Die sibirische Eisenbahn im Kriege

Als im Sommer 1900 die Unruhen in China ausbrachen und die europäischen Mächte sich vereinigten, um die von Osten drohende „gelbe Gefahr“ zu bekämpfen, kam Russland zum ersten Mal in die Lage, die Bedeutung der sibirischen Bahn, soweit sie fertiggestellt war, für den Transport von Truppen zu erproben. Damals war aber nur die Strecke von Moskau bis Irkutsk für den regelmäßigen Verkehr eröffnet, und man konnte innerhalb vierundzwanzig Stunden anderthalb Züge mit Soldaten und Kriegsmaterial ablassen. Für die Fahrt über den Baikalsee stand der große Eisbrecher „Baikal“, dessen Einrichtungen wir in einem früheren Kapitel geschildert haben, zur Verfügung. Man nahm an, dass er ausreichen würde, gleichzeitig fünfundzwanzig Güterwagen und fünfzehnhundert Mann zwischen den Anlegeplätzen Baikal und Myssowaja zu befördern. Innerhalb vierundzwanzig Stunden waren zwei Hin und Rückfahrten in Aussicht genommen.

Auf beiden Stationen wurden umfangreiche Erdarbeiten vorgenommen, neue Geleise gelegt und für die Truppen beim Betreten und Verlassen des Dampfers breite Rampen geschaffen. Hierzu kamen Küchenwagen, Einrichtungen zur Verabfolgung von heißem Wasser, zum Tränken der Pferde usw. Es stellte sich aber bald heraus, dass man die Leistungsfähigkeit des Eisbrechers überschätzt hatte und dass er für die erwähnten vier Fahrten etwa dreißig Stunden brauchte. Außerdem machten sich auf dem See mehrfach so heftige Stürme bemerkbar, dass man die Überfahrten ganz und gar einstellen musste. Bedenkt man, dass für den Truppentransport unter so ungemein schwierigen Verhältnissen noch gar keine Erfahrungen zur Verfügung standen, so konnte man mit dem Resultat im allgemeinen zufrieden sein. Dabei ereignete sich allerdings Anfang September auch eine bedauerliche Katastrophe in der Nähe von Myssowaja. Mehrere Tage hindurch hatte es ununterbrochen geregnet, und der Damm war unterwaschen. Als man die Fahrt etwas beschleunigte, trat eine Entgleisung ein, bei welcher zweiundzwanzig Wagen zertrümmert wurden, während zum Glück nur elf Personen leichte Verletzungen erlitten. Von Mitte Oktober ab konnten die Wagen geheizt und die Mannschaften in geschlossenen und erwärmten Räumen gespeist werden. Damals erkannte man, dass der Wert der sibirischen Bahn für militärische Zwecke wesentlich von den Umständen abhängig ist, unter denen sich die Fahrt über den Baikalsee vollzieht. Es war unmöglich, trotz aller Berechnungen und Vorsichtsmaßregeln für diese Strecke einen bestimmten Plan innezuhalten und sich vor unangenehmen und folgenschweren Überraschungen zu schützen.


Die Schwierigkeiten, die sich im Sommer einstellten, vermehrten sich naturgemäß im Winter, und man machte alle möglichen Versuche, ihrer Herr zu werden. Man kam sogar auf den Gedanken, die Schienen unmittelbar auf das Eis des Sees zu legen und die Züge darüber Hinwegrollen zu lassen, wie man es mit den Wagen der elektrischen Bahn während der kalten Jahreszeit in St. Petersburg auf dem Eis der Newa regelmäßig mit Erfolg tut. Für den Baikalsee erwies sich dies Experiment aber als äußerst gefährlich, und man kam davon bald wieder ab. Man musste aus strategischen Gründen unbedingt daran denken, den Bau einer Bahn um den See zu unternehmen, um für alle Fälle bei den Truppenbewegungen sicher zu gehen. So stand die Angelegenheit nach dem Bericht des „Wojenni Ssbornik“ im Sommer des Jahres 1901. Die Möglichkeit, größere Truppenmassen schnell und sicher nach dem fernen Osten gelangen zu lassen, wird binnen kurzem von der sibirischen Bahn vollkommen gelöst worden sein. Die Mängel, die sich dabei in der ersten Zeit einstellten, werden immer mehr verschwinden, so dass an der Brauchbarkeit des Unternehmens für diese Zwecke in keiner Weise gezweifelt werden kann. Es fehlt uns für diese Annahme auch nicht an einer offiziellen Bestätigung.

Über den Transport zweier Infanteriebrigaden mit Artillerie aus dem europäischen Russland nach Transbaikalien brachte das „Militär-Wochenblatt“ in Nr. 83 des Jahres 1903 folgende nähere Angaben:

„Teils zur Erprobung der Leistungsfähigkeit der sibirischen Bahn, teils aus Ausbildungsgründen bzw. zu andern nicht bekannt gewordenen Zwecken sind in diesem Sommer zwei Infanteriebrigaden mit je einer Artillerieabteilung per Eisenbahn aus ihren Garnisonen nach Transbaikalien im Militärbezirk Amur befördert worden. Es sind die zweite Brigade der 31. Infanteriedivision, Garnison der Regimenter in Kursk und Charkow, und der 36. Infanteriedivision, Garnison der Regimenter Jegorjewsk und Skopin. Diese auf Friedensfuß ausgerüsteten Truppen sollen im Verein mit den in Transbaikalien stehenden ein Lager bei Tschita beziehen, an den dortigen Sommerübungen teilnehmen und im Oktober zurückbefördert werden.

„Nähere Nachrichten sind über den Aufbruch der zweiten Brigade der 35. Division vorhanden. Danach erhielt die im Lager bei Rjäfan übende Brigade am 29. Mai a. St. den Befehl, sich für den Transport bereit zu halten. Nach zwei Tagen rückten die Regimenter zunächst zu weiterer Ausrüstung per Eisenbahn in ihre Garnisonen Jegorjewsk und Skopin ab, wo sie am 2 /15. und 3./16. Juni eintrafen. Am 11/24. Juni begann der Transport nach Transbaikalien, jedes Regiment in vier Echelons. Die ganze Brigade wurde innerhalb acht Tage instradiert, worauf die Echelons der Artillerie folgten.

„Obwohl nur ein Teil der Ausrüstung und keine Lagerzelte mitgenommen wurden, betrug die von jedem Regiment mitgeführte Last außer Fahrzeugen und Pferden 3000 Pud. Dieser Transport von größeren Truppenteilen aus Europa nach Transbaikalien bietet eine Analogie zu der vor zwei Jahren ausgeführten Gastrolle der mittlerweile wieder zurückgekehrten 1. Kaukasischen Schützenbrigade in Transkaspien. Er dokumentiert in eindringlicher Weise, dass die neue Schienenstraße aus dem Innern des Reichs nach dem „fernen Osten“ tatsächlich benutzbar geworden ist und den Begriff der Entfernung für kriegerische Zwecke wesentlich abgeschwächt hat. Wenn auch zunächst nicht wahrscheinlich, so erscheint es doch keineswegs ausgeschlossen, dass die Sibiriaki (sibirische Soldaten) ihren europäischen Kameraden über kurz oder lang deren Besuch aus demselben Wege zurückerstatten und dadurch die volle Einheitlichkeit der gewaltigen Streitmacht des Zarenreichs für alle Zwecke und auf allen Kriegstheatern bekunden.“

In dem Kapitel „Auf dem Baikalsee“ sprachen wir von den hohen Nummern, die wir von den Güter- und Personenwagen auf der sibirischen Bahn abgelesen hatten. Die Zahlen entsprechen aber nicht der Menge des rollenden Materials, das zur Verfügung steht, sondern haben offenbar eine andere Bedeutung. Nach dem „Russischen Kalender“ für das Jahr 1904 gibt es in ganz Russland 12.168 Lokomotiven, 14.275 Passagierwagen und 288.436 Güterwagen. Wie viel davon auf die sibirische Bahn kommen, lässt sich, soweit wir Umschau gehalten haben, mit Bestimmtheit nicht angeben. Nur so viel steht fest, dass im Februar 1899 beschlossen wurde, den Betrieb auf der ganzen Strecke derartig zu verstärken, dass bis Ende 1902 722 Lokomotiven, 333 Personenwagen, 659 Übersiedlerwagen und 13.217 Güterwagen zur Verfügung stehen würden. Man darf aber annehmen, dass bei der lebhaften Steigerung des Verkehrs auch diese Neuanschaffungen nicht ausreichend gewesen sind, wie man es schon aus den neuen Wagen erkennen kann, die seit diesem Sommer durch die Mandschurei laufen.

Bei der Betrachtung der Einrichtungen, wie wir sie auf der sibirischen Bahn vorfanden, haben wir uns gehütet, in phantasievollen Zukunftsbildern zu schwelgen. Die einfachen Tatsachen schienen uns eine beredtere Sprache zu führen als alles, was Voreingenommenheit und Neid dagegen geäußert, Überschwänglichkeit und Kritiklosigkeit dazu erfunden haben. Immer wieder muss aber daran erinnert werden, dass ein solches Unternehmen erst allmählich entstehen und sich zu einem vollkommenen Instrument des Verkehrs entwickeln kann. Noch viele Jahre hindurch wird daran gebessert und die Geschwindigkeit der Fahrt erhöht werden müssen. Wäre es möglich, die sibirischen Züge ebenso schnell wie unsere deutschen Kurierzüge laufen zu lassen, so würde man für die Strecke von Moskau nach Dalny und Port Arthur nicht wie jetzt beinahe vierzehn Tage, sondern weniger als eine Woche gebrauchen. Berlin und Wien würden dann nur noch neun, Paris und London zehn Tagereisen auf dem Schienenweg von der Küste des Stillen Ozeans entfernt sein. Wann und ob es überhaupt dahin kommen wird, lässt sich nicht annähernd im Voraus bestimmen, so sehr die Phantasie des Reisenden auch geneigt ist, sich eine solche Möglichkeit auszumalen. Man würde dann am Sonntag früh in Berlin frühstücken und am Sonnabend darauf in Peking zu Mittag essen können, nachdem man eine Reise von über zehntausend Kilometer gemacht hat.

Seit dem Frieden von Schimonoseki 1896 hat sich zwischen Russland und Japan eine Spannung herausgebildet, die einen immer schärferen Charakter anzunehmen scheint. Japan hat sich an dem Sieg über das chinesische Nachbarland derartig berauscht, dass es sich die Kraft zutraut, auch mit einem ungleich stärkeren Gegner, mit Russland, fertig zu werden. Es hat seine Rüstungen zu Land und zu Wasser bis zum äußersten gesteigert, und Parlament und Presse scheinen die Regierung zu einer gewaltsamen Entscheidung hindrängen zu sollen, wer an der Küste des Gelben Meeres in Zukunft sich als Herrn fühlen darf. Japan rechnet dabei aus die Hilfe seines Bundesgenossen England und sucht die Hand vor allem nach Korea auszustrecken, weil es wegen seiner Übervölkerung eine Ausdehnung seines Länderbesitzes notwendig braucht. Ebenso fieberhaft schnell wie Japan seine Flotte verstärkt und seine Schiffe den besten Leistungen der modernen Technik und Ausrüstung gleichgestellt hat, ist von Russland der Bau der Bahn durch die Mandschurei betrieben und ausgeführt worden. Mit drohenden Mimen stehen sich die beiden Völker gegenüber, und jedermann fragt sich, wann die Entscheidung erfolgen und wem der Sieg zufallen werde.

Sollte wirklich ein Krieg zwischen Russland und Japan ausbrechen, so würde als Schauplatz für militärische Operationen zunächst das Meer in Frage kommen. Sollte sich dabei der Sieg auf die Seite Russlands neigen, so würde er wahrscheinlich in der Form ausgenutzt werden, dass es die Mandschurei noch fester, als es bereits jetzt geschehen ist, in seinen Besitz bekommt, und außerdem Korea besetzt. An einem solchen Vorgehen würde es nach einer erfolgreichen Seeschlacht von irgend. welcher Seite schwerlich gehindert werden. Die Klugheit dürfte es ihm gleichzeitig auch gebieten, sich noch weiter vorzuwagen und Japan auch zu Lande anzugreifen.

Die Japaner wären andererseits in der Lage, den Russen ihre Häfen am ostasiatischen Gewässer, Wladiwostok, Dalny und Port Arthur, zu sperren und ihren Verkehr auf dem Stillen Ozean lahm zu legen. Ein Landangriff, den die Japaner unternehmen könnten, würde mit großen Schwierigkeiten verbunden sein. Sie könnten allerdings als Ausgangspunkt für eine solche Operation die koreanische Küste zwischen Wladiwostok und Gensan annehmen. Von hier aus würden sie den kürzesten Landmarsch gegen das Zentrum der feindlichen Macht erzielen, das man in Charbin, beim Kreuzungspunkt der mandschurischen Bahn, annehmen darf. Die Luftlinie beträgt bis dahin immer noch fünfhundert Kilometer. Aber sehr treffend bemerkt mein militärischer Gewährsmann, dem ich bei diesen Ausführungen folge, dass der zurückzulegende Weg bedeutend länger sein und durch Gebirge, Flüsse und unbewohnte Gegenden führen würde.

Auch bei günstigen Witterungsverhältnissen ist nicht daran zu denken, dass die Truppen täglich mehr als fünfzehn Kilometer marschieren können. Man würde für große und umständliche Trägerkolonnen sorgen und die Etappen durch bedeutende Kräfte hinter der Front sichern müssen. Den Russen würde aller Wahrscheinlichkeit nach nichts lieber sein, als ein solcher tollkühner Zug des japanischen Heeres. Sie würden es ruhig an sich herankommen lassen und ihre Feinde, wenn sie von den Anstrengungen des Marsches, den Entbehrungen und Unbilden des Klimas geschwächt sind, einfach vernichten.

Eine Möglichkeit gibt es aber auch für die Japaner, in der Nähe von Port Arthur zu landen und den befestigten Hafen anzugreisen. Dazu würde aber ein ungemein energisches und erfolgreiches Vorgehen gehören, weil Port Arthur an sich schon eine sehr starke Besatzung aufweist und außerdem durch die sibirische Bahn aus der Mandschurei und Transbaikalien Verstärkungen herbeigeschafft werden können. Man rechnet damit, dass sich an jedem Tag durch die Eisenbahn dreitausend Mann nach der Kwantunghalbinsel befördern lassen. Für ungleich leichter hält man es aber, wenn die Japaner sich auf eine Landoperation beschränken und Korea besetzen wollten. Sie müssten dann warten, bis die Russen sie etwa in der Nähe des Jaluflusses, wo die Japaner sich festsetzen könnten, wieder heraustreiben würden.

Alles hängt natürlich davon ab, in welchem Verhältnis die beiden Armeen ihrem Wert nach zueinander stehen. Den russischen Soldaten versagt niemand das Zeugnis, dass sie an Tapferkeit und Ausdauer einen hohen Rang einnehmen. Die Japaner haben in jüngster Zeit durch ihre militärische Schulung und durch ihre Siege im Kampf mit China berechtigtes Aufsehen erregt. Sie haben es dabei mit einem Gegner zu tun gehabt, der wesentlich unter ihnen stand, und würden ihre Überlegenheit den Russen gegenüber erst zu beweisen haben. Auch die Jahreszeit spielt für den Ausgang des Krieges eine nicht unbedeutende Rolle. Die Japaner, die den Winter schlecht vertragen können, dürften wahrscheinlich den Frühling bevorzugen, während ihre Gegner es mit der Kälte viel besser aufnehmen würden und sich vor den Schrecknissen des Winters nicht zu fürchten brauchen.

Wiederholt ist davon die Rede gewesen und der Wunsch ausgesprochen worden, dass nach der Vollendung der großen sibirischen „Magistrale“ nun auch die Transbaikalbahn zwischen Ssretensk und Chabarowsk ausgebaut werden müsse. Es wurde sogar behauptet, dass es sich dabei um eine fest beschlossene Sache handle. Prüft man aber die Dinge, wie sie wirklich liegen, so wird man zu der Überzeugung gelangen, dass hier der Wunsch wieder einmal der Vater des Gedankens sei. Vorläufig beabsichtigt man keineswegs, aufs neue ungezählte Millionen für einen solchen Zweck auszugeben, und hält die Wasserverbindung auf der Schilka und dem Amur trotz aller Mängel, die ihr anhaften, für ausreichend. Freilich klagte mir ein Kaufmann aus Charbin seine Not, als er sich Ende Oktober aus einem Schleppdampfer befand und von einem Tage auf den andern vergeblich die Abfahrt erwartete, die durch den niedrigen Wasserstand auf dem Amur immer wieder verzögert wurde. Es fehlte nicht viel, so wäre er in Blagowjeschtschensk eingefroren und hätte dann noch ein paar Wochen auf genügend starkes Eis warten müssen, um mit dem Schlitten vorwärts zu kommen.

Weit größere Aussicht auf Verwirklichung haben dagegen zwei Eisenbahnlinien durch die Mandschurei, die dazu dienen würden, den Besitz des Landes den Russen noch mehr zu sichern, als es durch die Hauptlinie bisher schon geschehen ist. Die eine Strecke würde von Zizikar in nördlicher Richtung nach dem Amur bei Blagowjeschtschensk führen, die andere Charbin in nordöstlicher Richtung mit Chabarowsk verbinden. Dadurch könnte man den nördlichen Teil der Mandschurei durch die Eröffnung neuer Verkehrsstraßen unmittelbar an Sibirien anschließen. Überall sehen wir, wie das Land durch die Eisenbahn erobert wird, wie die Russen sich an den Stationen festsetzen, Kolonien begründen und aus den Marktflecken Städte entstehen lassen. Niemand denkt mehr daran, dass sie ihre Truppen zurückziehen werden, so oft sie auch an die Erfüllung dieser Verpflichtung, die sie übernommen haben, erinnert werden. In Tschita, Charbin und Mukden befinden sich die Hauptpunkte für die Ansammlung von Truppen, die angeblich nur zum Schutz der Bahn eintreffen, aber offenbar viel weitergehende Zwecke verfolgen.

Die Ernennung des Admirals Alexejew zum Generalgouverneur der Mandschurei bedeutet einen weiteren Schritt bei der Ausführung des Eroberungsplanes, den Russland verfolgt und für den es die neue Bahn in erster Linie bestimmt hat. Die aneinander gereihten Schienen und die lange Wagenkette, die über sie hinwegrollt, scheinen ebenso zuverlässige Waffen wie Kanonen und Gewehre zu bilden. Dass es den Russen in der Mandschurei auch an diesen nicht fehlt, haben die jüngsten Ereignisse bewiesen, vor allem die große Revue, welche Admiral Alexejew im Oktober dieses Jahres in Port Arthur verunstaltete. Die Zahl der Truppen, die bei dieser Gelegenheit dort versammelt waren, wird sehr verschieden angegeben, war aber groß genug, um den Eindruck einer Streitmacht zu hinterlassen, gegen welche mit der bloßen Berufung auf Verträge und mit Protesten wenig auszurichten ist.

China hat bis jetzt rat- und tatenlos auf dies immer weiter vorschreitende Eroberungswerk hingestarrt und muss die Mandschurei als verloren ansehen, wenn es den Russen nicht den Krieg erklären will. In China gibt es aber auch eine sich lebhaft rührende Partei, die für diesen Fall ein Zusammengehen mit Japan verlangt, so dass sich dann die mongolische Rasse gegen das Europäertum, wie es durch die Russen vertreten wird, zu einem gewaltigen Völkerkampf verbinden würde.

Die sibirische Bahn übertrifft alle bisher gebauten Strecken bei weitem an Ausdehnung. Die kanadische Pacificbahn umfasst 4677, die Union-Pacificbahn, die von San Francisco über Chicago nach New-York führt, 5337 Kilometer. Dagegen zieht sich die „Magistrale“ von Tscheljabinsk nach Wladiwostok 7588 Kilometer und nach Port Arthur noch über 180 Kilometer länger hin. Nehmen wir ihre westliche Fortsetzung von Tscheljabinsk über Moskau und Warschau bis zur preußischen Grenze bei Alexandrowo hinzu, so erreichen wir eine Gesamtlänge des Schienenstranges von über 10.000 Kilometer. Das bedeutet ungefähr so viel, als wenn jemand die Strecke von Basel über Frankfurt und Berlin nach Königsberg neunmal zurücklegen wollte.

Verbindet die sibirische Bahn einerseits Europa mit Asien in einer Weise, die alle früher ausgesprochenen Erwartungen schon jetzt weit hinter sich lässt, so ist sie China und dem ostasiatischen Küstengebiet gegenüber zu einer Waffe und einem Kulturwerkzeug ersten Ranges geworden. Es hat wahrlich keinen Sinn, diesem Unternehmen gegenüber ein schiefes Gesicht zu machen, es wegen mancher Mängel, die ihm anhaften, vor den Augen der Welt herabzusetzen und gehässigen Entstellungen mehr Glauben zu schenken, als sie verdienen. Man sollte vielmehr versuchen, das Riesenwerk in dem Plan, der ihm zugrunde liegt, in seinen Einrichtungen kennen zu lernen und sich ein Bild von den Veränderungen zu machen, die es im Weltverkehr hervorrufen dürfte. Früher, als man es in Aussicht gestellt hatte, ist die sibirische Bahn bis auf das letzte Glied, die Strecke um den Baikalsee, vollendet, und das Zukunftsbild des Panoramas von Moskau nach Peking, das im Sommer 1900 auf der Pariser Weltausstellung in dem russischen Gebäude am Trocadero vorüberzog, während die Zuschauer in den Waggons des sibirischen Zuges saßen, schon jetzt fast zur Wahrheit geworden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China