Die sibirische Eisenbahn im Frieden

Wir sind wieder am Ausgangspunkt unserer Fahrt auf der sibirischen Eisenbahn nach China angelangt, und „Mütterchen Moskau“ empfängt uns noch freundlicher, als die ehrwürdige Dame uns vor sieben Wochen entlassen hatte. Auf dem Nischnij-Nowgoroder Bahnhof zerstreut sich unsere Reisegesellschaft nach allen Windrichtungen. Das lange Zusammensein mit so verschiedenartigen Elementen der modernen Gesellschaft hat so viel Gemütliches und Anregendes, dass uns der Abschied von unseren Gefährten nicht so leicht wird, wie wir es anfangs glaubten. In dieser Beziehung bringt die Fahrt auf der sibirischen Bahn eine ähnliche Stimmung wie die alte Postkutsche hervor, in der man ebenfalls Zeit hatte, sich auszusprechen und kennen zu lernen, während unser heutiges Reisen im allgemeinen nur flüchtige Berührungen gestattet. Gerade in diesem Punkte berührt sich die modernste Verkehrseinrichtung in der Tat mit der ältesten, weil beide uns menschlich näherbringen und zum Austausch der Gedanken und Empfindungen ermuntern.

Im Hotel „Alpenrose“ in der Sofeika, wo ich beim Antritt meiner Reise abgestiegen war, ist ein Berg von Briefen, Postkarten, Zeitungen für mich angelangt. Das Haus ist eben erst eröffnet worden, und die Einrichtung der Zimmer steht auf der Höhe großstädtischer Ansprüche. In unmittelbarer Verbindung damit befindet sich das gleichnamige Restaurant, das als Stammkneipe der Deutschen für Moskau ungefähr dieselbe Rolle spielt wie Leinner in Petersburg.


Wer echt russisches Leben beobachten will, muss sich dagegen nach dem „Slawjanski Basar“, wo in dem großen Speisesaal namentlich um die Frühstückszeit ein ungemein interessantes Leben herrscht, nach dem prächtigen, aber stockrussischen „Bolschoi Maskowskij Gostinniza“ gegenüber der Iberischen Pforte oder nach der „Eremitage“, diesem Paradies aller Feinschmecker und Lebemänner, begeben. Ich entschloss mich, den Ruhetag nach der Heimkehr von Sibirien in dem „Hotel National“ am Ochotny Rjad neben der Twerskaja zu verleben, das ganz nach westeuropäischem Muster eingerichtet ist und von einem Ungarn geleitet wird. Dorthin hatte sich ein kleiner Rest unserer Reisegesellschaft begeben, um die bei der Fahrt empfangenen Eindrücke zum letzten Mal miteinander auszutauschen.

Mich zog es unwiderstehlich zum Kreml, der im hellen Sonnenschein vor mir lag, und zu meinem alten Freunde, dem Glockenturm Iwan Weliki, der in dieser einzigen Vereinigung von Palästen, Staatsgebäuden, Klöstern, Kirchen und Denkmälern den hochragenden Mittelpunkt bildet. Aber der kurze Weg dorthin wurde mir schwer. Der Boden schien mir unter den Füßen zu dröhnen und zu schwanken wie jemandem, der nach einer langen Seereise zum ersten Mal wieder festen Boden unter sich fühlt. Ebenso glaubte ich immer noch die Bewegung des sibirischen Zuges in den Gliedern zu spüren und das Ächzen der Lokomotive zu hören.

Moskau. Basar.
Moskau. Straßenbild.

Trotzdem bestieg ich die fünf Stockwerke des „großen Johann“, um das wundervolle Panorama Moskaus mit seinem Gewirr von bunten Dächern, von goldenen Kuppeln und Spitzen zu betrachten. Das „russische Rom“, wie man die Stadt mit Recht genannt hat, verkörpert die gesamte Geschichte des Zarenreiches und stellt einen Auszug all der Kräfte dar, die es nach innen und außen bewegen. Mein Blick schweifte zur Erlöserkirche hinüber, vor welcher eine Kulisse an derselben Stelle errichtet war, auf der sich das Denkmal für Alexander III. erheben wird. Der Zar soll dort in sitzender Stellung mit dem Blick nach dem Kreml und zu dem Platz dargestellt werden, wo sich das Monument seines Vaters, des Zar-Befreiers Alexanders II., befindet.

Unwillkürlich verdichteten sich in mir all die wechselnden, farbenreichen Bilder und Erlebnisse, die ich während der Fahrt auf der sibirischen Bahn in mich ausgenommen hatte, zu einem einzigen, gewaltigen Eindruck, und ich suchte mir die Frage zu beantworten, welche Bedeutung der Schienenweg durch Asien in Zukunft für den Weltverkehr erlangen werde.

Im „Hotel National“ wurden wir von allen Seiten zur glücklichen Vollendung der langen Reise beglückwünscht und um eine genaue Schilderung unserer Eindrücke gebeten. Das war keine leichte Aufgabe und konnte nur mit verhältnismäßig wenig Worten geschehen, die aber den Neugierigen genügen mussten. Den Abend brachte ich im Theater Korsch zu, wo gerade die erste Aufführung des neuen Stückes von Oktave Mirbeau „Les affaires sont les affaires“ in russischer Sprache stattfand. Ich hatte das interessante Werk im April desselben Jahres bei der Premiere im Théâtre français in Paris kennen gelernt und die erregte Stimmung des Publikums noch in lebhafter Erinnerung, dass bei dem Streit zwischen dem sozialistischen Großkaufmann und dem verschuldeten Marquis wie in einem Parlament bald für die eine bald für die andere politische Richtung heftig Partei ergriff. In Moskau war von dieser unmittelbaren Anteilnahme an der Handlung, die so geschickt aus der Flut des Pariser Lebens geschöpft ist, wenig zu spüren. Man sah in dem Ganzen nur eine gewöhnliche Familiengeschichte, ohne die scharfe Würze der Satire auf die Macht des Geldes und die sozialen Ideen, den Parlamentarismus, und die Presse herauszuschmecken.

Dass es auch in Moskau schneidige Berichterstatter gibt, erfuhr ich am nächsten Morgen. Ich war wieder nach dem Kreml gegangen, um eine der vielen Sammlungen zu besuchen, als ich von dem diensttuenden Aufseher erfuhr, dass sie wegen der Ferien noch geschlossen sei. Ich stellte mich, um trotzdem die Erlaubnis zur Besichtigung zu erlangen, dem Chef der dortigen Polizei vor und war nicht wenig erstaunt, als er seine Freude darüber äußerte, dass mir die Reise durch Sibirien so gut bekommen sei. Die „Nowosti Dnja“, eine slink bediente Zeitung, hatte den Bewohnern Moskaus in einer sehr freundlich abgefassten Notiz von meiner Rückkehr aus Asien auf dem neuen Schienenwege Mitteilung gemacht.

Ein wahres Glück, dass von mir an jedem Tag Aufzeichnungen gemacht waren, denn ich hatte so viel erlebt, dass selbst ein gutes Gedächtnis kaum imstande war, zu unterscheiden, wo und wann die interessanten Einzelheiten sich abgespielt hatten. Unwillkürlich musste ich Vergleiche anstellen zwischen der umständlichen Art, wie man früher nach Sibirien reiste, und der jetzigen Einrichtung, durch Asien bis an den Stillen Ozean zu fahren. Vor wenigen Jahrzehnten lag darin noch eine Expedition voll Gefahren und Schrecknissen, vor einem Dezennium war diese Reise immer noch eine ernste Strapaze, und jetzt ist sie eigentlich nur eine längere Vergnügungsfahrt zu nennen.

Alexander von Humboldts asiatische Reise dauerte z. B. von Mitte April bis Ende Dezember 1829. Schon im Sommer 1827 war der berühmte Gelehrte von dem russischen Staatsminister Graf Cancrin eingeladen worden, sich über das im Ural gewonnene Platin, seine Verwendbarkeit zu Geldmünzen und das Verhältnis seines Wertes zu Gold und Silber zu äußern. Es war ihm jedoch vollkommen freigestellt, sich für seine Reise auch andere Ziele und Zwecke zu wählen. In seiner Begleitung befanden sich die beiden Naturforscher Gustav Rose und Ehrenberg, jener als Mineraloge und Führer des Reisetagebuches, dieser als Botaniker und Zoologe.

Humboldt begab sich zunächst von Berlin über Königsberg und Memel nach Petersburg und Moskau, wo ihm wahrhaft fürstliche Ehren erwiesen wurden. Ein russischer Bergbeamter diente ihm als ständiger Begleiter, und ein Kurier reiste ihm voraus, der für seinen zweckmäßigen und würdigen Empfang überall die nötigen Vorbereitungen traf. Die ganze Expedition war so großartig ausgerüstet, wie sie vorher noch keinem Reisenden nach dem Innern Asiens zuteil geworden war. Nischnij Nowgorod, Kasan und Perm bildeten die ersten Stationen. Dann wurde der Ural überschritten und Jekaterinenburg erreicht, wo sich ein Mittelpunkt für die dortige Metallproduktion befindet. Humboldt stellte in Newiansk und Nischnij-Tagilsk eingehende Untersuchungen über das Vorkommen von Platin und Diamanten an, um dann in das Innere von Sibirien vorzudringen.

Bei seinem Aufenthalt in Tobolsk befand er sich nicht weit von der Strecke, welche die sibirische Bahn heute einschlägt, und erreichte diese unmittelbar bei der Stadt Kainsk am Fluss Om. Die Nachricht, dass auf der Straße nach Tomsk die sibirische Pest ausgebrochen sei, musste ihn verhindern, bis zu diesem Ziel vorzudringen. Er stattete dafür der Bergwerkstadt Barnaul am Ufer des Ob einen Besuch ab. Anfang August wendete sich Humboldt dem Altaigebirge zu, wo der Klowansee mit seinen seltsam geformten, aus einzelnen Platten zusammengesetzten Granitfelsen und der Felsrücken des Schlangenbergs mit seinen reichen Erzlagern den östlichsten Punkt seiner Reise bildeten. Dann gelangte er nach Omsk, also wieder zu einem Punkt des jetzigen sibirischen Schienenweges, entfernte sich aber von ihm in südlicher Richtung nach Orenburg, um hierauf über Sarepta nach Astrachan und damit in die Nähe der Wolgamündung ins kaspische Meer zu gelangen. Von dort fuhr er wieder nach Moskau und in die Heimat zurück.

Und wie umständlich und langwierig war noch im Jahre 1891 die Reise des damaligen Thronfolgers, des jetzigen Kaisers von Russland durch Sibirien, obwohl doch alles, was nur irgend in Menschenkräften lag, aufgeboten war, diese Fahrt zu beschleunigen und nach Möglichkeit angenehm zu gestalten. Der jugendliche Großfürst sollte im Hinblick auf sein schweres und verantwortungsvolles Amt, das ihn als Selbstherrscher über ein ungeheures Ländergebiet viel früher, als man denken konnte, erwartete, eine Studienreise um die ganze Erde antreten, seinen Geist mit unvergleichlichen Eindrücken des Völker und Naturlebens an den ältesten Kulturstätten sättigen und seinen Blick für die Beobachtung fremder Individualitäten schärfen.

Die Wundergebiete Griechenlands und Ägyptens, Vorder- und Hinterindiens waren an seinen Blicken vorübergezogen. Japan hatte alle Schätze vor ihm ausgebreitet, und es war bereits beschlossene Sache, einen Abstecher nach China zu unternehmen und dann die Heimreise über Amerika anzutreten. Da ereignete sich auf japanischem Boden, in Otsu, das bekannte unglückselige Attentat, bei welchem ein von fanatischem Hass auf die Fremden erfüllter Japaner zu einem Schlage gegen den Großfürsten ausholte und ihn nicht unbedenklich verwundete.

Unter dem Eindruck dieses Verbrechens beschloss der hohe Reisende auf Wunsch seines Vaters, des Kaisers Alexander III., die Rückreise durch Sibirien anzutreten. Der russische Dampfer „Pamjat Asowa“ führte ihn durch das japanische Meer nach Wladiwostok, wo die Truppen längs der Hauptstraße, der Swetlanskaja, in Spalier aufgestellt waren und ihn mit freudigem Hurra begrüßten. Am 29. Mai wohnte der Thronfolger der Enthüllung des Denkmals bei, das dem Admiral Newelski errichtet wurde, und legte tags darauf den Grundstock zu dem Trockendock, das in der Stadt angelegt wurde. Am 31. Mai erfolgte dann der erste Spatenstich zu der großen sibirischen Bahn. Der Großfürst verlas bei der Festtafel, die sich hieran schloss, das Reskript seines kaiserlichen Vaters, das sich aus die Ausführung der ersten Strecke des Schienenwegs, die Ussuribahn, bezog. Am 1. Juni verließ er das Geschwader und trat seine Reise nach dem Westen, durch die weiten Strecken Sibiriens an als Verkünder des gewaltigen Unternehmens, das mit überraschender Schnelligkeit zur Ausführung kommen sollte.

Wir besitzen über diese Reise ein ausführliches Reisewerk aus der Feder des Fürsten Uchtomski, den wir bereits im Anfang unseres Werkes erwähnt und charakterisiert haben. Ihm war die Aufgabe zugefallen, die Eindrücke dieser Weltfahrt von Tag zu Tag festzuhalten und ein Werk herauszugeben, das für die weiten Kreise des gebildeten Publikums auf Verständnis und Interesse rechnen konnte. Ein namhafter Landschaftsmaler, Karasin, hatte die Aufgabe, die Schilderungen durch seine Zeichnungen und Bilder zu beleben und zu ergänzen. Auf diese Weise entstand ein Prachtwerk, das bei seinem Erscheinen nicht nur in Russland Aufsehen erregte, sondern alsbald auch in deutscher, französischer und englischer Übersetzung vorlag und sich damit einen ausgedehnten Leserkreis gewann.

„Orientreise Seiner Majestät des Kaisers von Russland, Nikolaus II., als Großfürst-Thronfolger 1890—91. Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Hermann Brunnhofer“ lautet der Titel der deutschen Ausgabe, die im Jahre 1899 bei F. A. Brockhaus in Leipzig erschien. Der Verfasser ist seiner Aufgabe in jeder Beziehung gerecht geworden. Seiner schwungvollen, bilderreichen Sprache merkt man es bei jedem Satz an, wie sehr er sich mit den großartigen Eindrücken dieser Reise erfüllt hat. Er zeigt sich aber auch als selbständig denkender Kopf, der sich mit der Geschichte und der Natur der betreffenden Länder genau vertraut gemacht hat und die politische Rolle Asiens mit Schärfe erfasst. Er berichtet genau von dem Wege, den der fürstliche Reisende durch Sibirien eingeschlagen hat. Zuerst unternahm der russische Thronfolger eine Fahrt von 120 Kilometern zu dem Ort Nikolskoje, von wo er nach dem Hankasee fuhr und die Reise dann auf einem Dampfer fortsetzte. Den Sungatschi hinauf ging es zum Ussuri und Amur nach Chabarowsk, wo das Denkmal für den Grafen Murawiew-Amurski bewundert wurde, dessen unermüdlicher Tätigkeit Ostasien in seiner jüngsten Entwicklung so viel zu danken hat.

Es folgte die Reise auf dem Amur bis nach Blagowjeschtschensk. „Im Allgemeinen,“ äußert sich Fürst Uchtomski in seinem Werk, „können die Ufer des Amur von Blagowjeschtschensk an stromaufwärts schön genannt werden. Aber diese Schönheit ist, wie überhaupt der ganze Amur, bei aller Mannigfaltigkeit zu eintönig; auf der ungeheuren Strecke lässt schließlich das Auge bei der ewigen, Wiederkehr des gleichen Bildes den Blick hoffnungslos und ermüdet sinken. Von den Schönheiten, die zu sehen sind, prägen sich wenige dem Gedächtnis ein. Tote Taiga, einförmiger Urwald. . . das ist alles, was man im Großen und Ganzen vom Amur überhaupt sagen kann.“

Am 22. Juni wurde die Grenze der Provinz Transbaikalien, am 25. Juni Ssretensk erreicht, wo nach dem Verlassen des Flussgebiets der Schilka gegenwärtig die nach dem Baikalsee führende Bahn ihren Anfang nimmt. Man hatte den Plan gefasst, die Reise nach Nertschinsk zu Lande fortzusetzen, aber das Wasser stand so hoch, dass es möglich war, auf dem Dampfer zu bleiben und die Stadt am nächsten Morgen zu erreichen. Von hier ab musste man sich aber des Reisewagens bedienen. Die Burjäten durften sich dem Thronfolger vorstellen und ihm die geschickte Art zeigen, in welcher sie wilde Pferde einzufangen und zu zähmen wissen. Einmal wurde unter einem Mongolenzelt übernachtet, das mit einem seidenen Bett und einer Art Thron versehen war.

In Tschita und in dem buddhistischen Kloster Azagat fand ein feierlicher Empfang der hohen Gäste statt. Am 5. Juli kam der Großfürst-Thronfolger in Jrkutsk an, am 7. Juli erreichte er Krassnojarsk, wo eine Industrie und Landwirtschaftsausstellung stattfand. Am 17. Juli war die Expedition in Tomsk angelangt, wo der Großfürst den Dampfer „Nikolai“ bestieg, um die Heimreise fortzusetzen. Das Schiff folgte dem Lauf des Ob mit feinen oft düstern, aber wegen der Breite des Stroms auch imponierenden Ufern und traf am 22. Juli in Tobolsk ein, wo in der Kathedrale eine Begrüßung durch den Bischof und die gesamte Geistlichkeit stattfand. Am vierten Tag daraus langte der Dampfer in Omsk an. Ein Weg von mindestens 1200 Kilometern führte von hier nach Orenburg, an die Grenze von Europa und Asien, wo man am 7. August anlangte. Hier war endlich nach vielen Strapazen der Anschluss an das Eisenbahnnetz gefunden, das den Großfürsten nach einem kleinen Abstecher in das Gebiet der Uralkosaken über Moskau wieder nach Petersburg zurückbrachte.

Mehr als zwei Monate und einen halben dauerte diese sibirische Reise, die unter so vorteilhaften Bedingungen ausgeführt wurde, wie sie für keinen andern Sterblichen geschaffen werden konnten. Abgesehen von den vielen Empfängen und Festlichkeiten, die veranstaltet wurden, übten namentlich die Reisen im Wagen einen sehr ermüdenden Eindruck auf alle Teilnehmer aus. Man muss sich erinnern, dass diese Reise des Großfürsten-Thronfolgers erst zwölf Jahre vor dem vollständigen Ausbau der sibirischen Eisenbahn stattfand, um sich zu vergegenwärtigen, mit welcher Schnelligkeit das erstaunliche Werk vollendet wurde.

Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, welchen Einfluss die sibirische Bahn in Zukunft auf den Dampferverkehr nach Ostasien ausüben werde. Nachdem ein so viel kürzerer Weg durch das europäische Russland und Sibirien, nach China und Japan geschaffen ist, müssen sich gewisse Veränderungen für die Schifffahrt nach dem fernen Osten mit Notwendigkeit ergeben. Es ist aber äußerst schwer, schon jetzt eine bestimmte Meinung darüber auszusprechen, wie sie sich in Zukunft gestalten werden. Den beiden Instanzen, die an der Bevorzugung des Schienenwegs oder der Dampferfahrt ein praktisches Interesse haben, kann man es kaum verdenken, wenn sie die Vorzüge ihres Verkehrswegs auf Kosten des andern möglichst hell beleuchten. Dabei machen sich Voreingenommenheiten und Übertreibungen geltend, die man vorsichtig vermeiden muss, wenn man zu einem Ergebnis kommen will, das mit der zukünftigen Gestaltung der Dinge wenigstens in großen Zügen übereinstimmt.

Der Verkehr zwischen den Häfen Europas und Ostasiens führt gegenwärtig durch den Suezkanal und das Indische Meer nach den Häfen des Stillen Ozeans. Die Fahrten werden, wenn man kleinere Schifffahrtsgesellschaften unberücksichtigt lässt, vom Norddeutschen Lloyd und der Hamburg-Amerika-Linie, für Österreich vom Österreichischen Lloyd, für England von der Peninsular Company und für Frankreich von der Mefsageries maritimes ausgeführt. Dabei ist Russland für den Schiffsverkehr mit Ostasien auf die Linie über Odessa angewiesen.

Fährt man mit den Schiffen unserer beiden großen Reedereien von Bremen oder Hamburg ab, so erreicht man Schanghai auf dem Wasserweg in achtundvierzig Tagen. Diese Zeitdauer kann man allerdings um zwölf Tage verkürzen, wenn man die Reise von Berlin nach Neapel mit der Eisenbahn macht, wozu zwei Tage erforderlich sind, und erst hier das Schiff besteigt. Die englischen Dampfer, die von London ausgehen, brauchen bis zur Mündung des Yangtsekiang einundvierzig, die französischen, die ihre Reise in Marseille beginnen, achtunddreißig Tage, die österreichischen, die von Triest auslaufen, ungefähr ebensoviel Zeit. Auf den deutschen Dampfern kostet die Fahrt nach Schanghai von Bremen oder Hamburg in erster Kajüte 1660 Mark, in zweiter 950 Mark, von Neapel in erster Kajüte 1540 Mark, in zweiter 840 Mark.

Dem gegenüber führt die Berechnung einer Reise auf der sibirischen Bahn nach Dalny und der Benutzung der neuen russischen Dampfer „Mongolia“ und „Mandschuria“ nach Schanghai allerdings zu überraschenden Ergebnissen. Von Berlin fährt man nach Moskau in zwei, von Moskau mit dem Luxuszug nach Dalny in vierzehn und von dort nach Schanghai in zwei, also im Ganzen in achtzehn Tagen. Das ist weniger als die Hälfte der Zeit, die man braucht, um mit dem Schiff zu demselben Ziele zu gelangen. Der Preis dafür würde für die erste Klasse auf der Eisenbahn und die erste Kajüte auf dem Schiff zusammen gegen 700 Mark betragen.

Hierbei darf man allerdings nicht übersehen, dass in den Preis für die Schiffsreisen mit Ausnahme von Wein, Bier und Likören, die volle Verpflegung einbegriffen ist, die ungefähr den Leistungen eines ersten Hotels in einer europäischen Hauptstadt entspricht, während auf der Eisenbahn für Speisen und Getränke der Betrag von den Passagieren zu entrichten ist. In dieser Beziehung kann man sich natürlich sehr verschiedenartig einrichten. Wer alle Mahlzeiten im Speisewagen, dem internationalen oder dem russischen, einnimmt, wird, wenn er Zunge und Kehle auf keine besondere Weise kitzeln will und sich mäßig verhält, vielleicht mit fünf bis sechs Rubel auskommen. Nimmt er dagegen die Mahlzeiten auf den Stationen ein und versieht sich für die Weiterreise mit etwas Mundvorrat, so gibt er natürlich dementsprechend weniger aus. In jedem Fall braucht er für die ganze Reise höchstens die Hälfte von dem anzuwenden, was ihm auf dem Schiff an Kosten erwachsen. Wir sprechen hierbei immer nur von den schnellsten Verbindungen zu Wasser und zu Land, da eine Berechnung der Preise für die zweite Kajüte und die Postzüge der sibirischen Bahn zu weit führen würde.

Abgesehen von dem Preis und Zeitunterschied, der durch die sibirische Bahn für die Reise nach Ostasien hervor gerufen wird, ist das gewaltige Unternehmen für die ganze Welt mit einem Schimmer von Romantik umgeben, dem sich niemand entziehen kann. Jeder, der die Reiselust in seinen Gliedern prickeln fühlt, sich bei einer größeren Fahrt von dem Hergebrachten lossagen und einen ganz neuen Verkehrsweg unter verhältnismäßig geringen Strapazen kennen lernen will, spitzt fortan die Ohren, wenn von der luxuriösen Einrichtung der russischen Züge und der wunderbaren Art erzählt wird, wie sie aus dem Herzen Russlands durch den größten Kontinent des Erdballs hindurchgleiten, wie sie jeden Tag ein anderes Bild entrollen und endlich am Ufer des Stillen Ozeans Halt machen. Die nebelhaften Vorstellungen, in welche das nördliche Asien und China für die meisten Gebildeten bisher eingehüllt warm, beginnen sich allmählich zu entwirren und bestimmten Vorstellungen und Urteilen Platz zu machen.

Das drückt sich in unbestreitbarer Weise durch die Steigerung aus, die der Verkehr auf der bisher eröffneten Strecke erfahren hat und der sich nach der Eröffnung der Mandschureibahn in noch erhöhtem Maße bemerkbar machen wird. Gegenwärtig laufen nach jeder Richtung täglich zehn Züge, und so sehr man auch darauf bedacht nimmt, die Ausweichstellen zu vermehren, dürfte es vorläufig im Interesse der Sicherheit kaum möglich sein, noch weitere für den regelmäßigen Verkehr einzulegen. Es wäre durchaus denkbar, dass schon binnen kurzer Zeit mehr Passagiere die Eisenbahn durch Sibirien benutzen wollen, als mit den Luxus und Postzügen befördert werden können. Diesem Übelstand könnte nur durch den Ausbau eines zweiten Gleises abgeholfen werden. Ab und zu tauchen in der russischen Presse auch bestimmte Wünsche dieser Art auf. Aber für die nächste Zeit ist schwerlich daran zu denken, dass sie in Erfüllung gehen werden.

Die Beseitigung der Mängel, die sich auf der ungeheuren Strecke bemerkbar gemacht haben, sowie die bis aufs äußerste getriebenen Kraftleistungen beim Ausbau der mandschurischen Bahn legen der russischen Regierung in Bezug aus eine noch weitergehende Belastung die größte Vorsicht auf. Der Anlage eines zweiten Gleises stehen ferner die Konstruktionen der Brücken über die großen sibirischen Ströme als ein schwer zu beseitigendes Hindernis entgegen, denn sie sind ebenfalls sämtlich nur auf den eingleisigen Betrieb berechnet, und ihr Umbau würde unendliche Mühen und Kosten verursachen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Frachten, wenn die Güterzüge sich immer mehr häufen und Verkehrsstockungen hinzukommen, unterwegs liegen bleiben und die Zeitersparnis trügerisch machen, die man bei der Benutzung des Landweges erreichen wollte. Außerdem ist der Gütertransport auf der Eisenbahn selbstverständlich unvergleichlich teurer als auf den Schiffen, so dass die Dampfer, namentlich für solche Waren, bei deren Ablieferung es nicht so sehr auf Schnelligkeit ankommt, von den Handelshäusern auch in Zukunft bevorzugt werden dürften.

Vergleichen wir einmal beide Verkehrswege nach dem Osten in ihren Licht und Schattenseiten, um zu erkennen, welcher Entwicklung das Reisen auf ihnen in Zukunft entgegensehen kann.

Es gibt keine angenehmere Art des Reisens als eine längere Seefahrt bei strahlendem Sonnenlicht und mäßig bewegtem Wellengang, namentlich auf unseren schönen deutschen Schiffen, die an Zuverlässigkeit ihrer Führer, tüchtiger Schulung der Mannschaften, Eleganz und Sauberkeit aller Einrichtungen, sowie in Bezug auf die Leistungen von Küche und Keller unübertroffen dastehen. Eine solche Fahrt auf hoher See kann zur schönsten Badereise werden, die sich denken lässt, und uns von allen kleinlichen Sorgen, wie wir sie in unserer Berufstätigkeit auf dem festen Lande oft nur zu sehr empfinden, auf Wochen befreien, uns körperlich und seelisch zu neuen, verjüngten Menschen machen.

Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht erfreut uns das Leben und Treiben auf dem Schiff mit dem Kreis persönlicher Beziehungen, der sich täglich erweitert, und den an Abwechslung so reichen Beobachtungen, die wir auf dem Meer machen. Je länger eine solche Fahrt dauert, desto erquickender kann sie auf unseren Gemütszustand wirken. Wie oft hat uns eine wirkliche Schwermut erfasst, wenn wir das „schwimmende Hotel“, zu dem wir allmählich ein wohltuendes, persönliches Verhältnis gewannen, das uns mit allem Drum und Dran als Eigentum zu gehören schien, wieder verlassen mussten! Darum wird eine Seefahrt auch auf dem weiten Wege zum Stillen Ozean immer viel Verführerisches haben, und wer sie unter erfreulichen Umständen mitgemacht hat, braucht die andern nicht zu beneiden, die sich zwei Wochen lang in der Enge ihres Eisenbahncoupés herumdrücken und von dem unaufhörlichen Rollen der Räder, oft bei Staub und Hitze, in den Schlaf singen lassen mussten.

Es gibt unter Umständen aber auch nichts Öderes und Trostloseres als eine Seefahrt, wenn der Meergott sich gegen uns verschworen hat, mit seinen Stürmen unser Schiff verfolgt, und die Wellen in wildem Aufruhr über Bord schlagen lässt, so dass auf dem Deck alles von den Fluten überschwemmt wird. Da wollen uns weder Trank noch Speise schmecken, und wir suchen den engen Raum unserer Kajüte auf, um, ein Bild des Jammers, dem Neptun mitleiderregende Opfer zu bringen. Alles schwankt, bebt und kracht zu unseren Füßen, der Wille zum Leben ist fast gänzlich verschwunden, und wir fragen uns, weshalb mit dem völligen Erlöschen des schwachen Fünkchens, das noch in uns glimmt, nicht aller Qual ein Ende gemacht wird. In solchen Augenblicken wird der Reisende zur See, der eine wochenlange, ihm endlos scheinende Fahrt auf dem unermesslichen Ozean vor sich hat, mit Neid an den Passagier denken, der dasselbe Ziel in so viel kürzerer Zeit erreichen kann und vor dergleichen elementaren Ereignissen, wie sie das Schiff bedrohen, ein für allemal geschützt bleibt.

So haben beide Verkehrsarten ihre Licht und Schattenseiten je nach dem Zweck, den man dabei verfolgt, und den Umständen, von denen die Fahrt begleitet ist. Aus den Gründen, die wir hier angeführt haben, braucht man daher keineswegs zu dem Schluss zu gelangen, dass die sibirische Bahn dem Dampferverkehr nach dem fernen Osten bedenklichen Abbruch tun werde. Das darf man schon deshalb bezweifeln, weil Vorder- und Hinterindien, endlich Hongkong, das als Hafen für Kanton zwischen dem Land und Seewege etwa auf der Mitte liegt, in jedem Fall den Dampfern verbleiben. Man wird vielmehr annehmen müssen, dass beide Verkehrswege sich ergänzen und, anstatt sich durch den etwaigen Wettbewerb zu schädigen, nur eine Steigerung der allgemeinen Reiselust zur Folge haben werden. Für längere Zeit dürfte das östliche Asien einen der interessantesten Teile unseres Erdballs bilden und die Gedanken und Hoffnungen, Sorgen und Wünsche Europas immer lebhafter beschäftigen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China