Es war am Sonnabend, 26. Januar, in diesem Jahre des Heils 1884. Ich ging abends vom Museum nach Hause. Der Regen peitschte mir das Gesicht mit einer Heftigkeit, die selbst hier in Bergen ungewöhnlich war. Am Himmel jagten schwarze Wolken. Das Thermometer zeigte viele Grade Wärme, das Barometer sank und sank und stand auf Erdbeben. Wahrhaftig ein Wetter, das der Verzweiflung nahe bringen konnte. Das sollte also der norwegische Winter sein! ...

Es war am Sonnabend, 26. Januar, in diesem Jahre des Heils 1884. Ich ging abends vom Museum nach Hause. Der Regen peitschte mir das Gesicht mit einer Heftigkeit, die selbst hier in Bergen ungewöhnlich war. Am Himmel jagten schwarze Wolken. Das Thermometer zeigte viele Grade Wärme, das Barometer sank und sank und stand auf Erdbeben. Wahrhaftig ein Wetter, das der Verzweiflung nahe bringen konnte. Das sollte also der norwegische Winter sein!

Die Geschäftsleute hasteten die Straße entlang, den Regenschirm gegen den Wind, den Kopf tief zwischen den Schultern. Nach vollbrachter Wochenarbeit strebten sie dem gemütlichen Heim zu.


Morgen war Sonntag. Erst noch einen Abstecher nach dem Postamt, um nach Post zu fragen; dann nach Hause, um es mir gemütlich zu machen und alle Schlechtigkeit der Welt und des Wetters zu vergessen.

Ich hatte mich im Lehnstuhl zurechtgesetzt. Einen flüchtigen Blick in das eben angekommene Sportblatt; dann wollte ich mich in meine Studien vertiefen. Doch was stand da ? Schneeschuhwettlauf auf der Husebyhöhe am 4. Februar. War es möglich ? Sollte es wirklich irgendwo in norwegischen Landen Schneeschuhbahn geben ?
Schneeschuhe und Schneeschuhbahn waren wohl das, was noch vor einem Augenblick meinen Gedanken am fernsten gelegen hatte. Nun ergriff es mich mit unwiderstehlicher Gewalt: Lockend weiß stand der Nadelwald unter der Schneedecke; die Dörfer mit den Halden, Hügeln und den Bergen lagen blank und weiß da und glitzerten im Sonnenschein. Alles so frisch und so leicht in der klingenden Winterkälte. . .

Der Sonntag kam und brachte noch mehr Sturm und Regen. Am nächsten Morgen wollte ich aufs Meer hinaus zur Tiefseeforschung. Aber die Gedanken gaben keine Ruhe. Ich mußte in den Zeitungen der letzten Tage nach den Wetterberichten schauen. Nein, Wärmegrade übers ganze Land, nirgends konnte es Schneeschuhbahn geben. Da unternahm ich lieber meine Meerfahrt.

Am Nachmittag aber half nichts mehr: fort mußte ich, und ich ging zum Oberhaupt des Museums, zum alten Doktor Danielsen. Er war verständnisvoll wie immer, und ich bekam Reiseurlaub. Nun galt es, alles für meine Abwesenheit zu ordnen, dann konnte ich am nächsten Morgen um halb sieben Uhr mit dem Zuge abfahren.

Alle vernünftigen Freunde meinten natürlich, es sei Wahnsinn, in dieser Zeit über das Gebirge reisen zu wollen, und schüttelten den Kopf – aber Jugend hat keine Tugend. . .

Endlich saß ich im Abteil, und es ging nach Voß hinauf. Der Regen trommelte auf das Wagendach. Na ja, ein schönes Schneeschuhwetter das ! Aber höher oben würde es wohl besser werden. Durch Tunnels und Einschnitte ging es, an Abgründen vorüber, die engen Fjorde entlang. Als wir weiter hinaufkamen, begannen die Abhänge der Berge hoch oben weiß zu werden. Das hob sofort die Hoffnung: im Gebirge gab es sicher Kälte und Schnee.

Um zwölf Uhr brachen der Hund und ich von Voß auf. Wir schlugen den Weg durch das Rauntal ein; von dort wollten wir nach Gol im Hallingtal hinübergehen. Das ist ein etwas weiter Weg übers Gebirge. Dafür wird aber der Weg nach dem Ostland um so kürzer.

Die Schneeschuhe auf den Schultern, stieg ich getrost in rieselndem Regen aufwärts. Es würde schon besser werden, wenn ich erst ins Gebirge hinaufkam; dorthin wollte ich bis zum Abend gelangen. Ich ging und ging, aber beständig lag der Nebel dicht und schwer über den Abhängen zu beiden Seiten des Tals, und die Regentropfen fielen gleich schwer und ungemütlich.

Unterwegs fragte ich, ob jemand wisse, wie die Schneeschuhbahn im Gebirge sei. Aber man schüttelte nur den Kopf und meinte, bei solchem Wetter sei nicht ans Gebirge zu denken.

Als ich mich dem Sverresteig näherte und es noch nicht aussah, als wenn es besser werden sollte, dachte ich, es sei doch vielleicht vernünftiger, umzukehren und den Weg über Gudvangen und von da ins Lärtal einzuschlagen. Von dort konnte ich auf der Poststraße weiterkommen, mochte dann das Wetter sein wie es wollte.

Gedacht, getan. Und da ich auch einen Pferdehändler mit Pferd und Schlitten traf, der auf demselben Weg nach dem Ostland wollte und sich erbot, die Schneeschuhe mitzunehmen, so ging ja alles in schönster Ordnung.

Am Abend erreichte ich Vinje. Hier war schon gute Schneeschuhbahn, nur war es noch etwas zu mild. Der Mann mit den Schneeschuhen und noch ein Pferdehändler, der sich angeschlossen hatte, übernachteten auf dem Nachbarhof. Sie versprachen bei mir vorzusprechen, bevor sie am nächsten Morgen aufbrachen.

Nach der ungewohnten Bewegung schlief ich gut. Der Tag war schon ziemlich weit vorgeschritten, als ich erwachte. Ich richtete mich auf, um durchs Fenster zu schauen. Doch was für ein Anblick: Eisblumen an den Fenstern ! Es war unmöglich hindurchzusehen. In aller Eile stand ich auf und durch Reiben und Hauchen taute ich soviel von dem Fenster auf, daß ich erkennen konnte: es war klares Frostwetter mit Neuschnee. Das gab einen Jubel. . .

Hastig verzehrte ich das Frühstück, und dann sprang ich nach dem Nachbarhof hinüber, um die Schneeschuhe zu holen; nun sollte es nach Gudvangen gehen. Aber ach, die Männer waren vor einer halben Stunde abgefahren und hatten die Schneeschuhe mitgenommen.

Das kühlte mir das Blut ab. Aber wenn ich sie noch vor dem Stahlheimhügel einzuholen vermochte, dann konnte ich dort ja doch noch die Schneeschuhe gebrauchen. Aber bis dahin war es nur eine Meile (alte norwegische Meile = 11 Kilometer), und da ist eine halbe Stunde ein großer Vorsprung.

Ich eilte die Anhöhen hinan. Es war schwer, im Schnee zu gehen; aber das Wetter war herrlich. Ringsum strahlten die Berge blendend weiß in der Sonne. Die Nadelbäume standen feierlich still unter der Decke von Neuschnee. Es war Winter, strahlender Winter, und ihn hatte ich ja gesucht. Auch der Hund freute sich des Lebens und wälzte sich im Schnee.

Aber ach so tot, so öde ! Nirgends ein Schneeschuhläufer, nirgends eine Schneeschuhspur zu sehen. Gab es denn hier keine Menschen ? Doch da lagen ja viele Gehöfte. Aber die Männer verschlafen wohl in dieser Gegend des Landes den größten Teil des Winters. Dunkel und leblos stehen die Gehöfte auf dem weißen Schnee; nur der Rauch steigt träge aus den Schornsteinen auf. Die Weiberleute arbeiten, während das Mannsvolk in den Stuben herumhockt. Draußen breitet sich eine glänzende Schneeschuhbahn, und im Gebirge gibt es Wild genug. Welches Winterleben könnte sich hier entfalten, wenn sie nur die Schneeschuhe gebrauchen lernten ! . .

Weiter ging es an schneebedeckten Abhängen entlang, über fischreiche Wasser, die unter Eis und Schnee schliefen und auf den Sommer warteten. Und dann durch kleine schöne Wälder. Hier und da lief eine Hasenspur über den Weg. Puß hatte es jetzt schwer, im Schnee vorwärtszukommen, der Arme.

Nach und nach holte ich die Männer mit meinen Schneeschuhen soweit ein, daß ich sie in den Windungen der Straße erkennen konnte. Ich begann zu springen und erreichte sie auch wirklich.

Welcher Jubel, die Schneeschuhe unter den Füßen zu fühlen – und erst, wenn ich eine Anhöhe hinabsauste ! Das war wahrhaftig ein anderes Leben, als in Bergen durch Regen und Schmutz zu waten. Die Schlitten waren bald außer Sicht.

Aber dort war Gelegenheit zu einem schönen Sprung über den Weg. Die Lust, die alten Künste zu probieren, erwachte mit einem Male: erst hinauf und dann hinunter. O wie gut es tut, sich dem Himmel näher zu fühlen ! Aber der Rucksack muß herunter. Noch höher, noch geschwinder, und nun – hopp – wie eine Möwe herabschweben ! Ja, man fühlt: noch ist Kraft und Saft in den steifgewordenen Gliedern.

Doch nun war es mit einem Male auf den Höfen ringsum lebendig geworden. Wie im Frühjahr die Ameisen aus dem Bau, so wimmelten sie heraus, Junge und Alte; alle mußten sie sehen, was das war, das da oben sprang.

Ich hatte Durst bekommen und steuerte dem nächsten Gehöft zu. Und nun gab es wieder ein Wettrennen in das Haus hinein. Einer vor dem anderen, alle auf einmal; nur ein alter Mann stand noch da, als ich ankam.

„Wie heißt dieser Hof ?“

„Du kannst aber Schneeschuhlaufen.“

„Wie weit ist es wohl bis Gudvangen ?“

„Wo kommst du denn her ?“

„Ich komme von Bergen und will nach dem Ostland. – Glaubst du, daß ich hier etwas Milch bekommen kann ?“

„Du willst also übers Gebirge? Das sind feine Schneeschuhe. Was ist denn heute für Wetter?“

Nein, ich mußte wohl hineingehen. Vielleicht ging es dort besser.

Ich schnallte die Schneeschuhe ab und trat in eine Stube, die der Dunst von Menschen und Tieren erfüllte. Die Wände entlang und oben in den Betten standen, saßen und lagen Frauen und Männer, Mädchen und Knaben. Auf dem Boden krabbelten Kinder im Verein mit Ferkeln und Hühnern und andern Tieren.

„Kann ich einen Tropfen Milch bekommen ?“

Eine lange Pause. Dann kommt von einer Frau die langgezogene Antwort:

„Ich weiß nicht.“

Das gab mir Hoffnung.

„Habt ihr denn nicht etwas Milch ?“

„O ja, die haben wir wohl.“

„Kann ich denn etwas kaufen ?“

„Willst du vielleicht saure Milch haben ?“

„Danke, am liebsten möchte ich süße, wenn es geht.“

„O ja, die kannst du schon haben.“

Dann geht sie endlich zu einem Gesims, um eine Kanne herunterzunehmen; die Milch war gut und tat gut.

„Wieviel bin ich schuldig ?“

„Ich weiß nicht. Es ist ja nicht des Bezahlens wert.“

Ich legte einige Pfennige auf den Tisch und bedankte mich.

„Nein, das ist zuviel.“ Als sie aber sah, daß ich verschwand, rief sie hinterdrein:

„Ja, dann also vielen Dank.“

Draußen umstanden eine Menge Männer meine Schneeschuhe. Sie waren von den Gehöften ringsum gekommen. Schneeschuhe und Bindung wurden an allen Ecken und Enden untersucht, und als der Besitzer selber kam, der auch.

Ich schnallte die Schneeschuhe an und fuhr die Anhöhe hinauf. Hinter mir her hörte ich: „Das waren feine Schneeschuhe !“ „Was er für einen kleinen Stock hat !“ „Wie groß der Hund ist !“ –

In Gesellschaft eines der Pferdehändler, der gerade gefahren kam, zog ich weiter.

Wir waren in der Nähe von Stahlheim. Das Gebirgstal mit den kiefernbestandenen Abhängen lag tief unter Schnee. Unten im Grunde strömte der Fluß, und oben erglänzten in der Sonne die gewaltigen Berge weiß unter dem blauen Himmel. Das Tal ist hier wild und großartig. Vorn rechts schnitt eine enge Schlucht in das Bergmassiv ein, umgeben von wilden, zerrissenen Gipfeln. Wie ich so ging, dachte ich darüber nach, wohin sie wohl führen könnte. Den Grund sah ich nicht; der verschwand tief unten, aber die Berghänge gehörten zu den steilsten, deren ich mich je erinnerte.

Unwillkürlich wurden die Augen von diesem Spalt angezogen. Durchfuhr einen auch ein Kälteschauer, so oft man dahin sah, so konnte man sich doch nicht davon abwenden.

Auf einmal blieb ich stehen. Vor meinen Füßen hörte der Weg auf. Ich stand unmittelbar vor dem Schlund und sah plötzlich in einen Abgrund hinab. Nie hätte ich geglaubt, daß durch diesen Spalt der Weg nach Gudvangen ginge. Aber es mußte doch so sein. Ich wandte mich nach dem Pferdehändler um, der mir folgte. Ja, es war wirklich so: wir standen auf dem Gipfel des Stahlheimhügels, am Ende des Närötals.

Ich schaute hinunter. Der Fluß und der Talgrund schlängelten sich dort unten wie ein schmales Band. Ich blickte in die Runde: vorn war das Närötal mit seinen steilen Wänden; über sie stürzten die gefrorenen Gebirgsbäche in ihrem blaugrünen Winterstaat, hier und da lag der Schnee auf Absätzen in weißen Streifen die vereisten Bergwände entlang, und darüber hingen die Schneewächten, bereit, beim ersten Tauwetter abzubrechen. Unmittelbar rechts war ein Schlund, in den der Stahlheimfall mit dumpfem Brausen unter der Eisdecke hinabstürzte. Ein Stück weiter links donnerte ein anderer Wasserfall in eine ähnliche Kluft. Gerade unter mir wand sich der Weg in kurzen Windungen von der einen Schlucht zur anderen, dem Talgrund zu. Über all das steigt der Kegel des Jordalsgipfels empor, hoch und jäh, wie ein gewaltiger Riese. Weiter hinten als Rahmen für diese vereiste, zugeschneite Gebirgskluft erhoben sich die Bergspitzen und verschwanden in dunkeln, schweren Wolken. Zuhöchst oben aber über dem Ganzen stand blau und klar der Himmel, während die Sonne auf Schnee und Eis im Vordergrund spielte.

Als ich in Betrachtung versunken dastand, sagte eine Stimme hinter mir: „Komm, laß mich deine Schneeschuhe probieren.“

„Nein, danke, mit denen werde ich selber fertig.“ Und ich begann abwärts zu gleiten.

Es ging bergab, bald am Rande der einen Schlucht, bald nach der andern hinüber. Es gab viele kurze Windungen. Bei jeder mußte man bremsen, sich gut einwärts lehnen und dann mit um so größerer Schnelligkeit weiterfahren, sobald es wieder geradeaus ging.

Unterwegs sauste das Bild eines Bauern an mir vorbei, der vor Schreck ganz in die Bergwand hineingekrochen war.

Noch ehe ich recht zur Besinnung gekommen, war ich drunten auf dem Talgrund. Von oben kam der Hund wie ein brauner Knäuel hinterher. Das Pferd konnte ich nicht mehr sehen.

Ich fuhr weiter. Der Weg führt den Fluß entlang. Der Grund des Närötals bis Gudvangen ist so flach, daß sich kaum eine Anhöhe findet. Der Talboden ist schmal. Zuweilen ist gerade noch Platz für Fluß und Straße, und auf beiden Seiten steigen die Gebirgswände schroff in die Höhe. Hoch oben hängen die Schneewächten, zwischen ihnen ein Streifen blauen Himmels.

Hier und da lagen große Schneelawinen. Sie folgen im Närötal rasch aufeinander, und unglaublich sind die Geschichten, die man von ihnen zu hören bekommt. Man muß sich geradezu wundern, daß Menschen hier leben wollen, am Fuße dieses immer drohenden Berges. Aber sie gewöhnen sich so daran, daß eine Lawine für sie etwa soviel bedeutet wie für uns ein Gewitter. Wenn sie nur sehen, daß die Lawine nicht ihren Weg kreuzt, so sind sie ruhig, wenn sie kommt, auch wenn der Boden unter ihnen wie bei einem Erdbeben erzittert. Der Luftdruck, der der Lawine voranzugehen pflegt, ist so stark, daß er weiter draußen, wie die Sage geht, Leute auf die andere Seite des Fjords hinübergeworfen hat.

Die Lawinen können zuweilen so groß sein, daß sie den ganzen Fjord füllen und Boote und was sie sonst auf ihrem Weg antreffen, unter sich begraben.

Einmal konnte sich ein Dampfer nur mit knapper Not retten. Als die Leute die Lawine kommen hörten, suchten sie unter Volldampf zu entkommen. Im letzten Augenblick gelang es ihnen auch. Nur das Achterende und ein Stück des Decks bis zur Kajütentreppe wurden mit Schnee angefüllt. Im Nu war der ganze Fjord voller Schnee, und wäre der Dampfer nur einige Schiffslängen zurück gewesen, so wäre er begraben worden und wohl niemals wieder an die Oberfläche gekommen.

Eine große Lawine war kurz vor meiner Ankunft in dem Fjord niedergegangen, und man bekam ordentlich Respekt davor, wie sie dort lag und sich weiß leuchtend von den dunklen Bergwänden an den Seiten und dem schwarzen Wasser darunter abhob.

In Gudvangen zeigten sie mir auch einen großen Block, der vom Gebirge herabgekommen war. Er hatte sich zu oberst auf dem Kamm losgelöst und war in drei Sprüngen herabgesaust. Beim zweiten Sprung war er wie eine Kanonenkugel quer durch beide Wände eines Hauses hindurchgegangen, mit einer solchen Geschwindigkeit, daß die Löcher, die er geschlagen hatte, nicht größer waren als er selbst. Beim dritten Sprung fuhr er durch Dach und Wand eines anderen Hauses, schlug eine Frau tot und eine zweite zuschanden und bohrte sich dann in die erde ein, wo er noch lag.

Von Gudvangen ging es mit dem Dampfschiff am sternklaren Abend durch den Näröfjord und weiter nach dem Lärtal.

Am nächsten Morgen früh fuhr ich bei mäßiger Schneeschuhbahn durch das Lärtal hinauf. Das Wetter war ganz gut, aber der Schnee war schlecht, und der Weg wurde bald ganz schwarz, so daß ich die Schneeschuhe tragen mußte. Auch hier ist es eng und wild, aber nicht so wie im Närötal. Hier und da waren Lawinen niedergegangen, die nun weißleuchtend unten an den Berghängen lagen.

Im Verlauf des Vormittags ließ ich mich bei einem kleinen Bach am Wege nieder, holte den Proviant hervor und begann zu frühstücken. Eine tiefe Schlucht durchschnitt die jähe Bergwand bis zum Gipfel hinauf. An den gewaltigen Schneemassen konnte ich erkennen, daß eine große Lawine niedergegangen war.

Wie ich eben in die Umgebung vertieft dasaß, dem Getöse des Wasserfalls lauschte und an den Sommer dachte, da man mit der Angel am Fluß entlang gehen konnte – es gab hier so schöne Fischgumpen – wurde ich von einer gellenden Stimme aus meinen Träumen geweckt.

„Du bist wohl nicht recht bei Trost, dich hierher zu setzen, gerade unter eine Lawine ?“

Ich fuhr auf. Ein Bauer kam in schneller Fahrt auf einem Schlitten vorüber.

„Ach, es wird wohl nicht so gefährlich sein.“
„Nicht gefährlich ? O ja, es ist schon manchem hier schlecht gegangen. Kommen die Lawinen herunter, dann füllen sie das ganze Tal.“

„Man hört wohl, wenn sie kommt, und kann dann flüchten ?“

„Hören, wenn sie kommt ? Mann, das geht so schnell wie ein Büchsenschuß.“

Wie ich noch darüber nachdachte, kam wieder einer gefahren. Er trieb das Pferd an und rief mir zu, ich möge sehen, daß ich weiterkomme.

Weiter oben traf ich einige Männer, die mir erzählten, die Schlucht heiße Saueskluft und sei wegen ihrer Lawinen, die den ganzen Talgrund sperren können, die gefürchtetste Stelle im Lärtal. Sie kämen vom Gipfel herab und wüchsen durch den Schnee, der von beiden Seiten herabstürze, und auf ihrem langen Weg könnten sie eine unheimliche Größe erreichen. Was ich da sah, war nur der erste Absturz, der den Weg für das ebnete, was nachkommt und das nun zu erwarten war. Da würde ich etwas ganz anderes zu sehen bekommen.

So marschierte ich denn weiter. Bald konnte ich die Schneeschuhe wieder anschnallen, und es ging nun schnell durch die wilden Gebirgsschluchten hinauf. Der Fluß tief unten war mit Eis bedeckt, unter dem er einen ruhigen Lauf hatte. Um die offenen Löcher herum und von Loch zu Loch gingen Otterfährten. Hier lebt der Otter sommers und winters. Man erschauert, wenn man in diese schwarzen Löcher hinabsieht und sich vorstellt, man sollte untertauchen und in diesem kalten Wasser leben. Aber dem Otter geht es gewiß ganz gut, Fische gibt’s hier genug.

Auf einmal höre ich ein munteres lautes Zwitschern. Erstaunt sehe ich mich um. Gibt es hier auch Vögel ? Jetzt derselbe Klang wieder. Nicht von den Bergwänden herab, nein, von unten her. Da fliegt wahrhaftig der Sänger das Eis entlang, und nun taucht er mitten in den wilden Fluß hinein. Das war die Wasseramsel. Ihr ist das Leben nie zu schwer, außer wenn der Fluß zufriert und sie kein offenes Wasser mehr findet.

Weiter oben, nach Borgund zu, beginnt sich das Tal zu weiten. Nachdem ich an Huse vorübergekommen war, bog ich bei Vindhellen in den alten Weg ein, der in steilen Windungen aufwärts führt, dafür aber viel kürzer ist.

Über einen Felsrücken geht es an der andern Seite wieder bergab. Man kann hier weit in das schöne Borgundtal hineinsehen; unten rechts liegt die alte Holzkirche von Borgund, die neue Kirche unmittelbar neben ihr. Sie ist schön im Sommer, aber schöner noch ist sie anzusehen in dem weißen Winter, wenn ihre vielen Giebel und Dächer mit Schnee bedeckt sind.

Es war schon längst dunkel geworden, als ich gegen sieben Uhr in Burlo anlangte und die langen steilen Höhen zum Filefjell hinaufstieg. Der Weg war schwierig. Die Beine, die noch nicht recht geschmeidig waren, machten sich auch bemerkbar, und ich war den Tag über auf der schlechten Bahn nicht wenig gegangen. Doch hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, die Nacht in Breistölen zu schlafen, und da mußte ich eben gehen, bis ich dorthin kam.

Ich band die Schneeschuhe zusammen und zog sie hinter mir her. Wenn nichts andres, so war es doch eine kleine Abwechslung, sie nicht mehr beständig an den Füßen zu haben.

Bald begann die Bergweite sich vor mir auszubreiten, während hinten das Tal im Dunkel lag. Über mir flimmerte der Sternhimmel und warf einen unsichern Schein über die Berge. Die Nacht war still, kein anderer Laut war zu hören als meine eigenen Schritte im Schnee.

Wie ganz anders war es doch, als ich im letzten Winter an Weihnachten hier wanderte; es war just um dieselbe Tageszeit. Jetzt dieser tiefe Friede. Man sieht geradezu in den Weltenraum hinein. Damals Sturm und Schneetreiben, das ganze Bergland im Gestöber, so daß man nur ein paar Armlängen weit sehen konnte. Der Gegenwind war so stark, daß man auf den Schneeschuhen zurückgeworfen wurde; man mußte sie abschnallen, um nur vorwärtszukommen. Der Hund jammerte und zitterte unter den Windstößen.

Endlich erglänzten auch diesmal die Fenster von Breistölen lockend in die Nacht hinein, und bald war ich unter Dach.

„Herrjesses, ist denn jemand noch so spät in der Nacht im Gebirge ?“

„Jawohl, es ist einer da.“

„Ach nein, du bist’s ? Du bist ja immer so spät unterwegs.“

Ich bekam Milch, und dann ging’s ins Bett. Es läßt sich nicht leugnen, es gibt wenige Genüsse im Leben, die den übertreffen, sich nach einem beschwerlichen Tag in einem guten Bett auszustrecken, nachdem man den Durst gestillt und sich satt gegessen hat.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf Schneeschuhen übers Gebirge