Dritte Sage (Kreuzbaum und Wein)

Der Russe ist ein ebenso starker Zecher geblieben wie zu Fürst Wladimirs Zeiten, dessen Helden in den epischen Liedern regelmäßig Schalen von anderthalb Eimer Wein ausleeren. Die strengen Ermahnungen der Kirche und der Legende haben wohl weniger in seinem Leben, als in seiner Phantasie Wurzel geschlagen, die in grausigen Bildern gewuchert haben. Die Trinker müssen ewigen Qualen verfallen, heißt es in einer russischen Volkslegende; Jenseits müssen sie den Teufeln als Lasttiere dienen, auf denen Wasser und Holz gefahren wird; diesseits sind sie ihren bösen Streichen ausgesetzt, werden von ihnen auf Abwege geführt, in Sümpfe verlockt u. s. w. In einem religiösen Liede von Basilius und der heil. Jungfrau wird die Trunksucht als eine der Haupt- und Todsünden geschildert; ist man ihr einmal verfallen, so wird es schwer, sich von ihr freizumachen; sie klammert sich so fest an den Sünder an, sie reißt ihn so hartnäckig von Fall zu Fall, dass ohne Gottes Hilfe ihm keine Rettung möglich ist. Aus diesem Vorstellungskreise ist ein poetisches Erzeugnis hervorgegangen, zugleich das einzige, auch der Form nach, dichterische Denkmal der altrussischen Literatur, welche bekanntlich der Verskunst abhold war. Ich meine die, dem XVII. Jahrhundert angehörende Dichtung „Vom Unglücks- und Kummer-Schicksal, wie es einen Jüngling unter die Mönchskutte gebracht hat“. Schon der Titel allein zeigt von einer volkstümlichen Verarbeitung; eben die eigenartige Verquickung von christlich-legendarischen mit volkstümlichen Elementen dürfte die Aufmerksamkeit der Forscher dieser Dichtung zuwenden.

*) Die Dichtung ist mehrfach herausgegeben worden und hat zu verschiedenen Erörterungen Anlass gegeben, von denen ich zum Teil abweiche.


Schon gleich die Eingangszeilen sind charakteristisch. „Nach dem Urteil Gottes“ unseres Erlösers Jesu Christi, des Allerhaltenden, waren zu Anfang dieser vergänglichen Welt Himmel und Erde, Adam und Eva geschaffen“. Der Herr befahl ihnen, im heiligen Paradies zu wohnen und gab ihnen sein göttliches Gebot: dass sie von der Frucht der Rebe, des hehren Paradiesbaumes, nicht kosten sollen:

Aber sie versündigten sich daran, und nun wurden sie aus Eden auf „die niedere Erde“ verbannt. Von ihnen stammt das böse Menschengeschlecht: gleich von Anfang an erwies es sich als ungehorsam, auf des Vaters Lehre unachtsam, gegen die Mutter nicht ehrerbietig. Daher die vielen und großen Trübsale, die der Herr über die Menschen sendet, um sie strafend zu belehren und auf den Weg des Heils zu lenken.

Gegenüber dieser allgemein gehaltenen Einleitung erscheint die folgende Erzählung als ein Beispiel, das an einem einzelnen Falle dartun soll, was von allen Menschen gilt, seitdem sich die Erzeltern an der Rebe versündigt haben.

Vater und Mutter belehren ihren jungen Sohn, wie er ehrsam und ohne Not leben und tugendhafte Werke tun solle. Der Inhalt dieser Lehren ist der allen didaktischen Werken des Mittelalters gemeinsame: ein Castoiement des Vaters an seinen Sohn ist auch in der alt-russischen Literatur bekannt. Nur liegt in unserem Falle der Schwerpunkt der Belehrung in dem Verbot, Gastmähler und Gelage zu besuchen, zwei Becher statt eines zu trinken, mit Würflern und Schenkwirten Umgang zu pflegen. Der Jüngling war noch unvernünftig, es verdross ihn, sich dem Vater zu unterwerfen, der Mutter zu gehorchen: er will leben, wie es ihm eben gefällt. Bald hatte er 50 Rubel beisammen, und dazu eben so viele Freunde; „nun war seine Ehre, wie ein voller Fluss“; man drängt sich an ihn heran, man rechnet sich zu seinen Nächsten und Verwandten. Auch einen lieben Freund hat er gefunden, der sich ihm zum Wahlbruder aufwirft, ihn durch allerlei schöne Reden verfuhrt und ihn endlich in eine Schenke bringt. Hier reicht er ihm einen Becher Wein, eine Schale mit berauschendem Biere. „Trinke, lieber Wahlbruder mein, sagt er ihm, dir zur Freude, zum Labsal und zur Gesundheit (man erinnere sich an die drei gesetzlichen Schalen der russischen Sage vom Ursprung des Weins). Solltest du dich betrinken, so lege dich nur schlafen, wo du eben bist, und setze deine ganze Hoffnung auf mich, deinen Wahlbruder: ich werde dir aufwarten und über dich treue Wacht halten, und werde dich dann zu deinem Vater und Mutter geleiten“. Da traute der Jüngling seinem lieben Freunde und betrank sich, bis er die Besinnung verlor; als er am andern Tage erwachte, sah er sich entblößt und beraubt: da liegt er auf der Erde ausgestreckt, einen Ziegelstein unter dem Kopfe, abgetragene Bastschuhe zu seinen Füssen, faule Lumpen anstatt der Bettdecke — vom lieben Freunde aber auch keine Spur. Da grämte sich der Jüngling und wusste nicht, was er anfangen sollte; er schämte sich, seinen Vater und Mutter, seine Nächsten und Verwandten aufzusuchen — und nun entschließt er sich in die weite Welt zu gehen. Er kommt in ein fremdes Land, kommt zu einem Gastmahle, das mit den stehenden Zügen und den Farben der epischen Lieder beschrieben wird. „Und es ging der Jüngling zu einem ehrsamen Gastmahle, schlug das Zeichen des heiligen Kreuzes über sein weißes Angesicht, verneigte sich vor den Heiligenbildern, verbeugte sich tief vor den guten Leuten, nach den vier Seiten hin. Als jene sahen, dass er sich schriftgemäß bekreuzt, fassten sie ihn an den Händen, setzten ihn an den eichenen Tisch, nicht auf den Haupt-, auch nicht auf den Untersitz, sondern in der Mitte, wo die jungen Kaufleute zu sitzen pflegen. Als das Gastmahl im vollen Gange war, die Gäste trunken und heiter waren und zu prahlen anfingen — da war der Bursche der einzige, der nicht heiter schien“. Man befragt ihn, warum er so traurig und bekümmert sei, weder esse noch trinke, und nicht prahle. Da antwortet der Jüngling: Hört, ihr Herren, ihr guten Leute, was ich euch von meiner großen Not klagen will! Meinem Vater und Mutter war ich ungehorsam, habe mich der Trunkenheit ergeben; darum hat Gott der Herr seinen Segen von mir genommen, gegen mich seinen Zorn gewendet, hat über mich diese große Armut, diesen unheilbaren Kummer gesandt. Dies ist, warum mein Herz traurig, mein weißes Antlitz kummervoll ist! Sagt mir nun, belehrt mich, ihr guten Leute, wie ich mein Leben in fremden Landen, unter fremden Menschen einrichte, wie ich mir liebe Freunde erwerben kann!

Die Antwort der guten Leute ist voll von jenen Lehren praktischer Weisheit, die Vater und Mutter ihrem Sohne auf den Lebensweg mitgaben. Diesmal aber erweist sich der Jüngling gelehriger: er begibt sich in ein fremdes Land und weiß sich so einzurichten, dass er wohlhabender wird als zuvor; schon hat er sein Auge auf ein Mädchen geworfen, welches er heiraten möchte — da ist aber auch sein Glück zu Ende. Auf einem ehrsamen Gastmahl prahlt er vor seinen Freunden und Gästen damit, dass er eine größere Habe erworben, als er sie früher besessen. So hatte es Gott und seine Sünden zugelassen! Faul aber ist jedes Prahlwort und dem Menschen zum Verderben! Als das „Kummerschicksal“ den Jüngling prahlen hört, bricht es in folgende Rede aus: Prahle doch nicht, Jüngling, mit deinem Glücke, brüste dich nicht mit deinem Reichtum! Viele hatte ich schon, die weiser und gewandter waren als du, und doch habe ich sie überlistet: einem herben Geschicke sind sie verfallen, haben mit mir bis an ihr Lebensende gerungen, konnten mich nicht, mich Kummerschicksal, los werden, bis sie sich ins Grab gelegt hatten und die Erde ihnen zum Schutze ward. Erst dann sind von ihnen Armut und Blöße gewichen, nur über ihrem Grabe schied ich von ihnen, um mit neuem Gekrächze mich anderen anzuschmiegen! Ich kann nicht, ich Kummerschicksal, ohne Unterhalt leben, mag nicht den Prügeln weichen, habe mein Nest und Erbgut unter den Schlemmern gefunden.

Wie haben wir dieses „Kummerschicksal“ aufzufassen? Wir trafen es schon früher an, unter einem weniger drastischen und volkstümlichen Bilde: wie jener liebe Wahlbruder den Jüngling in die Netze der Sünde und der Trunksucht lockt, so übernimmt von nun an dessen Rolle ein halb allegorisches, halb dämonisches Gebilde, das Kummerschicksal, um desto hartnäckiger seine Beute zu verfolgen. Zunächst flüstert es dem Jüngling in einem Traumgesichte zu, er möge von der beabsichtigten Heirat abstehen, der Ehestand sei für ihn ein gefährlicher, da seine Frau ihn vergiften werde; er täte besser, wenn er in die Schenke gehe und daselbst seine Habe vergeude; beneidenswert sei das Leben der Entblößten, Barfüßigen: keiner quäle sie, keiner tue ihnen was an, auch aus dem Paradiese verjage sie Niemand; wie ein Refrain klingen die zweimal wiederkehrenden Verse: keiner wird mit dem Armen anbinden und der Barfüßige braucht den Räuber nicht zu fürchten! Und der Jüngling folgt dem bösen Rat: er vertrinkt alles, was er hatte und geht wieder wandern, da er sich seinen Angehörigen nicht zu zeigen vermag. Er gelangt an einem Fluss an, hat aber keinen Heller, um die Überfahrt zu bezahlen. Da bleibt er den ganzen Tag hungernd an dem Ufer sitzen und bricht in Klagen über sein Unglücksschicksal aus, welches ihn in so großes Elend gestürzt hatte. Er will sich ertränken — da auf einmal erscheint vor ihm, hinter einem Steine hervorspringend, in wilder dämonischer Gestalt das Kummerschicksal: „es ist barfuß, entblößt, kein Faden ist auf ihm zu finden, mit Bast ist es umgürtet, ruft mit lauter Heldenstimme: Warte auf mich, Jüngling, du entgehst mir ja nicht; suche nicht deinen Tod in dem reißenden Fluss; sei nicht traurig in der Not: wer ihr verfallen, der trauere nicht, sonst ist es aus mit ihm. Erinnerst du dich deines früheren Lebens, weißt du noch, was der Vater dich lehrte, wozu die Mutter dich ermahnte? Wer auf der Eltern Tugendlehre nicht horcht, dem lehre ich sie, ich Kummerschicksal: nicht vor einem Lieben wird er sich verneigen, vor einem Feinde wird er sein Haupt beugen müssen! Und es redete weiter das Kummerschicksal: Unterwirf dich mir, dem unlauteren Kummerschicksal, verbeuge dich vor mir bis an die feuchte Erde: es ist Nichts in der Welt, das mir an Weisheit gleichkomme! So wirst du über den Fluss gesetzt werden, gute Leute werden dich nähren und dir den Trunk reichen. Als der Jüngling die unabwendbare Not sieht, verneigt er sich vordem Unholde — und auf einmal wird ihm leicht und fröhlich zu Mut; er springt auf, geht hüpfend an dem schönen Ufer entlang, singt ein heiteres Liedchen, das aber von der ausgelassensten Ironie der Verzweiflung durchzogen ist:

„Als einen Kummervollen hat mich meine Mutter in die Welt gebracht, hat meine Locken mit dem Kamme geglättet, mich in reiche Kleider gehüllt, und dann, bei Seite gehend, die Handfläche über den Augen, auf mich geblickt: Wie mag doch mein Kindchen in den reichen Kleidern aussehen! Das Kindchen aber war in den reichen Kleidern über jeden Preis erhaben! Hätte sie mir solches auch mein lebenlang geweissagt! Nun weiß ich aber ein Anderes: es wird kein Scharlach ohne den Meister gefertigt, kein Kind ohne die Mutter getröstet, kein Trunkenbold wird in Reichtum leben, kein Würfler ehrsam sein. Die Eltern haben mir schneeweiße Farbe angewünscht, leider bin ich als ein schwarzer Feuerbrand geboren“.

Das Lied gefiel den Fährleuten so sehr, dass sie den Jüngling unentgeltlich hinübersetzten; gute Leute geben ihm zu essen und zu trinken und raten ihm: zu Vater und Mutter zurückzukehren und sie um ihren Segen zu bitten. Der Jüngling begibt sich auf den Heimweg, da war aber das Kummerschicksal ihm vorausgeeilt, begegnet ihm auf dem weiten Felde, krächzt ihn an, wie eine Krähe den Falken: Du entfliehst mir nicht! Nicht auf eine kleine Stunde habe ich mich an dich gefesselt, will mich bis zu deinem Tode mit dir abquälen! Der Jüngling versucht, wie er sich vor ihm verbergen könnte — aber vergebens. Er fliegt vor ihm in Falkengestalt — das Kummerschicksal ihm nach als weißer Geierfalke; er sucht ihm als grauer Wolf in weitem Felde zu entschlüpfen — aber jenes ist bereits da und hetzt gegen ihn die Windhunde; der Jüngling wird zum Pfriemengras, das Kummerschicksal eilt ihm nach mit einer scharfen Sense bewaffnet und verhöhnt ihn: „Wirst noch geschnitten werden, liebes Gras, mähen wird man dich und die Windsbraut wird dich auseinander wehen“. Nur nach vergeblichen Mühen, sich von dem dämonischen Verfolger zu befreien, besinnt sich der Jüngling auf den „Weg des Heils“: er geht in ein Kloster und wird Mönch. „Das Kummerschicksal aber ist vor den heiligen Türen stehen geblieben und kann dem Jüngling nichts mehr anhaben“.

Russischen Liedern und Märchen ist die heidnische Vorstellung von einem Verhängnis oder Geschick geläufig, das dem Menschen angeboren oder angeheftet wird, ihm auf den Fuß folgt und nur am Grabesrande ihn verlässt. Wie in unserer Dichtung, wird es häufig als nackt und entblößt geschildert, nur einen Gürtel von Bast um die Hüfte. Sich von ihm zu befreien ist unmöglich. Es eilt dem Unglücksmenschen nach in den Wald und ins weite Feld und aufs blaue Meer, als Taube oder graue Ente oder Nachtigall gestaltet; selbst im Gotteshause hat man vor ihm keine Ruhe. Diese volkstümlichen Bilder und nationalen Farben sind nun in unserer Dichtung einer anderen Vorstellung dienstbar gemacht, die wir die kirchlich-apokryphe nennen möchten. Die dämonische Macht, die bald in Gestalt eines Wahlbruders, bald in der des Kummerschicksals auftritt und den Jüngling zur Trunksucht verführt, ist der alte Erzfeind des Menschen, der sich des Sünders bemächtigt und ihm unaufhörlich nachstellt, aber von ihm weichen muss, sobald er die Wege des Heils aufsucht. Wie der Ungehorsam, die alte Erbsünde, den Jüngling zu Falle gebracht, so sind uns der Verführer und dessen Mittel bereits bekannt: der Verführer ist der „über die Trunkenheit gesetzte Teufel“, der ehedem Adam und Eva an der Rebenfrucht sich versündigen hieß. Die Parallele ist keine von uns aufgestellte, da sie in den Anfangszeilen unserer Dichtung bereits angedeutet ist: „Und es gab ihnen der Herr sein göttliches Gebot, dass sie von der Frucht der Rebe, des hehren Paradiesbaumes, nicht kosten sollen.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Altslawische Kreuz- und Rebensagen.