Zweite Sage (Kreuzbaum und Wein)

Die vorhergehende Umschau auf dem Gebiete apokrypher Sagen und volkstümlicher Märchen hat uns den Vorstellungskreis aufgedeckt, in welchem die altrussische Legende vom Ursprung des Weins ihre Wurzeln geschlagen hat. Es erübrigt uns nun noch, ihre eigene Vorgeschichte zu besprechen. Wie in der Vision des Baruch die Geschichte der Rebe von ihrer Pflanzung durch Satanaël und von Evas Versündigung bis Noah fortgeführt wird (dass der Segen Gottes kaum in die ursprüngliche Fassung der Sage gehört, ist bereits bemerkt worden), und die talmudische Legende Noah und die Rebe mit Satan zusammen nennt — so auch in einer eigenartigen legendarischen Episode, welche in die spätrussische Redaktion der Revelationen des sogenannten Methodius Eingang gefunden hat. Als Noah, nach des Herrn Geheiß, die Arche auf dem aravitischen (d. h. arabischen = Ararat) Berge heimlich zu bauen angefangen, versucht der Teufel, der das Menschengeschlecht von ewig her hasst, Noahs Frau. Frage deinen Mann, wohin er zu gehen pflegt, sagt er ihr. Mein Mann ist zurückhaltend, antwortet sie, und wird mir es nicht gestehen. Da rät ihr der Böse: Es gibt eine Pflanze, die über dem Fluss wächst und sich um einen Baum rankt; nimm von deren Blüten und säure sie mit Mehl ein, und gib ihm davon zu trinken — so wird er dir Alles sagen, was du willst! Die Frau tat, wie ihr geraten war. Als Noah, von der Arbeit heimkehrend, zu trinken verlangt, reicht sie ihm jenen Trank; dieser mundete ihm so sehr, dass er zum zweiten und zum dritten Male darnach verlangte. Dann sprach er: Dies ist der zänkische Hopfen, dem Weisen zu Liebe, dem Narren zum Streit und zur Knechtschaft. Und er erzählte seiner Frau, was diese, vom Teufel verführt, von ihm erfahren wollte. Als er sich am folgenden Tage zur Arche begibt, um sich die Arbeit anzusehen, findet er sie zerstört, zur Strafe, dass er sich an Gottes Verbot vergangen und seiner Frau sein Thun nicht verheimlicht hatte.

Diese Legende hat in Russland eine gewisse Verbreitung gefunden und ist verschieden variirt worden. Wenn ich von diesen Variationen die jüngste und volkstümliche zuerst hervorhebe, so geschieht es wegen der eigentümlichen Namenvermischung, welche sie bietet und welche auf die genealogischen Verhältnisse des ganzen Sagenkreises einiges Licht wirft. Wir sahen, wie die Geschichte des Kreuzbaums-Weinstocks an Adam und Eva anknüpfte und weiter bis Noah fortgeführt war. In einer volkstümlichen russischen Legende finden sich beide Episoden in folgender Weise vermengt: Gott schafft


„Noah den Gerechten“, damit die Gerechtigkeit in die Welt einziehe; dann schafft er aus seiner Rippe — Eva; darauf folgt die Erzählung von ihrer Versündigung, so dass Noah die Rolle Adams spielt, und weiter erscheint dann die oben mitgeteilte Sage vom Hopfen.

Letztere hat bereits früher in die russische Bilderbibel Eingang gefunden und auch zu einer eigenen Erzählung den Stoff geliefert, die wir oben allgemein als „die Sage vom Ursprung des Weins“ bezeichnet haben. Der eigentliche Titel ist aber ein anderer: „Geschichte vom hochweisen Hopfen“, da in den spätrussischen Fassungen der Hopfen und der Branntwein an die Stelle der Rebe und des Weins getreten sind. Jene Geschichte erzählt nun von einem Manne, der sich unaufhaltsam dem Trünke ergeben hatte und so weit kam, dass er die Kirche vernachlässigte, die Gesellschaft vernünftiger Menschen mied, endlich des Verstandes verlustig ging und in blinde Wut verfiel. Als er später zur Besinnung kam und mit Gottes Hilfe den Weg des Heils aufsuchte, befreite er sich von der Trunksucht durch Enthaltsamkeit. Er fängt den „ungestümen“ Hopfen, bindet ihm mit starken Fesseln Hände und Füße und befragt ihn über sein Geschlecht, seine Herkunft und seine rühmlichen Taten. Und es antwortete der hochweise Hopfen: Ich bin von hohem und ruhmwürdigem Geschlechte, bin mächtig und reich; meine Füße sind zwar dünn, aber meine Arme umfassen die ganze Erde. Dies sind aber meine früheren rühmlichen Taten. Hier findet sich die Geschichte von Noah und der Arche eingestreut, die der Hopfen erzählt, um sich weiterhin mit seiner Kraft und Gewalt über den Menschen zu brüsten. „Will Jemand meiner teilhaftig werden und trinkt er eine kleine Schale, so gereicht sie ihm zur Gesundheit, die zweite zur Fröhlichkeit, die dritte zum Labsal, die vierte aber zur Trunkenheit“ u. s. w. Die „Rede von der Trunkenheit“, die sich in einer Handschrift des gnomischen, die „Biene“ betitelten Sammelwerkes erhalten hat, zählt der Schalen sieben, und zwar führt die fünfte — zur Trunkenheit, die sechste in des Teufels Bande, die letzte aber zu bitterem Tod. Dies erinnert einerseits an die Ermahnungen eines russischen Bischofs des XV. Jahrhunderts (Matthäus von Sarai), dass man einem Klosterbruder oder Kirchendiener, die man bewirtet, nicht mehr als drei Schalen vorschlagen möge — andererseits aber an die verschiedenen Eigenschaften des Weins, wie sie in der talmudischen und tatarischen Legende und im griechischen Märchen symbolisch dargestellt sind. — Die Geschichte vom hochweisen Hopfen ist hiermit zu Ende: nachdem der bekehrte Sünder vom gefangenen Unholde erfahren, wie er sein Gebrechen los werden könne, lässt er ihn laufen: er möge zu seinem Herrn gehen, dem über die Trunkenheit gesetzten Teufel.

Eine weitere Entwicklung dieser Sage auf volkstümlichem Boden und mit späterer Vertretung des Hopfens durch den Branntwein bietet die folgende Erzählung, die sich handschriftlich findet und in den heutigen Volksschwänken mehrfach überarbeitet erscheint. Die Anknüpfung an die Legende von Noah ist eine ganz lose. Es wird erzählt, dass auf den arabischen Bergen (Ararat) bis in die späte Zeit hinein sich jenes Kraut erhalten hat, woraus der berauschende Trank für Noah bereitet worden ist; der neidische Teufel lehrt nun auch die von ihm verführten Menschen Branntwein zu brennen. Nachdem beide sich einen schicklichen Ort an den Quellen eines Flusses gewählt hatten, lief der Teufel nach den Burgen und holte das besagte Kraut, d. h. den Hopfen. „Dann wurden die Kolben bereitet und mit Maisch angefüllt, darüber Töpfe umgeworfen und mit Teig verkittet; von jenen Töpfen gingen aber Röhren, welche durch Kufen liefen, die mit Wasser angefüllt waren. Als dann unter den Kolben Feuer angezündet war, da ging das giftige Getränk durch die, in die Kufen eingelegten Röhren heraus“. Da verschwand der Teufel; der Mann aber begab sich nach der nächsten Stadt, wo er den König und die Leute verführte; von daher verbreitete sich jenes giftige Getränk, welches man heute Branntwein nennt, nach allen Ländern und Städten, nach Konstantinopel und Litauen und zu den Deutschen und zuletzt in das heilige russische Land.

Es ist interessant zu sehen, wie sich das Volk diese salbungsvolle rigoristische Legende zu eigen gemacht hat. In Weiß-Russland ist sie folgendermaßen umgestaltet worden. Es war einmal ein armer Bauer; eines Tages, als er auf seinen Acker ausgefahren war und sein letztes Stück Brot mitgenommen hatte, wurde ihm dasselbe, während er emsig mit Pflügen beschäftigt war, von einem Teufel entwendet. Als der Bauer nach dem Brote greifen wollte, war es bereits fort. Es ist doch wunderlich, sagte er zu sich: Niemand ist da gewesen und doch finde ich mein Brot nicht. Nun, so mag es dem Entwender zum Heile gedeihen; vor Hunger sterbe ich wohl kaum! Als der Erzteufel erfahren, dass der Bauer nicht nur nicht geschimpft, sondern auch dem Diebe Heil gewünscht hatte, ward er darüber ungehalten und sandte jenen Teufel auf die Erde zurück: Gehe hin und verdiene dem Bauer sein Stück Brot! Da verwandelte sich der Teufel in einen guten Menschen und verdingte sich bei dem Bauer als Arbeitsknecht. Während eines heißen Sommers besäte er einen Morast und das Korn gedieh beim Bauer vortrefflich, während bei Anderen Alles von der Sonne versengt wurde; in einem regnerischen Sommer säte er im Gegenteil auf Bergesabhängen, und während bei anderen Alles verloren ging, hatte er eine gute Ernte: des Kornes war so viel, dass man nicht wusste, was mit ihm anzufangen. Da besann sich der Teufel: er versuchte Branntwein zu brennen, und es gelang ihm. Von ihm lernten die Menschen diese Kunst und nun wandert das bittere Getränk in der ganzen Welt umher.

Anders gefasst tritt die Sage in der humoristischen Färbung des kleinrussischen Schwanks vom dummen Teufel auf, der, um den Menschen einen bösen Streich zu spielen, auf das Mittel verfällt Branntwein aus Reisig zu brennen. Er zündet ein so großes Feuer an, dass der Rauch bis in den Himmel dringt. Scheint es euch nicht, als ob es nach Rauch stinke? fragt der Herr seine Heiligen. So scheint es auch uns, aber wir wissen nicht, woher es kommen mag. — Der Herr sendet den heil. Petrus auf die Erde, um sich zu erkundigen. — Was machst du da fragt er den geschäftigen Teufel. — Ich braue den Menschen einen Trank, damit sie weniger Wasser trinken. — Da bist du doch ein guter Kerl! Ist das Getränk aber auch schmackhaft? — Schmecke nun selber! — Petrus tut's und da er des Trinkens nicht gewohnt war, sinkt er wie betäubt zur Erde. — Da er lange ausblieb, sandte der Herr einen zweiten Kundschafter aus, den heil. Paul, aber auch ihn traf ein gleiches Schicksal. Endlich wird auf die Erde ein Kosak mit Lanze und Säbel abgesandt, der heil. Jurko (der „kleine“ heil. Georg). Sein Erstes war, dass er Petrus und Paul so derb und lange schüttelte, bis sie zur Besinnung kamen; dann warfen sich alle drei auf den Teufel und prügelten ihn so tüchtig durch, dass seine Borsten flogen und die Haut Risse zeigte. Teuer bezahlte er den bösen Streich, aber auch den Menschen ward dieser nicht wohlfeil. Lange sannen sie darauf, wie sie aus Reisig Branntwein brauen könnten; nun, aus Reisig gelang es ihnen eben nicht, aber aus dem heiligen Brote gedieh er vortrefflich. Dies eben hatte sich der Teufel zum Ziel gesetzt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Altslawische Kreuz- und Rebensagen.