Künstler oder Philosoph

Man hat Hegel verspottet, weil er sagte, aus ihm rede der Weltgeist. Ach, auch aus ihnen, den Spöttern, redet leider nichts anderes.


Ich lese mit Erschütterung in Hegel, an dem ich immer vorbeigegangen war. Zwei Dinge hielten einst schon den Studenten ab, Hegeln eine unbestimmte geheime Neigung zu entziehen: Seine überlebensgroße Büste, die ihm am Kastanienwäldchen hinter der Berliner Universität manchen bedeutenden Augenblick schuf, und das über ihn umlaufende Wort: niemand habe Hegeln zuletzt mehr verstanden, nicht einmal er selbst. Ich halte den nämlich nicht für den Träger und Offenbarer höchster Erkenntnisse, der diese Erkenntnisse ein für alle Mal ‚versteht‘. Das Höchste vermag der menschliche Geist auch nur in höchsten Momenten zu leisten, und manchmal ist es nur ein Blitz, der die Tiefe der Welt sekundenlang aufreißt.


Entweder man ist Künstler oder Philosoph. Der Philosoph achtet die Kunst, ja liebt sie, — aber er komplimentiert sie hinaus, wenn er mit seinem Ernst allein sein will.


Wogegen ich mich vor allem richte, das ist die Bürgerlichkeit so vieler bisheriger Philosophie. Es fehlt mir darin zu sehr an jener Überwältigung des menschlichen Geistes durch das, was ihn wohl überwältigen darf: die nicht nur rechnerisch gebrauchten, sondern innerlich erlebten Vorstellungen von Ewigkeit und Unendlichkeit. Für mich beginnt Philosophie hart vor dem Wahnsinn, sonst ist sie ein Handwerk wie andre auch. Und sie muß immer wieder bis hart an den Wahnsinn führen, das ist beinahe eine Forderung der Sittlichkeit philosophischen Denkens, da es sonst einen Mangel an Leidenschaft zu bedenklich verrät. Ohne Leidenschaft aber ist jede Tätigkeit großen Stiles, so erhaben sie sich auch geben mag, gemein.


Wie mancher Steinregen im Hochgebirge verdankt dem Klettern einer Gemse seinen Ursprung. Dies bedenke auch du, der du auf Gedankenbergen herumkletterst, und — freue dich dessen oder mache dir Vorwürfe darüber oder beides zugleich, je nachdem du geartet bist.
Man muß Pessimismus und Optimismus als ‚Stimmungen‘ hinter sich lassen, wenn man, obzwar erkenntnislos, aber von allen Seiten umwittert, den Pfad der Wirklichkeit wandelt.


Sei nur Skeptiker, es gibt keinen besseren Weg als den fortwährenden Zweifelns. Denn nur, wer die Relativität jeder Meinung eingesehen hat, sieht zuletzt auch die Relativität dieser Einsicht ein — und schwingt sich endlich vom letzten Erdenwort in — Sich selbst zurück.


Wenn ich wüßte, welches Wort der Erde keine Vorstellung enthielte, so würde ich es dazu gebrauchen, das Wort Vorstellung zu überwinden. Aber dieses Wort Vorstellung bleibt zuletzt als einziges auf dem obersten Siebe liegen, das alle andern passiert haben.

Nur glaube man nicht, damit etwas anfangen zu können. Denn wenn ich sage: Die Welt ist meine Vorstellung, so sage ich damit nichts andres als: eine Vorstellung ist meine Vorstellung. Es gibt keinen Weg hinaus, es gibt nur einen Weg hinein.


Welche Vorstellung wäre zuletzt nicht anthropomorph! Anthropomorph, sagt man, sei die Vorstellung eines persönlichen Gottes. Aber der Naturforscher, der sich die Welt unpersönlich, nämlich als Natur, als Wirklichkeit, als einen unendlichen Knäuel von Wirkungen denkt — hat ja auch von sich selbst kein anderes Bild; er sieht sich, interpretiert sich ‚naturwissenschaftlich‘ als ‚Natur‘ und projiziert sich (in seiner neuen Weltinterpretation) nur ebenso unvermeidlich ins ‚Universum‘ hinein wie früher. Oder vielmehr: Universum ist bereits Selbstprojektion. Anthropomorph ist und muß ‚alles‘ bleiben.


Das menschliche Denken ist wie eine trübe Flüssigkeit, die sich im Lauf der Jahrhunderte langsam klärt. Nach immer mehr Erklärung trachtet der Geist, aber das Ergebnis ist nur immer mehr — Klärung. Und zuletzt wird das Denken schön geworden sein, wie klarer Honig, klares Wasser, klare Luft.


Mir fällt in aller bisherigen Philosophie eins auf: Sie hat nie recht genug — Phantasie, Sie zerbrach nie ihre Begriffe — aus Phantasie.


Lichtenberg's Bemerkung, die docta ignorantia mache weniger Schande als die indocta, scheint mir das Erschöpfendste, was über das Problem der Wissenschaften gesagt werden kann.
Nicht nur der Weg nach der Wahrheit scheint mehr wert als die Wahrheit selbst, um Lessingsch zu reden; noch wertvoller als der Weg selbst scheint der Wille zu solch einem Wege.


Wer sich an Kant hält, dem muß alle Metaphysik erscheinen wie das hartnäckige Surren einer großen Fliege an einem festgeschlossenen Fenster. Überall wird das Tier einen Durchlaß vermuten und nirgends gewährt die unerbittliche Scheibe etwas anderes als — Durchsicht.


Gesetzt und endlich einmal festgehalten, daß alle Wissenschaft nur Beschreibung und nicht Erklärung sein kann, steht dem nichts im Wege, den Menschen als das bescheidenste Tier katexochen zu beschreiben.


Alles Denken ist wesentlich optimistisch. Der vollendete Pessimist würde verstummen und — sterben.


Alle Wissenschaft hat einen doppelten Wert. Einmal ihren Wert als Wissenschaft, den man allgemein für ihren eigentlichen, für ihren Hauptwert hält, und der doch nur ein Hilfswert ist; und ihren Wert als einer Art moralischer und intellektueller Gymnastik, deren Übung dem Einzelnen die Möglichkeit gewährt, seine Persönlichkeit (ganz ebenso wie es z.B. die Disziplin bei einem Streckenwärter tut) zu kräftigen, zu entwickeln, zu erhöhen. Und das ist ihr Hauptwert.
Und das ist der Hauptwert aller historisch gegebenen Berufe. Sie sind vor allem Kunstgriffe — um der Kultur der Persönlichkeit willen. Es könnten auch andere sein, und es werden sich auch vermutlich mit zahllosen Planeten noch zahllose andere finden. Die Gesamtheit dieser Kunstgriffe und ihrer Benutzung nennt man dann die Geschichte des Planeten.


Eines bleibt keinem Philosophen erspart: Das Offene-Türen-Einrennen. Dreiviertel seiner Kraft geht darauf flöten.


Von letzten Dingen kann man nicht immer gemein-verständlich reden. Genug, fürs erste, daß man sich selber verstand. (‚Ich und Mich, der Freund ist immer erst der — Dritte.‘)


Ich möchte bisweilen eine Erkenntnis in Form einer mathematischen Figur geben, z.B. die Anschauung Gottes in Form einer Kugel, aus einem Mittelpunkt strahlend.


Es gibt keine Wahrheit an sich. An sich ist einer der größten Materialismen der Epoche.


Man fragt sich oft: wie ist es möglich, daß dieser große Intellekt dies und jenes nicht gesehen oder seines Blicks nicht gewürdigt haben sollte. Aber ebenso übersehen vielleicht unsere Zeitgenossen Dinge, von denen wieder spätere nicht begreifen werden, daß sie für uns offenbar völlig im Schatten lagen. Man darf wohl sagen, jeder Blick vorwärts ist zugleich ein Nichtbeachten dessen, was zur Seite liegt. Der Geist gleicht einer Granate, deren Gebiet das vertikale Segment zwischen dem Punkt ihres Ausflugs und dem ihres endlichen Aufschlags ist.

Frage die Philosophie sich erst einmal: ‚wo bin ich hergekommen?‘



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern