Mitte März 1916 saß ich abends in dem gemütlichen Gastzimmer des Hotels in Finse und sprach davon, daß ich Lust hätte, noch einmal auf Vosseskavlen zu stehen und wie in der Jugend Umschau zu halten und dann den Abstieg auf Schneeschuhen zum Kaldesee hinab und weiter zu versuchen. Andreas Klem, der Direktor von Haugastöl, mit dem ich zusammen war, fing sofort Feuer. Wohl schneite es im Gebirge, im Westen aber war klares Wetter, dessen versicherte er sich sofort durch das Telephon. ...

Mitte März 1916 saß ich abends in dem gemütlichen Gastzimmer des Hotels in Finse und sprach davon, daß ich Lust hätte, noch einmal auf Vosseskavlen zu stehen und wie in der Jugend Umschau zu halten und dann den Abstieg auf Schneeschuhen zum Kaldesee hinab und weiter zu versuchen. Andreas Klem, der Direktor von Haugastöl, mit dem ich zusammen war, fing sofort Feuer. Wohl schneite es im Gebirge, im Westen aber war klares Wetter, dessen versicherte er sich sofort durch das Telephon.

„Fein-feine Schneeschuhbahn ! Morgen früh ziehen wir los.“ Nun wohl !


Vor Sonnenaufgang kamen wir mit dem Zug über das Hochland nach Station Hallingskeid, gerade der Stelle, wo ich an jenem Winterabend vor 32 Jahren nach einer eingeschneiten Sennhütte gesucht hatte, um dort die Nacht zu verbringen. Auch jetzt hatte ich einen Hund mit.

Die Schneeschuhbahn war gut. Es ging die langen Lehnen von der Station nach dem Gröntalsee hinab, dann über das Eis und das Tal zum Vosseskavlen hinauf. Es war blauer Himmel, und bald kam die Sonne. Ungefähr dasselbe Wetter und dieselbe Bahn wie damals, als ich zuletzt hier fuhr. Nur schien mir der Weg vom Gröntalsee bis zum Skavlen viel länger zu sein als damals.

Endlich waren wir beim höchsten Gebirgssee angelangt. Ja, ich fand mich so ziemlich wieder zurecht. Da waren die schroffen Bergwände auf allen Seiten und die lange schwere Steigung zum Skavlen hinauf; eine mächtige Schneemenge war auch da. Aber trotzdem war es anders. Die Steigung schien mir nicht ganz so schroff, wie ich sie in der Erinnerung hatte, und dann hingen jetzt keine Schneewächten über. Es war leichter hinaufzukommen, und der Hund hatte keine Schwierigkeiten.

Vom Vosseskavlen hatten wir dieselbe Aussicht über diese weiße Bergweite wie einst. Sie war sogar noch wunderbarer, als ich sie in der Erinnerung hatte, und Andreas Klem fand, nie habe er etwas Schöneres gesehen, soviel er auch diese Berge durchstreift habe.

Die Fahrt über den Gletscher vom Rande der obersten weißen Fläche bis zum Kaldesee hinab gestaltete sich noch großartiger, als ich mich erinnern konnte.

Es war ein mächtiger Abhang, und wir bekamen eine tüchtige Geschwindigkeit. Aus Leibeskräften bremsten wir mit dem Stock; es ging aber schneller, als uns lieb war. Schneewehen waren auch viel mehr vorhanden als jenes Mal, und es war schwer, die Herrschaft über die Schneeschuhe zu behalten, während sie über die wellenförmige Fläche tanzten und man sich auf den Stock stützte. Mitten in der schnellen Fahrt rutschten die Schneeschuhe zu beiden Seiten einer Schneewehe aus. Die Beine kamen immer weiter und weiter auseinander; es war, als sollte man in der Mitte gespalten werden. Aber im letzten Augenblick, bevor das Unheil eintrat, gelang es mir, die Schneeschuhe wieder aneinanderzureißen. . . Klem erzählte mir später, ihm sei es ebenso gegangen, aber auch er habe sich noch im letzten Augenblicke gerettet.

Wir fuhren nun mehrere Bogen, um die Geschwindigkeit etwas zu mäßigen. Endlich ging es die letzte schroffe Böschung hinunter, gerade auf den See zu, und in rasender Schußfahrt sausten wir weit aufs Eis hinaus.

Wir schauten zurück. Derselbe Anblick wie damals. Hoch oben ein schwarzer Fleck, der Hund. Welch gewaltigen Eindruck machte nicht diese Anhöhe, die von dort oben auf uns herabkam ! Wir konnten den Anfang nicht sehen.

Andreas Klem sagte, nie habe er einen „flotteren Lauf“ gehabt, aber man fühlte es auch in den Beinen.

Seit ich das letzte Mal hier gefahren, waren viele von denen, die am Bau der Bergbahn beteiligt waren, in diese Gegend gereist, und während der Arbeit am Gravehalstunnel war ja ein beständiger Verkehr über das Gebirge hin und zurück.

Man hatte später mehrere leichtere Übergänge gefunden, besonders einen Schneeschuhweg, der der Doktorweg hieß, nach dem Dr. Bruun, dem Distriktarzt von Ål, der damals Arzt bei der Tunnelunternehmung war. Dieser Weg sollte weiter östlich vom Kaldesee nach dem Myrtal hinabführen.

Ich wollte am liebsten meine alte Straße ziehen; deshalb fuhren wir durch das enge Gebirgstal hinunter. Hier lag auf dem Schnee eine blanke Eiskruste, die uns zwang, sehr behutsam zu fahren.

Endlich erreichten wir denselben Talkessel, in dem mir das letzte Mal Halt geboten war. Aber es war wahrhaftig viel schlimmer, als ich mich erinnern konnte. Wir kamen an dieselbe überhängende Schneewächte und mußten zurück, und nirgends schien es einen Abstieg zu geben.

Wir versuchten es an einer Stelle, wo keine Wächte überhing, und kamen auch ein Stück herab; aber die Schneewand fiel steil ab und hatte streckenweise eine harte Eiskruste. Die Schneeschuhe in der einen Hand, mußten wir Stufen in das Eis stampfen, während wir mit der andern Hand den Stock hineintrieben, um uns an ihm zu halten. Ich war besser dran als Klem. Da ich keinen Schneeteller am Stocke hatte, konnte ich diesen tiefer hineinstoßen. Es ging ein scharfer Wind. Schlimme Windstöße kamen über die Bergwand auf uns herab.

Schließlich wurde der Abfall so steil, daß es uns nicht mehr geheuer war. Der Schnee war fast ganz vereist, und es war nicht leicht, Fuß zu fassen. Wir ließen den Rucksack fahren, um auf alle Fälle ihn los zu sein. Er sauste hinunter und wurde immer kleiner, bis er endlich das Tal erreichte. Tief unten sahen wir ihn als einen schwarzen Punkt. Denselben Weg würden wir nehmen, wenn der Fuß ausglitt. Aber die Schneewand war ganz glatt und ging allmählich in den Talgrund über. Vielleicht war es doch nicht das Schlimmste, wenn wir uns auf den Rücken legten und hinabrutschten, aber wir wollten uns nicht gern auf das Experiment einlassen. Man konnte nicht wissen, was wir an Kleidung noch am Leibe haben würden, wenn wir unten ankamen.

Wir sahen uns um. Oben unter der hängenden Wächte war eine Art Kluft. Vielleicht war dort besser hinunterzukommen. Wir gingen zurück und hinauf und machten den Versuch. Eine Weile ging es gut, aber da stürzte der Hund über die Wächte hinab, überschlug sich in der Luft und fiel auf einen kleinen Fels am Rande des Abgrunds. Dort faßte er Fuß und war beborgen. Er war offenbar oben auf der Wächte infolge eines Windstoßes ausgeglitten.

Bald wurde der Abstieg schroffer, der Schnee härter und verharscht, und die Windstöße wurden nicht schwächer. Wir fanden es schlimm und wären am liebsten zu der Stelle zurückgekehrt, wo wir es zuerst versucht hatten. Aber nein, nun mußten wir da weiter, wo wir waren. Indem wir eine Stufe nach der andern stampften, kamen wir auf die Felswand auf der andern Seite der Kluft hinüber. Dort war der Schnee weicher und der Abstieg leichter. Endlich konnten wir wieder die Schneeschuhe anschnallen, und dann ging es zum Rucksack im Talgrunde hinab.

Ich konnte mich nicht entsinnen, damals, als ich hier allein ging, etwas so Schlimmes erlebt zu haben wie der Abstieg in dieser Schlucht. Es mußte aber wohl ebenso gewesen sein, und mich erfaßte beinahe Bewunderung für mich selber, daß ich das geleistet hatte, ohne einen tieferen Eindruck behalten zu haben.

Mit der Erinnerung ist es übrigens eine merkwürdige Sache. Den Aufstieg hatte sie eher schlimmer gemacht als es war, aber die Hügel und Abhänge abwärts um vieles geringer und leichter als in Wirklichkeit. Kommt das vom Alter ? Während die Schwierigkeiten des Aufstiegs nicht sonderlich größer werden, ja dem ungeduldigen, unerfahrenen Jüngling vielleicht schlimmer erscheinen, überwindet die Jugend im leichten Spiel alle Schwierigkeiten des Abstiegs. Das Alter macht behutsamer.

Nun ging es einen schönen Abhang nach dem andern hinab und schließlich noch die langen Halden nach Opset zu. Hier briet uns die Sonne, und wir mußten uns von allen Hügeln fernhalten, die nicht im Schatten lagen. Endlich erreichten wir den Talgrund und sollten nun zur Station Opset hinauf. Die Schneeschuhe wollten nicht mehr gleiten. Wir versuchten es auf alle Weise, sie in Gang zu bringen, aber schließlich mußten wir verzweifelt nachgeben und stolperten hinauf, mit fußdickem Schnee unter jedem Schneeschuh, bis wir endlich an die Eisenbahnlinie und an die Häuser kamen.

Es war über eine Stunde, bis der Zug abging, mit dem wir nach Finse zurückfuhren. Dort nahmen wir um halb drei Uhr ein üppiges Mahl ein.

Welche Wandlung ! Wie sich doch alles auf einmal ändern kann !

Seit Sverres Zeiten – und schon lange vor ihm – war hier oben bis vor wenigen Jahren alles beim alten geblieben – dieselbe Einsamkeit im Winter über diesen Bergweiten.

Aber jetzt ! Der Pfiff der Lokomotive durchgellt die Stille, keuchend fahren die Züge hin und zurück. Der schwarze Steinkohlenrauch schlägt zu den Tunnelmündungen heraus und steigt zum blauen Himmel empor – und die sogenannte Kultur mit ihren großen Hotels und ihren unvermeidlichen „Touristen“ kriecht höher und höher in die Berge hinauf.

Ja freilich, es ist ja „bequem“ und „komfortabel“. Du kannst des Abends in Kristiania zu Bett gehen und am frühen Morgen in Finse oder Hallingskeid zum Frühstück aufstehen und am Vormittag einen Spaziergang nach dem Hardangergletscher oder zum Vosseskavlen unternehmen. Das bringt viele Leute ins Gebirge hinauf, die sonst nie dorthin gekommen wären.

Aber ach, wenn nur nicht so vieles andere mitfolgte, was die Menschen nicht hebt. Allerhand Luxus, Essen und Trinken und Toiletten und Kartenspiel und Narrenstreiche ! Jetzt gehen die Leute hinauf ins Hochland, in eines dieser großen Hotels, um die Zeit totzuschlagen, und tage- und wochenlang leben sie ein so lärmendes Leben, daß sie in die Stadt hinabmüssen, um sich auszuruhen. . .

Die Bergweite, die den Menschengeist erhebt und ihm die großen, einfachen Linien geben könnte, sehen die wenigsten. Ich glaube, sie war doch wohl besser, die eingeschneite Almhütte, die ich suchte und nicht fand. . .

Ich habe eine Erinnerung, die sich mir oft aufdrängt. Es war bei der Heimkehr von der Nordpolfahrt. Fest auf Fest war in den Städten gefeiert worden. Die „Fram“ glitt bei strahlendem Sonnenschein in den breiten schönen Fjord von Drontheim hinein. Dampfer, über und über flaggengeschmückt, schwarz von Menschen, fuhren den heimkehrenden entgegen. Hurra- und Hochrufe, Kanonensalut, Jubel ringsum zu Wasser und zu Lande. Da trat Peter Hendriksen zu mir auf der Brücke heran.

„Du, N.“, sagte er, „schön mag das wohl sein, aber es ist zuviel Lärm. Ich denke ans Eismeer. Dort hatten wir’s gut.“

Und er sah mich an, mit seltsamer Wehmut in den treuen Kinderaugen.

War es die Sehnsucht dorthin zurück, wo der Himmel so hoch war, die Luft so rein, so einfach das Leben? - Zurück in die Einsamkeit, in die Stille, in die Größe?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf Schneeschuhen übers Gebirge