ich ihn noch bei keinem menschlichen Wesen beobachtet habe. Nicht genug, dass er bei unseren regelmäßigen Mahlzeiten im Speisewagen einen wirklichen Bärenhunger entwickelte, vertilgte er auch auf jeder Station alles nur irgendwie Essbare an Suppen, Gemüsen, gebratenen und gebackenen Speisen. Außerdem hatte er zum Schrecken seines Mitreisenden die Gewohnheit, dass er nicht nur am Tage, sondern auch in der Nacht bis zwei und drei Uhr unaufhörlich Zigaretten rauchte und von einer so dicken Luft umhüllt war, dass man sie höchstens mit einem Säbel hätte durchhauen können.

Sein Bursche hatte schon etwas von russischer Militärerziehung angenommen und wurde trotz seiner winzigen Figur zu einem wahren Schrecken für die Kulis, die sich zu nahe an unseren Zug drängten oder den Bengel gar zum Besten halten wollten. Einmal hieb er mit seinen Fäusten gleich auf drei dieser braunen halbnackten Burschen ein, die nicht im Geringsten daran dachten, sich zu wehren, sondern lieber schleunigst die Flucht ergriffen. Eine sehr angenehme Bekanntschaft mache ich in der Person des Kommerzienrats François Hopp, des Inhabers des bekannten optischen Instituts von Calderoni u. Co. in Budapest, der zum dritten Mal eine Reise um die Erde gemacht hatte und ebenfalls aus Peking eingetroffen war. Bei der Überfahrt von Hamburg nach Amerika hatte er auf dem schönen Dampfer „Deutschland“ seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Ich verdanke ihm eine Anzahl trefflicher Ansichten der sibirischen Bahn für mein Buch.

Er erzählte von einem drolligen Erlebnis, das er in Peking hatte, wobei es ihm gelang, einem Kutscher auf sonderbare Weise das Leben zu retten. Das geschah in einer der schmutzigen Straßen der chinesischen Residenz, wo in der Mitte eine schmale Fahrstraße aufgeschüttet war, während der Weg für die Fußgänger sich zu beiden Seiten in einer Vertiefung hinzog, in der sich verschiedene große Löcher gebildet hatten. In eine dieser Öffnungen, die der herniederströmende Regen ausgefüllt hatte, war ein Kutscher samt Pferd und Wagen hineingestürzt und hätte ohne die Hilfe des alten Herrn wahrscheinlich sein Leben eingebüßt.

20. August. Soeben lese ich in den russischen Zeitungen, dass Admiral Alexejew zum Generalgouverneur der Mandschurei ernannt und mit außerordentlichen Vollmachten ausgerüstet sei. Darin erblicken unsere mitreisenden Russen einen untrüglichen Beweis dafür, dass die Dinge in Ostasien sich immer mehr zuspitzen, dass es in kurzer Zeit notwendig zu einem Zusammenstoß kommen werde.

Am Abend schleicht sich ein unheimlich aussehender Bursche in unsern Speisewagen, tritt an die französischen Offiziere heran, die Karten spielen und bittet im Namen der russischfranzösischen Allianz um eine kleine Unterstützung. Er wird möglichst schnell an die Luft gesetzt und sucht in dem Zuge nach einem Dummen, der ihm zum Opfer fallen könnte.

Eine Haltestelle in der Mandschurei.
Charbin. Bahnhof.

Ich hatte gerade in dem schönen Buch von Legras „Au pays russe“ gelesen und war dabei auf eine Stelle gestoßen, an welcher dieser genaue und vorurteilslose Kenner des Slawentums sich in scharfen Worten über das Wesen dieser sogenannten Allianz äußert. Legras, gegenwärtig Professor an der Universität in Dijon, war während des Cholerajahres 1891 nach Russland gekommen, wo er sich in einem kleinen Dorf niederließ, um russisch zu lernen. Er schildert seine Eindrücke in Petersburg, Moskau, Archangel und in andern Städten mit treffender Beobachtung und beklagt dabei das geringe Verständnis, das die Russen für die Franzosen an den Tag legen. Legras ist unglücklich darüber, dass die Söhne der Steppe seinen Landsleuten den Familiensinn und die Religion absprechen, dass sie sich, wenn sie nach Paris kommen, auf den Besuch der Theater und Restaurants, die Kenntnis der Museen und Moderomane beschränken. Dann fährt der Verfasser auf Seite 310 des 1900 in zweiter Auflage erschienenen Werkes bedeutungsvoll fort: „Niemals werden die französisch-russischen Umarmungen das russische Volk dem französischen ernstlich näherbringen. Um eine wirkliche Vereinigung zu erreichen, müsste man den Russen eine bessere Meinung von uns beibringen. Anstatt sie durch Feste zu verblüffen und sie mit Geschenken zu überhäufen, müsste man ihnen bescheiden, ohne Aufsehen unsere Familien öffnen. Sie würden dann sehen, was Frankreich im Durchschnitt ist, das Frankreich, das liebt, das arbeitet und das die Modeschriftsteller nicht kennt. Sie würden sehen, was unsere Frauen sind, sie würden ihre bescheidene Hingabe, ihren Mut bei der Arbeit, ihre Treue sehen!“

Aus diesen außerordentlich richtigen Bemerkungen spricht gleichzeitig etwas Anderes. Die Franzosen fühlen allmählich, was für jeden ruhig Denkenden von vornherein klar war, dass sie mit ihrem aufdringlichen Liebeswerben den Kürzeren gezogen haben und mit ihren Revanchegelüsten arg an der Nase geführt worden sind.

Ein herkulisch gebauter Russe, der sich im Coupé neben mir befand und auf seinem Tisch immer einen Revolver liegen hatte, verlässt den Zug in Charbin.

Ich benutze die Gelegenheit, der neu begründeten Stadt einen Besuch zu machen. Sie wirkt beim ersten Anblick wie eine riesige Baustelle mit vielleicht zweihundert halb oder ganz fertigen massiven Häusern, in deren Mitte eine Kirche steht. Zu Fuß ist es auf den ungepflasterten Straßen, selbst bei schönem Wetter, kaum möglich, vorwärts zu kommen, denn aus den lockeren, tief ausgefahrenen Wagenspuren wirbeln, sobald sich nur ein Lüftchen erhebt, unerträgliche Staubwolken auf, und bei Regengüssen muss sich diese lockere Erdmasse in einen unergründlichen Sumpf verwandeln. Überall, wohin man sich wendet, spürt man den Geruch von frischem Mörtel und den Staub von Neubauten. Es bedarf keiner geringen Vorsicht, wenn man über die Straße schreiten will, und verlässt man das Gebiet der eigentlichen Stadt, so gerät man in ein Gewirr von ausgestochenen Gräben, Holzplätzen, Brückenanlagen und Fabriken hinein. Inmitten dieser rohen Anfänge gibt es aber bereits Klubs für die Beamten, ein Theater und allerlei sonstige Vergnügungen, zum Teil recht zweifelhaften Charakters. In der neuesten Nummer des in Wladiwostok erscheinenden „Wostotschnij Wjestnik“ (Östlicher Bote) lese ich die Ernennung Alexejews zum Generalgouverneur der Mandschurei, der darin in einem überschwänglichen Artikel gefeiert wird. Der übrige Inhalt des Blattes, das sich „Zeitung für Gesellschaft und Literatur“ nennt, konnte mich mit seinen Nachrichten über Prügeleien und Messeraffären zwischen Matrosen am Ufer des Stillen Ozeans nur wenig interessieren.

21. August. Aus dem Chingangebirge, wo der Zug in drei Kehren hinaufsteigt, versuchen mehrere Passagiere, den kürzeren Weg zu Fuß zu machen, während die Lokomotive sich mit den Wagen auf einem längeren zur nächsten Station hinaufarbeitet. Der Zugführer hatte unsern Reisenden gesagt, dass sie nur fünf Minuten dazu brauchen und den Zug, der zwanzig Minuten fährt, in jedem Fall rechtzeitig erreichen würden. Unsere Passagiere kommen allerdings in letzter Minute wieder an, aber leichenblass vor Aufregung, denn sie wären beinahe in einen Sumpf stecken geblieben. Der eine hatte seinen Spazierstock, der andere einen seiner Stiefel eingebüßt.

Die Waggons des alten Transbaikalzuges, in dem wir fahren, gefallen uns doch nicht. An dem elektrischen Licht über der Verbindungstür zum nächsten Coupé ist die Glasbirne gebrochen. Die Hängelampe gibt einen so matten, trübseligen Schein, dass es unmöglich ist, dabei zu lesen. Sie versagt endlich ganz, und wir sitzen alle im Dunkeln.

Wir lassen uns Kerzen bringen und trösten uns über dies Ungemach, so gut es gehen will. Unter dem Waggon beginnen die Arbeiter an den elektrischen Akkumulatoren, die versagt haben, herumzuwirtschaften, bringen die Sache aber nicht mehr in Ordnung. Auf unsere Vorstellungen bekommen wir die naive Antwort: „Was schadet es! In der Nacht schlafen die Passagiere!“ Auf dem Jablonnowijgebirge beginnt die Temperatur, nachdem wir den Tunnel durchfahren haben, plötzlich zu sinken. Wir müssen dafür sorgen dass alle Fenster und Türen geschlossen sind, weil wir es vor Kälte sonst nicht aushalten können. Das Thermometer zeigt am Morgen im Freien nur vier Grad. Natürlich erwarten wir, dass der Zug geheizt werde — am 21. August! Aber der Zugführer entschuldigt sich und erklärt, dass er erst vom ersten September russischen, also vom vierzehnten unseres Stils ab dazu die Erlaubnis geben dürfe.

Um uns zu entschädigen, hat die elektrische Tischlampe im Coupé ihre Meinung geändert und umgibt mein Gemach mit holdem Dämmerschein. Ich entkleide mich und suche meine Lagerstätte auf, als mein Kondukteur mit einer brennenden Kerze eintritt. Ich frage ihn, wozu? Da erklärt er, dass das elektrische Licht gleich wieder ausgehen werde, weil die Akkumulatoren auf die Dauer nicht in Ordnung zu bringen seien.

Es geschieht auch alles pünktlich, wie der Mann es verheißen hat. Draußen heult der Wind schrecklich, und die schlecht verkoppelten oder nicht geschmierten Puffer machen bei jedem Einlaufen in die Station einen gräulichen Lärm.

22. August. Heute früh sind wir wieder in Mandschuria, wo eine Zollrevision stattfindet, die erste, die wir seit Wirballen zu erdulden hatten. Sie wird übrigens sehr schnell und rücksichtsvoll ausgeführt.

In unserer Bibliothek finde ich die kleine Schrift von Kate Marsden: „On sledge and horseback to outcast sibirian Lepers. London. The record press. Limited“. Die Verfasserin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Leprastätten in Jakutsk zu besuchen, und dies Ziel unter schwierigen Umständen, die sie anschaulich schildert, erreicht. Erleichtert wurde ihr der Verlauf ihrer Studienreise dadurch, dass sie sowohl vom russischen wie vom englischen Hof mit wirksamen Empfehlungen an die Beamten in Sibirien ausgerüstet war, die ihr infolgedessen alle nur möglichen Erleichterungen verschafften. Es gelang der Verfasserin, eine Bewegung ins Leben zu rufen, welche die Begründung eines Heims für die am Aussatz Erkrankten verfolgte.

Kate Marsden zeigte sich bei ihrer Expedition, die sie bald mit einem Boot, bald im Schlitten und zu Pferd ausführte, als eine unternehmende Dame, und in ihrer Schrift gibt sie die Eindrücke, die sie bei ihrer Reise empfangen hat, oft in enthusiastischen Ausdrücken wieder. Interessant ist vor allem die Stelle Seite 159, wo sie folgende bemerkenswerten Schlussfolgerungen zieht: „Sibirien ist zweifellos eines der reichsten Länder der Welt, aber sein unsagbarer Besitz liegt in der Erde fast unberührt. Wenn englischer oder amerikanischer Unternehmungsgeist sich einführen ließe, würde Sibirien buchstäblich auf den Kopf gestellt werden, und die reichen Erzadern müssten ans Licht kommen. Dann würden die blühenden Tage von Gold und Silber wie die von Milch und Honig kommen.“

Ich werde schlecht dafür belohnt, dass ich meine Mitreisenden auf die Vorzüge der russischen Weine aus der Krim und dem Kaukasus aufmerksam mache. Sie bestellen sich nun alle die kräftigen, edlen, dunkelrot funkelnden Tropfen aus den kaiserlichen Domänen Oreanda und Massandra sowie den kräftigen „Kachetinskij“ aus dem Lande des Prometheus und der Medea, jene erquickende Gottesgabe, die Bodenstedt in den Liedern des Mirza Schaffy in Versen und Anton Rubinstein in Tönen verherrlicht haben. Ich summte die schöne Melodie des unvergesslichen Meisters: „Rot funkelt im Glas der kachetische Wein“ noch gestern arglos hin.

Aber heute vergeht mir schon die Lust dazu, denn der Kellner erklärt mir, dass meine Lieblingsmarken wegen der starken Nachfrage ausgegangen seien. Es waren nur noch zwei Sorten übriggeblieben, die doppelt und dreifach so teuer waren, als Tischgetränk viel zu feurig und mir überhaupt nicht so gut schmeckten wie die früheren. Ebenso erging es mir mit der köstlich erquickenden Limonade, die aus den roten, überall in Russland verbreiteten Moosbeeren hergestellt wird. Sie sprießen sogar im Winter unter dem Schnee aus der Erde hervor. Die erste dickbäuchige Flasche mit diesem „Chlukwannij Kwas“, die auf den Tisch kam, erregte bei meinen Reisegenossen geradezu Sensation wegen des lieblichen und kühlenden Fruchtgeschmacks und der aus den Gläsern frei aufsteigenden Kohlensäure. Im Handumdrehen wurden zehn oder zwölf Flaschen davon getrunken, und als ich heute eine davon bestellen will, erklärt mir der Kellner, dass der mitgenommene Vorrat vergriffen sei. Fortan müssen wir sehen, wie wir uns dies Labsal auf den Stationen verschaffen können. Dem Kellner liegt offenbar wenig daran, es selbst einzukaufen, weil er wegen seines billigen Preises daran nur wenig verdienen kann.

23. August. Wir wachen ganz früh auf von dem unangenehmen Gefühl der Kälte, die uns durch den ganzen Körper läuft. Es ist im Zuge und draußen so kalt, wie es nur an einem frischen Herbsttag sein kann. Wir lesen auf dem Thermometer außerhalb des Fensters nur 4 Grad ab, während wir im Coups 8 haben, also in jedem Fall zu wenig für unser Wohlbefinden. Wir lassen die Doppelfenster in die Höhe ziehen und verlangen zum zwanzigsten Mal, dass die Türen auf dem Gang nicht immer offenbleiben möchten. Wir verlangen dringend, dass der Zug geheizt werde, und weisen auf die Kondukteure eines anderen Zuges hin, die bereits ihre schweren Pelze angezogen haben. Wir raffen alles zusammen, was wir an warmen Sachen mitgebracht haben. Jemand rühmt sich sogar, dass er drei Inexprefsibles übereinander angezogen habe. Aus dem Nebencoupé, wo der amerikanische General und sein holdes Töchterchen mit ihrer Toilette noch nicht fertig sind, ertönt ein Duett des Niesens, wobei der Sopran des Fräuleins sich dem Bass des alten Herrn liebevoll anschmiegt. Der Zugführer teilt uns mit, dass er nach Irkutsk telegraphiert und um die Erlaubnis gebeten habe, trotz der Vorschrift die Passagiere durch Einheizen aus ihrem erstarrten Zustande zu befreien. Nach drei Stunden trifft die Genehmigung ein, das brennende Holz knallt in den Ofen, und wir sind gerettet.

In der Nacht ist ein Passagier eingestiegen, der mit landwirtschaftlichen Maschinen handelt. Er erzählte sehr interessant von der jüngsten Streikbewegung in Odessa, der er beigewohnt habe. Zuerst hätten die Angestellten der Pferdebahn den Dienst eingestellt. Dann seien die Bäcker diesem Beispiel gefolgt. Man konnte in ganz Odessa kein Stück Brot kaufen, sondern musste es sich selbst backen. Tausende von Arbeitern setzten sich auf die Schienen der Eisenbahn und verhinderten das Abgehen der Züge. Der Streik war genau nach deutschen Vorbildern arrangiert worden. Die Streikenden gingen in großen Trupps durch die Straßen, bewegten sich aber auf dem Fahrweg, um nicht die Passage zu versperren und der Polizei Veranlassung zum Einschreiten zu geben.

24. August. Wir erreichen den Baikalsee und fahren an dessen Ufer nach Missowaja, wo uns der kleinere Dampfer und Eisbrecher, die „Angara“, erwartet. Der Kapitän ist ein gefälliger, unterrichteter Mann, der als Balte vortrefflich deutsch spricht. Er klagt über seine russischen Matrosen und meint, es sei mit ihnen unmöglich, das Schiff so sauber zu halten, wie er es verlange. Wenn er ihnen wegen ihrer Nachlässigkeit Vorwürfe macht, antworten sie ihm ganz unbefangen: „Es wird ja doch wieder schmutzig.“

Das Panorama des Baikalsees hat sich in den vier Wochen seit unserer Hinfahrt vollständig verändert. Vor zwei Tagen war bereits Schnee gefallen, und die umliegenden Hütten schimmerten uns auf weiten Strecken weiß entgegen. Eine graue, allerdings vielfach nuancierte Farbe bedeckte den Himmel und den See, den wir bei der Hinfahrt so klar, leuchtend und farbig gefunden hatten. Nun war es hier bereits Herbst geworden. Je näher wir mit dem Schiff der anderen Seite des Ufers kamen, desto mehr traten die schneebedeckten Bergspitzen von allen Seiten hervor.

25. August. Ein originelles Erlebnis im Speisewagen! Unser amerikanischer General lässt sich eine Büchse Kaviar öffnen, versucht den Inhalt, macht ein zufriedenes Gesicht und bietet zuerst seiner Tochter und dann mir etwas zu kosten an. Als ich abends meine Rechnung mache, finde ich einen Posten von fünfundzwanzig Kopeken und dazu in undeutlicher Schrift die Bemerkung „Pribor“, d. h. „Gedeck“. Für Serviette, Messer und Gabel sowie sonstige Zubehör bei Tisch war aber bisher niemals etwas berechnet worden, und ich drücke meine Verwunderung, dass es nun plötzlich geschehen sei, aus. Ich vermute, dass der dienstbare Geist sich einfach, und selbstverständlich nicht zu seinem Schaden, verrechnet habe. Aber er bleibt dabei, dass es mit dem Viertel Rubel auf meiner Rechnung, den ich mir nicht zu erklären weiß, wegen des Kaviars seine richtige Bewandtnis habe. Ich erwiderte darauf, dass mich ja der amerikanische General dazu eingeladen habe und dafür selbstverständlich auch bezahlen werde. Das tue nichts, erwidert mir der Kellner. Die Büchse Kaviar sei nicht im Speisewagen, sondern auf der Station gekauft, und deshalb müsse jeder, der sich daran beteilige, seinen „Pribor“ entrichten.

Ich fand diese Anschauung so wunderlich, dass ich den Zugführer um eine Aufklärung darüber bat, und dieser gab dem Kellner recht. Es sei nun einmal so in Russland oder wenigstens im sibirischen Luxuszuge. Ich verbeugte mich hierauf vor dem Bilde des Selbstherrschers aller Reußen und des Verkehrsministers Fürsten Chilkow und legte die fünfundzwanzig Kopeken auf den Tisch. Mein armes Gehirn ist aber bis zur heutigen Stunde nicht imstande gewesen, den Sinn zu erfassen, der dieser Anschauung zugrunde liegt. Übrigens scheint unser General ein geschworener Feind der russischen Sprache zu sein. Heute, am achten Tage nach der Abfahrt von Dalny weiß er noch immer nicht, wie er sich dem Kellner verständlich machen soll, wenn er Tee haben will. „What is tea in russian?“ fragt er, und von sechs Seiten tönt ihm schallend der Ruf „Tschai!“ entgegen.

26. August. Der Zugführer hat in Russland eine viel einflussreichere Stellung als in Deutschland. Er ist der Schutzengel aller Passagiere oder sollte es wenigstens sein. Bei längeren Fahrten, wie in Sibirien, gibt man ihm gleich bei Beginn der Reise das Billett zur Verwahrung und erhält darüber eine Quittung. Das ist von der Verwaltung sehr vernünftig eingerichtet, weil man auf diese Weise in der Nacht, falls ein höherer Beamter zur Kontrolle kommen sollte, nicht aus dem Schlaf geweckt zu werden braucht. Der Zugführer entscheidet in allen Fragen, die das Wohl und Wehe der Fahrgäste betreffen. Einzelne schließen mit ihm nähere Bekanntschaft und begrüßen sich alsbald mit einem Händedruck. Er verwaltet die Bibliothek, die sich im Zug befindet, und nimmt an den Mahlzeiten im Speisewagen teil. In dem Zuge der internationalen Schlafwagengesellschaft, der von Moskau nach Irkutsk fährt, zeigte er sich von einer löblichen Zurückhaltung. In den russischen Zügen bildete sich aber ein mehr patriarchalisches Verhältnis aus, das merkwürdig absticht von dem strammen Dienst auf europäischen Bahnen. Dabei kann es in Russland Vorkommen, dass der Zugführer mit einem Kreis von näheren Bekannten gerade die besten Plätze im Speisewagen einnimmt, und die übrigen warten müssen, bis sie frei werden. Auf der Rückfahrt von Irkutsk nach Moskau ging der Zugführer mit einer Frau und einem kleinen Kind auf den Stationen gemütlich spazieren, als ob er von uns allen der fremdeste Passagier wäre.

27. August. Heute ist viel von dem Ingenieur Alexander Jugowitsch die Rede, dem die Ausführung der Bahn durch die Mandschurei anvertraut war. Er wurde in Odessa geboren, verlor frühzeitig seine Eltern und genoss seine Erziehung in London. Dann wurde er von der Rjäsan-Gesellschaft engagiert und erbaute in ihrem Auftrag eine Reihe von Eisenbahnen, bis ihm der Auftrag zuteilwurde, den Schienenstrang von der russischen Grenze durch chinesisches Gebiet bis nach Dalny zu legen. Er ist ein klar und ruhig denkender Kopf, eine bedeutende Arbeitskraft, ein Mann von gesundem Menschenverstand und beherrscht, obwohl er die Engländer nicht leiden kann, ihre Sprache vollkommen.

28. August. Die Nähe Europas macht sich wieder bemerkbar. Wir bekommen den Pariser „Figaro“ vom sechzehnten, Berliner und Wiener Blätter vom achtzehnten August auf den Stationen zu kaufen und erfahren dadurch, dass die Humbertaffäre mit der Verurteilung der Angeklagten endlich aus der Welt geschafft worden sei.

Abends begegnen wir auf einer kleinen Station wieder einem Militärzug nach der Mandschurei. In einem Wagen wird eine große Ziehharmonika gespielt, und zwar wunderschön. Wir lauschen gespannt den melancholisch hinschmelzenden Tönen. Dann folgt das allbekannte russische Tanzlied „Kamarinskaja“, das die Soldaten geradezu elektrisiert. Einige beginnen im Freien zu hüpfen, und der kleine chinesische Diener des russischen Offiziers gebärdet sich wie toll, indem er auf der Plattform unseres Zuges mit Armen und Beinen um sich schlägt.

29. August. Wir vermissen sehr die liebliche Begleitung der Steinbreche in der früheren Pracht, die uns auf der Hinreise entzückte. Der Anblick dieser Blumen hat sich bereits vollständig verändert. Sie lassen ihre Blätter und Blüten traurig hängen, sehen alt und vertrocknet aus. Bald werden sie sich in eine dürre, staubige Masse verwandelt haben, die unter den Händen zerfällt.

Hingegen erfreut uns wieder der Ural mit seinem reichen Wechsel von Berg und Tal und seinen schroffen Felsen, die sich zu beiden Seiten an die Bahn herandrängen. Die Ernte verspricht ausgezeichnet zu werden. Wir fahren durch unendliche Getreidefelder, die in bester Beschaffenheit sind. Usa liegt langgestreckt auf Höhenzügen, an denen die Eisenbahn vorbeikommt. Eine Gesellschaft von Schauspielern schließt sich uns an. Der Direktor sucht mit seinem glatt rasierten Gesicht, seinem langen grauen Faltenrock und seinen hohen schwarzen Stiefeln einen möglichst würdigen Eindruck auf seine Umgebung zu machen.

30. August. Wir laufen in Samara ein. Vor der Station steht auf einem Geleise einer der hübschen, in blauer Farbe ausgeführten Aussichtswagen, die bei besonderen Gelegenheiten an die sibirischen Züge angehängt werden. Man hat in ihnen nach drei Richtungen einen freien Ausblick auf die Landschaft, die durchfahren wird. Am Ende des Waggons ist außerdem ein Leinwanddach angebracht, das man zum Schutz gegen die Sonne nieder klappen kann. Wahrscheinlich wird ein hoher Beamter zur Inspektion der Strecke erwartet.

Auf dem Nebengeleise befindet sich ein Güterwagen, der in eine Kapelle umgewandelt ist. In der Mitte ist ein Sarg aufgestellt und daneben auf einer Stange ein Muttergottesbild befestigt. Ein alter weißhaariger Pope hält mit tiefer Bassstimme die Totenfeier ab. Männer und Frauen stehen im Waggon um ihn herum und stoßen laute Totenklagen aus. Sie weinen und jammern, wischen sich die Tränen aus dem Gesicht, bekreuzigen sich und werfen sich zur Erde. Dann wird der Sarg hinausgetragen und der Gottesdienst hierauf unter freiem Himmel fortgesetzt. Die Kirchensänger treten zu einem Kreis zusammen, und die mächtigen Bassstimmen vereinigen sich mit den zarten, hellen Stimmen der Kinder zu feierlich ergreifenden Bitten und Gebeten für den Verstorbenen. Aus der Stadt sind Hunderte von Frauen, Männern und Kindern herbeigeströmt, die mit entblößtem Kopf der Totenfeier beiwohnen. Während sich unser Zug in Bewegung setzt, wird der Sarg von den Trägern aufgehoben, und das Trauergefolge setzt sich nach dem Kirchhof in Bewegung.

In Batraki, wo wir wieder die Wolgabrücke überschreiten, erblicken wir eine Strecke, wo der Fluss bereits sehr wasserarm ist und sich zwischen langgestreckten Inseln träge dahinzieht. Die Tochter des amerikanischen Generals hat beim Ordnen ihrer Garderobe ein Bündel Wäsche zusammengeschnürt und will es verschenken. Sie geht auf ein hübsches, sauber geneidetes Mädchen zu und legt es ihr lächelnd in den Schoß. Aber das Mädchen springt erschreckt auf und will davonlaufen. Sie glaubt, dass die vornehme Dame ihr ein neugeborenes Kind in den Schoß legen wolle. Es bedarf erst langer Erklärungen, bis das Geschenk angenommen wird.

31. August. Ein erfrischender Morgen. Ankunft in Tula. Zuerst machen wir bei der Vorstadt Halt. Dann gelangen wir zu der eigentlichen Stadt, die hoch gelegen ist und mit ihren vielen Kuppeln und Türmen eine gewisse Ähnlichkeit mit Moskau aufweist. Auf dem Perron bietet ein Verkäufer auf seinem Ladentisch die in ganz Russland berühmten Süßigkeiten, Pfefferkuchen und kandierten Früchte an. In dem Speisesaal werden neben dem Büfett die aus Stahl angefertigten Tulaarbeiten ausgelegt, und es beginnt ein eifriges Feilschen um die Messer und Gabeln, Zigarettenetuis und Waffen, die man hier zu sehen bekommt. Als ob man all diese Sachen nicht in viel größerer Auswahl und zu solideren Preisen in Moskau erhalten könnte! Wir denken an den Grafen L. N. Tolstoi, der nicht weit von hier, bei der Station Koslow auf seinem Gute Jasnaja Poljana lebt, und in den nächsten Tagen seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feiert. Nach seiner schweren Krankheit, die ihn zu längerem Aufenthalt in der Krim veranlasste, hat er sich wieder erfreulich erholt, und die Zeitungen sind angefüllt mit Gesprächen, die zudringliche Interviewers mit ihm geführt haben. Wieviel falsches und abgeschmacktes Zeug gelangt auf diese Weise über den großen Dichter, Philosophen und Menschenfreund in die Öffentlichkeit! Ich glaube nicht, dass dem Ansehen des Mannes dadurch genützt wird, den seine Angehörigen gegen dergleichen Zudringlichkeiten besser, als es bisher geschehen ist, schützen sollten.
Zwei Stunden vor Moskau fängt der Kondukteur an, mein Coupé aufzuräumen, und während er die Klappen, die das Bett herstellen, wieder umdreht, kommt zum ersten Mal ein schöner, rotbrauner Samtbezug zum Vorschein, den ich während der ganzen Zeit nicht erblickt habe. Der Kondukteur zeichnete sich durch seine Trägheit und Unzuverlässigkeit aus, und es geschah ihm nur recht, dass er bei der Ankunft in Moskau entlassen werden sollte. Umso komischer war es, dass er mich vertraulich beiseite nahm und mich um eine schriftliche Bestätigung der „treuen Dienste“ ersuchte, die er mir geleistet haben wollte. Wir kommen nach Zarizino mit einem von Katharina II. begonnenen Schloss, das aber unter ihrer Regierung nicht vollendet wurde, weil es mit seinen Türmen auf die Phantasie der Kaiserin den Eindruck eines von Kandelabern umstellten Sarges machte. Hierauf folgt Ljublino, ein freundlicher Villenort, der von einem Walde und den Hügeln mit einem hübschen See umgeben ist. Zur Linken erhebt sich in malerischer Lage an den Ufern der Jausa von hohen Mauern umgeben das Andronowkloster mit seinem achtzig Meter hohen Glockenturm und seinen fünf Kirchen. Das Panorama der Stadt breitet sich in prächtiger Beleuchtung vor uns aus. Während wir aus dem Coupé steigen, zeigt die Uhr des Kursk-Nowgoroder Bahnhofes genau ein Uhr zwanzig Minuten, wie es der Fahrplan verheißt.

Moskau mit dem Turm „Iwan Weliki“ (in der Mitte).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China