Vierte Sage (Wein und Kummerschicksal)

Es bleibt uns noch übrig einer vereinzelt dastehenden Weinsage zu erwähnen, die, auf byzantinischem Boden entstanden, einen südslawischen Übersetzer oder Überarbeiter gefunden hat. Der griechische Text ist mehrmals gedruckt und neuerdings von Konstantin Sothas und W. Wagner wieder herausgegeben worden. Die, bis Jetzt bekannten, gedruckten wie handschriftlichen Fassungen desselben zeigen ihn bald in einer ausführlichen, bald in einer kürzeren Gestaltung; aus der, von Hrn. Danicic herausgegebenen serbisch-slowenischen Übersetzung, die allem Anscheine nach einer griechischen Vorlage gefolgt haben muss, ergibt sich eine weitere Folgerung: dass wir zwei verschiedene Rezensionen der byzantinischen Erzählung anzunehmen haben, von denen eine durch die bekannten griechischen Texte, die andere durch die slawische Übersetzung repräsentiert wird. Beiden ist die Vorstellung gemeinsam, dass der Wein das Blut der gerichteten und zu Tode verurteilten Traube sei; beide kehren die parodistische Seite des byzantinischen Gerichtswesens hervor, seine schwerfällige, hochtrabende Formalistik mit Unbilligkeit gepaart. Diesen allgemeinen Gesichtspunkt hat nun jene Rezension, die wir zum Unterschied die byzantinisch-slawische nennen, insofern modifiziert, als sie die Traube aus einer falsch-anklagenden (wie sie in den griechischen Texten erscheint) zur fälschlich angeklagten, und weiter, zu einer „heiligen“ macht, ihre Verurteilung im Lichte des Märtyrertums darstellt und das ganze zu einer Parodie der Märtyrerlegende umstempelt. Es mag somit diese Rezension eine Klosterarbeit sein, aber dass sie durchweg als ein Schwank gedacht und ausgeführt worden, ist mir höchst wahrscheinlich. Auch die salbungsvolle Warnung am Schluss, wo die Gefahren des Weingenusses durch die Beispiele Salomos und Sampsons illustriert werden, darf als eine parodistische gelten.

Hier der Inhalt der slawischen „Sage von dem Kaiser Quitte, wie er die heilige Traube verurteilt und dem Tode preisgegeben hat“: Als der herrliche Kydonische Apfel (Quitte) Kaiser war, der Apfel die Hypatenwürde, die gelbe Pomeranze und die Zitrone die des Hegemonen bekleideten und die Birne als Groß-Protonotar fungierte, da kam die heitere, heilige Traube, wehklagend und mit lauter Stimme rufend: Erbarme dich meiner, großer kydonischer Apfel! mein Bruder, die Johannisbeere, will mich töten und mit dem Schwerte mir das Haupt abschlagen. Da redete der hehre Kaiser: Vermagst du Zeugen darüber aufzuweisen? Es antwortete die Traube „Wohl habe ich Zeugen, die ohne Laster und glaubwürdig sind: die Herrin Nuss, die rauschende, die gelbe Mandel mit der spitzigen Nase, die schlechtnährende Haselnuss, die süße, brotähnliche Kastanie, die schwarzäugige, aufblähende Bohne, die sehnenstärkende Kichererbse, die gute, die Armen speisende Lupine, vor Allen aber die Linse, die Haushälterin, und die Olive, die gute Äbtissin.“


Als der hehre kydonische Apfel, im Garten liegend, solches gehört, „ward ihm darüber der Magen gelöst“. Alsbald nahte ihm, in Purpurgewänder gehüllt, die hochmütige, prahlerische Zwiebel und fiel plötzlich mit herben Worten, unter heftigen Bewegungen und Tränen und hohen Beschwörungen über die Traube her. Auch sie führt ihre Zeugen vor: ihren Bruder, den weißen, dichten, aus dem Munde stinkenden Knoblauch, den grünen, langbärtigen Schnittlauch, den Wahlbruder Senf, den Meerrettich, herben Geschlechtes, und den ehrsamen schwarzen Syrer, den von Allen geliebten Protonotar Pfeffer, und schwört, dass die heilige Traube ihnen Unrecht angetan und sie verleumdet habe. Da rief der kydonische Apfel mit lauter Stimme: Wenn sie euch ungerechter Weise verleumdet hat, wie ihr Alle sagt, so hänge man sie an einem krummen Baume und haue sie mit einem Messer ab und trage sie in Körben in die Presse, wo sie mit Füßen stark getreten werde; ihr Blut aber bewahre man an einem kühlen Orte, den herzerfreuenden Wein, den man in Bechern trinken soll dem ungerechten Verleumder zum Hohne. Wer aber davon zu viel genießt, der verliere den Verstand und rede unvernünftige Dinge und wanke von einer Wand zur andern, den Zaun auf dem Haufen nicht verfehlend und den rechten Weg nicht findend, und throne lächerlicher und ungeziemender Weise im Kot. Dies sind die üblen Wirkungen des Weins; von den guten brauche ich nicht zu reden: er ist immer des Scherzes, der Freude und Fröhlichkeit voll, stärkt die Alten, erfreut die Jungen, ist der Liebe Vermehrer und der Verderber der Seele! O weh! Siehe zu. Liebster, dass du das Weintrinken fliehst: der Wein hat den hochweisen Salomo einem Weibe aus fremdem Geschlechte dienstbar und Gott abtrünnig gemacht und ihn die Götzen anbeten lassen; der Wein hat des starken Sampson Weisheit und Kraft gebrochen, ihn den Feinden ausgeliefert und seine Seele ins Verderben gestürzt!

So endet diese hübsche Erzählung, welche, vielfach an europäische Travestien erinnernd im französischen „Martyre de Saint Bacchus“ eine bedeutsame Parallele findet. In der altrussischen Literatur, die in ihren dämonologischen Weinsagen befangen war und damit vollauf zu tun hatte, scheint sie kaum bekannt gewesen zu sein. Ich bemerke nur, dass die erste russische literarisch-wichtige Satire des XVI. — XVII. Jahrh., die gegen das ungelenke Justizwesen und die im Leben herrschende Schikane wetteifert, den Kaulbarsch vor einem Gerichte der übrigen einheimischen Fische erscheinen lässt, welches ihn wegen seiner vielen und reellen Vergehen zu Tode verurteilt. Wie in dem byzantinischen Schwanke, wird auch hier die weitläufige gerichtliche Prozedur parodiert, die mit dem Siege der Schikane endet, weil der neckische Bösewicht, trotzdem er von seinen eigenen Zeugen überführt worden, dennoch entflieht und dazu seine Richter verlacht. Dergleichen mag im Leben öfters vorgekommen sein und die Travestie sich von selbst geboten haben, ohne dass wir dabei den Einfluss jenes byzantinischen Schwankes vorauszusetzen brauchen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Altslawische Kreuz- und Rebensagen.