Erste Fortsetzung

Ich brauche wohl nicht erst besonders hervorzuheben, dass es im Laufe der Zeiten nicht an Versuchen gefehlt hat, die Judenfrage zu lösen. Der bedeutendste dieser Versuche ist die Judenemanzipation, durch die in den Kulturstaaten die gesetzlichen Beschränkungen der Juden aufgehoben wurden. Die Ghetti wurden aufgelassen und damit die sogenannte Assimilationsperiode eingeleitet. Als der hervorragendste jüdische Vorkämpfer dieser Richtung gilt Mendelssohn. Tatsächlich verschwand die Judenfrage auch durch einige Jahrzehnte von der Bildfläche und man konnte sie als endgültig erledigt betrachten. Da geschah das Unerwartete. Wie bereits erwähnt, hat der moderne Antisemitismus seinen Ausgang von Deutschland genommen. Der Hofprediger Stöcker und sein Genosse Henrici begannen in der Mitte der siebziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts unter dem Namen „Antisemitismus" einen neuen Kreuzzug gegen die Juden. Bismarck gebührt der zweifelhafte Ruhm als erster den Antisemitismus gegen seine freisinnigen Gegner Lasker und Bamberger als politisches Argument verwertet zu haben. Von der Reichskanzlertribüne hat der moderne Antisemitismus seinen Siegeszug angetreten. Das ausgegebene Schlagwort wäre allerdings wahrscheinlich wirkungslos verhallt, hätten Stöcker und Bismarck damit nicht latenten Empfindungen der arischen Völker Ausdruck verliehen. Sie hatten eben nur laut auszusprechen gewagt, was die Mehrzahl längst gedacht und gefühlt hatte. Die gesetzliche Emanzipation der Juden war ausgesprochen worden, bevor sie in der Empfindung der arischen Völker vollzogen worden war. Die lange künstlich zurückgedrängten Gefühle brachen jetzt mit elementarer Gewalt hervor.

Die Judenfrage feierte unter einem neuen Namen eine fröhliche Auferstehung, richtiger gesagt, die Totgesagte hatte überhaupt niemals zu leben aufgehört. Dem politischen Antisemitismus folgte der wirtschaftliche, diesem der soziale und schließlich der intellektuelle Rückschritt auf der ganzen Linie. Von Deutschland griff die Seuche auf das benachbarte Österreich über. Heute ist kein Land mehr davon verschont geblieben. Wo der Antisemitismus noch nicht besteht, wird er durch einwandernde Juden hingeschleppt. Die Judenfrage lebt heute überall wieder auf, wo die Juden in merklicher Anzahl unter den arischen Völkern wohnen. Der Jude ist heute überall in seiner sozialen und wirtschaftlichen Existenz mehr oder minder bedroht.


Selbstredend leidet der wohlhabende Jude verhältnismäßig am wenigsten unter dem Antisemitismus. „Geld regiert die Welt." Vor seinem allmächtigen Szepter beugt sich jeder, auch wenn dieses von einem Juden geschwungen wird. Der reiche Jude kann sich mit einigem guten Willen die Anerkennung seiner Gleichberechtigung vortäuschen. Er kann sich alles bieten, es kommt nur auf den Preis an, den er dafür zu entrichten willens ist. Gegen doppeltes und dreifaches Entgelt nehmen ihn sogar die Hotels und Sommerfrischen auf, deren „Judenreinheit" ihr größter Stolz und häufig ihre einzige Empfehlung ist. Auch die „sittliche Not" erträgt sich immer und überall leichter mit vollem als mit leerem Magen, am leichtesten natürlich, wenn man in der Equipage fährt und in der Parterreloge sitzt. Ganz zu Boden drückt sie zumeist nur den schon Bedrückten. Es steht dem reichen Juden frei, so viele christliche Schmarotzer zu seinen Freunden zu zählen wie er will. Die minderbemittelten und die unbemittelten Juden hingegen leben praktisch heute noch immer im Ghetto, insofern als sie nur in den Ausnahmefällen gesellschaftlichen Verkehr mit Christen haben. Mittelbar und unmittelbar drängt man sie aus allen Berufen. Die Massenflucht ins Christentum hat keine Hilfe gebracht. Im Gegenteile. Je mehr an der Judenfrage herumgedoktert wurde, desto kränker wurde der Patient. Man versuchte den Antisemitismus im Namen der Gesittung und der Menschlichkeit zu bekämpfen. Die Antwort darauf waren die Pogroms in Russland und die gewaltsame Austreibung der Juden aus Rumänien, die von der gesitteten Welt ohne Einspruch, beinahe wie etwas Selbstverständliches hingenommen wurden. Man nennt das „sich nicht in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten einmischen." Der Kampf gegen den Antisemitismus scheint nur eine befruchtende Wirkung auszuüben: Je mehr dagegen gesprochen und geschrieben wird, desto üppiger gedeiht er. — Der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus" hat nur den einen Erfolg zu verzeichnen, dass nämlich seine Gründer offen und insgeheim ausgelacht wurden. —

Der Versuch, die Judenfrage durch einen allgemeinen „Herausschmiss" der Juden zu lösen, unterscheidet sich nur durch seine Rohheit von dem anderen, sie durch die Bekämpfung des Klerikalismus aus der Welt zu schaffen. Im übrigen ist der eine so kindisch wie der andere. Der erste Versuch weist noch überdies den Nachteil auf, dass nicht einmal die an seine Durchführbarkeit glauben, von denen er unternommen wird. Man kann die Juden demütigen, verhöhnen und verfolgen, aber sie im 20. Jahrhundert in den zivilisierten Ländern dem Hungertode preisgeben oder gar sie „massenmorden", das kann man nicht, auch wenn man es noch so gerne möchte. Das moderne Gefühl sträubt sich ebensosehr gegen eine solche Lösung der Judenfrage wie sie tatsächlich unmöglich ist. Der Abscheu vor dem Blutvergießen ist heute so tief in das Bewusstsein der gesitteten Völker eingeprägt, dass die Abschaffung der Todesstrafe in den Kulturstaaten nur mehr eine Zeitfrage und ein innereuropäischer Krieg eine Unmöglichkeit geworden ist. Der Plan eines konsequent durchgeführten wirtschaftlichen Boykotts der Juden, wie er von den Antisemiten aller Couleur propagiert wird, ist ebenso unsinnig im Zeitalter des Verkehres. Alle sittlichen Erwägungen beiseite gesetzt, wird die Zahl der Streikbrecher immer eine genügende sein, um den ganzen Plan von selbst ad absurdum zu führen.

Der Kampf gegen den Klerikalismus als Allheilmittel gegen den Antisemitismus ist zunächst falsch in seinen Voraussetzungen. Das berühmte Wort Gambettas „le cléricalisme c'est l'ennemi" *) gilt ganz gewiss nicht für die Juden. Im Mittelalter mag dies der Fall gewesen sein. Heute sicherlich nicht mehr. Die strenggläubigen Christen sind sogar nur in den Ausnahmefällen Antisemiten. Es gibt wohl unter dem katholischen, wie unter dem evangelischen Klerus Hetzprediger, aber eine Verallgemeinerung ist ungerecht. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einer persönlichen Erinnerung gedenken. Ich hatte die Ehre im Frühjahr 1906 von Papst Pius X. in Privataudienz empfangen zu werden. Im Laufe der Unterredung wurde auch die Judenfrage berührt und das Oberhaupt der katholischen Christenheit sprach dabei die denkwürdigen Worte: „Der Antisemitismus ist gegen den Geist des Christentums, dessen Essenz Liebe und Duldung gegenüber jedermann, sogar gegen unsere Feinde ist." Der wahrhaft fromme und gläubige Katholik tritt nur dann gegen den Juden auf, wenn er in diesem den Angreifer seiner heiligsten Güter sieht. Nicht die klerikalen Abgeordneten waren es, die im Frühjahr 1907 die Aufnahme der Wiener Abgeordneten Hock, Ofner und Kuranda in ihren Verband verweigerten, sondern die freisinnige deutsche Volkspartei, und zwar weil zwei dieser Wiener Abgeordneten Juden waren und der dritte unter ihnen sich mit den zwei anderen solidarisch erklärte. Beim Juden hört eben der Freisinn auf. Die, welche die Aufnahme verweigerten, mussten sicher sein, dass sie damit den Wünschen ihrer Wähler entsprachen, denn sonst hätten sie kaum gewagt, so vorzugehen. Tatsächlich hörte man auch von keinem Protest gegen den Ausschluss, weder aus Steiermark, noch aus Oberösterreich. Die alpenländischen Wählerschaften ratifizierten mithin stillschweigend die Haltung ihrer parlamentarischen Vertreter. Die Bekämpfung des Klerikalismus hat bis jetzt ebensowenig Früchte für die Juden gezeitigt, wie alle anderen Versuche den Antisemitismus zu besiegen.

*) Der Klerikalismus ist der Feind

Es ist nur eine Selbsttäuschung, wenn die westeuropäischen Juden glauben, sie seien tatsächlich assimiliert. In der Wirklichkeit hat sich diese Assimilation nie und nirgends vollzogen. Der beste Beweis hierfür ist die Seltenheit der Mischehen im Mittelstand. Die getauften Juden heiraten zumeist wieder nur untereinander. Ehen zwischen Vollariern und Juden findet man fast nur in den obersten Schichten, wenn die Verbindung mit dem jüdischen Kontrahenten dem christlichen Teil nennenswerte materielle Vorteile sichert. Wo immer der Jude auch heute noch unter Ariern lebt, ist und bleibt er für sie der Fremde, wenn er nicht direkt als der Feind empfunden und behandelt wird. Nun erwartet man die Lösung der Judenfrage vom sozialistischen Zukunftsstaat. In der Ära der allgemeinen Verbrüderung, so meint man, wird mit allen anderen Gegenwartsübeln auch der alte Hass gegen das Volk Israels verschwinden. Ganz abgesehen davon, dass es bis zur Erreichung dieses Idealzustandes noch ein Weilchen dauern dürfte, sprechen auch einige andere Bedenken dagegen, auf die ich später noch zurückkommen werde. Der Sozialismus ist das natürliche Korrektiv für viele Auswüchse der Überkultur. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass es ihm beschieden sein werde, den Antisemitismus unter altem und neuem Namen endgültig aus der Welt zu schaffen. Und inzwischen wächst die Not der Juden auch in den Kulturstaaten täglich und stündlich.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Antisemitismus und Nationaljudentum
01 Flüchtlinge aus Palästina

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02 Pogromflüchtlinge

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03 Palästinensisches Flüchtlingskind

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04 Flüchtlinge aus Palästina

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05 Im Flüchtlingsheim

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06 Flüchtlingselend in der Brigittenau

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07 Flüchtlinge im Keller

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