Die Mission der Wahrheit

Alle Geheimnisse liegen in vollkommener Offenheit vor uns. Nur wir stufen uns gegen sie ab, vom Stein bis zum Seher. Es gibt kein Geheimnis an sich, es gibt nur Uneingeweihte aller Grade.


Ein vorläufiger kritischer Gedankenstrich: daß man über ein gewisses Maß hinaus nicht wissen könne, verwandelt sich unvermerkt in das Postulat, niemand habe außer den ‚nun einmal festgestellten‘ Grenzen etwas zu suchen. Man fühlt sich vor solchem Doktrinarismus an das Gebahren kleiner Kaufleute erinnert, die von einer Ware, die sie nicht führen, erklären, es gäbe diese Ware überhaupt nicht.


Du siehst in etwa 100 Meter Entfernung einen Mann Holz spalten. Das auf den Hackblock geschmetterte Scheit sinkt bereits nach links und nach rechts auseinander — da erreicht dich erst der Schall. So mögen wir die Welt ein halbes Leben lang betrachten, bis wir das Wort vernehmen, das zu ihr gehört, die Seele, die von ihr redet.


Niemand wird die Welt verstehen, der sie von heut auf morgen verstehen zu müssen glaubt, der sich über die augenblickliche Konfiguration der Erde nicht so hinwegzusetzen vermag, daß ihm heut und morgen zu Unwesentlichkeiten werden. Niemand wird die Götter und ihre Werke verstehen, vor dem tausend Jahre nicht wie ein Tag sein können und wie eine Nachtwache.


Man muß aufhören können zu fragen, im Täglichen wie im Ewigen.


Weder ‚ich‘ bin, noch jener ‚Baum‘ ist, sondern ein Drittes, nur unsere Vermählung, ist.


Über jedem Gedanken, jeder Vorstellung liegen hundert Gedanken und Vorstellungen, die uns das jeweils Gedachte, jeweils Vorgestellte verhüllt.


Es gibt kurz- und weitsichtige Idealisten. Jene pflegen sich mit Stolz Realisten und den anderen Teil schlechtweg Idealisten zu nennen.


Die Rhetorik ist die Politik in der Philosophie. Der wirkliche Philosoph ist nicht Politiker, sondern Künstler. Er ‚redet‘ nicht, er bildet, baut.


Der Systematiker nötigt mich, ihm seinen Weltbau nachzudenken. Er sagt: Baue mir meine Gedankengebäude nach — und mit ihm bauend werde ich selbst zum Gedankenbaumeister. Er wendet sich an das reine Denken in mir, an den Geist.
Der Nichtsystematiker wendet sich mehr an die — Seele. Hegel. Nietzsche.


Wer bei einem Denker vor allem fragt, aus welchem persönlichen Grunde hat er das gesagt, — fügt sich selbst den größten Schaden zu; denn er geht am einzig Wesentlichen in dessen Sätzen vorüber, daran nämlich, ob sie wahr in sich selbst sind oder doch sein können, oder nicht. Gewiß ist jede Philosophie von der Persönlichkeit ihres Erzeugers gefärbt und darf dementsprechend empfunden und gewürdigt werden; aber über alledem steht ihr Gehalt an Wahrheit, der nachgeprüft und entschieden werden kann, ohne Ansehen der Person ihres Urhebers.


Was wird einem geistigen Wanderer nicht alles angesonnen, über Kopf, Hals und Schulter gesonnen! Wieviel Mühe gibt man sich nicht, ihn und das Seinige abzuleiten! Als ob ein geistiger Weg nicht aus sich selbst verstanden werden könnte, müßte.


In aller Wahrheit steckt heute notwendigerweise bereits ein Teil Binsenwahrheit, aus dem einfachen Grunde, weil der Mensch schon lange denkt, während die Menschen erst zu denken anfangen, also das ganze Pensum des Menschen noch einmal zu rekapitulieren und, noch mehr, zu popularisieren ist. Der Mensch ist nicht so von Gott verlassen, wie die Menschen glauben, aber auch nicht immer in dem ausnehmenden Grade von Gott erfüllt, wie sie annehmen, wenn einer einmal etwas Unerwartetes sagt.


Die Mission der Wahrheit ist, den Menschen in Geist aufzulösen, wie, materialistisch gesprochen, die Mission der Zeit, den Erdball in Luft.


Mancher wird die ihm so bequeme Joppe des Materialismus mit nichts vertauschen wollen; es geht ihm, wie er sagt, ‚der Sinn für Feierlichkeit‘ ab.


Abstrakte Gedanken sind zuletzt auch nichts als — konkrete Wesenheiten; es ist ganz umsonst, das Leben aus dem Leben heraustreiben zu wollen.


Zu Ende denken ist alles … Da wäre das erste, diesen Satz zu Ende zu denken. Will man ihn zu Ende denken, so darf man ihn nicht ‚zu Ende‘ denken wollen. Denn alles Ende endet alles, also auch das Denken. Alles, also auch alles Denken, endet in Gott. Gott ist, wie der Anfang, so das Ende von allem. Etwas zu Ende denken wollen heißt also, es bis zu Gott hinaus denken wollen; Gott aber hat mit Denken nichts mehr zu schaffen.


Wie dereinst die sancta simplicitas des Glaubens, so schleppt heute die sancta simplicitas der Wissenschaft ihre Scheiter herbei, den ‚Ketzer‘ zu verbrennen.


Die Weltanschauungen mancher Menschen gleichen lächelnden Festungen.


Wenn einer heute in zehn Büchern dargetan, daß der Mensch nichts wissen könne über Gott und die Welt, dann nennt er sich, dann nennt ihn seine Mitwelt einen ‚Wissenden‘ und erbringt damit den Beweis, daß man zehn Bücher schreiben und zehn Bücher lesen und doch noch nicht so weit sein kann, sich folgerichtig auszudrücken.


Wer die Welt zu sehr liebt, kommt nicht dazu, über sie nachzudenken; wer sie zu wenig liebt, kann nicht gründlich genug über sie denken.


Inmitten unzähligem Hin- und Herreden der Einzelnen wächst still und groß das ewige Weisheitsgut der Menschen weiter.


Wer Gott aufgibt, der löscht die Sonne aus, um mit einer Laterne weiter zu wandeln.


Es ist wohl gerade in unserer aufgeregten Epoche mehr denn je nötig, den Blick aus den Tagesaffären emporzuheben und ihn von der Tageszeitung weg auf jene ewige Zeitung zu richten, deren Buchstaben die Sterne sind, deren Inhalt die Liebe und deren Verfasser Gott ist.


Tod einer Welt: ihre Geburt.


Nur die Formen wechseln. Der Toten Seele wird vielleicht schon wieder im Keim einer neuen vollkommeneren Form schlummern.


Es gibt keine Grenzen der Dinge.


Sich die Menschheit als die Blätter des Erd-Baums zu denken!



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern