Der Genius loci

Mit den aufgezählten Bauwerken waren nun verschiedene wichtige Punkte in dem ideellen Gesamtbild einer neuen Kunststadt Wien markiert. Man könnte fast an die Arbeitsweise des Bildhauers denken, der — bevor er seine Idee in endgültigem Material, in Stein oder Marmor ausführt — an dem rohen Block gewisse Punkte anbohrt, die ihm bei der Arbeit eine Orientierung ermöglichen sollen. Was dazwischenliegt, gewährt der freien schöpferischen Tätigkeit immer noch weiten Spielraum. So gab es nun auch für die kunstsinnigen Bürger und die von ihnen erwählten Künstler, sowie für die nachfolgende Generation vielfache Aufgaben: auszubauen, zu verbinden, zu schmücken. Die Plätze und Höfe wurden mit Brunnen und Denkmälern, die Säle mit Bildern und allerhand Schmuck ausgefüllt , wobei zunächst noch eine Steigerung der Erfindungsgabe, eine Vertiefung nach Seite des seelischen Gehalts zu bemerken ist.

Das Zusammenwirken all dieser Kräfte, die im nachfolgenden noch einzeln genauer geschildert werden sollen, ergab nun einen bestimmten künstlerischen Lokalcharakter, der bis auf den heutigen Tag trotz so vielfacher Neuerungen und Umänderungen sich erhalten hat: man nennt diesen spezifischen Kunstgeist einer bestimmten Stätte gern den Genius loci. Dieser Genius ist kein willkürlich schaltendes, tyrannisches Wesen; aus dem Zusammenwirken so vieler historisch gewordener, bodenständiger Elemente entstanden, waltet er mit Naturnotwendigkeit, beruhigend, versöhnend, den Suchenden leitend. Unterdessen sind Tausende von neuen Erfindungen gemacht worden, die Lebensbedingungen haben sich geändert, und es kann vom Sohne des 20. Jahrhunderts nicht verlangt werden, dass er im selben Stile baut, mit denselben Elementen operiert, wie der Bewohner von Alt-Wien. Damit ist aber nicht gesagt, dass die volkliche Eigenart des Wieners eine total andere geworden ist. Seine Sprache, sein Dialekt, seine Gewohnheiten sind mit geringen Veränderungen dieselben geblieben, und ein Bürger oder Adliger von 1909 sieht gewiss einem Vorfahren von 1709 mehr ähnlich, wie einem Japaner oder Malaien. Die modernsten Wiener Künstler aber halten die Aufnahme jedes noch so exotischen und unvereinbaren Geschmackselements für bedeutend wichtiger und lebensfähiger, wie die Beachtung ihres Genius loci. So kommt ein Kunst-Kauderwelsch heraus, und wie beim Turmbau zu Babel versteht einer den anderen nicht mehr. — Auch gegen die Geschmacklosigkeiten und Eigenwilligkeiten der Hypermodernen ist dasselbe Mittel zu empfehlen, wie gegen den Vandalismus der Demolier-Protzen: eifriges Studium der künstlerisch bedeutenderen Vorfahren!


Viele in jener geschilderten Epoche des alten Wien entwickelten Kräfte und geübten Metiers haben sich bis auf den heutigen Tag erhalten; der Stukkateur, der Dekorationsmaler sind noch heute wichtige Faktoren, und fast jeder bedeutendere Maler und Bildhauer kommt mit diesen Berufen in Fühlung. Zur Ausstattung von Kirchen, Palästen, Sälen gehörte in erster Linie die Stukkatur. Auf diesem Gebiete hat das Barock Erstaunliches geleistet. Die hohen Wölbungen der starren Eintönigkeit zu entkleiden, die mächtigen Wandflächen in Felder zu teilen, in denen Gobelins, Prunkstoffe, groteskenartige und chinesisch spielerische Malereien zum Auge des Beschauers sprachen, desgleichen auf den Plafonds Reliefdarstellungen oder Umrahmungen für Deckengemälde zu formen, wurde ein großer Reichtum an Formen ersonnen, der von Peter Strudel und Raffael Donner bis zu den neuzeitlichen Bildhauern Viktor Tilgner und Theodor Friedl den Arbeiten der Wiener Künstler einen eigenen Schwung verliehen hat und in dem Formenschatz unserer Stukkaturfirmen (wie Antonio Detoma) noch weiterlebt, wenn auch häufig zur Schablone erstarrt. Das Bestreben ging dahin, die Raumwirkung zu erhöhen, den Raum zu erweitern und zu beleben. Die Mittel hierzu wurden mit einer erstaunlichen Phantasie und technischen Geschicklichkeit bewältigt. Das Schwebende, alle Schwere der Konstruktion Aufhebende trafen Bildhauer und Maler so gut wie die Meister der ausgehenden Venezianer Kunstblüte, die Veronese und Tiepolo. Selbst der strenge Winckelmann, dem ja die einfache Größe der Antike als Ziel vorschwebte, nennt Daniel Grans großes Deckengemälde in der Wiener Hofbibliothek ein erhabenes Werk, ein malerisches Heldengedicht.

Maler, Stein- und Holzbildhauer, Kunsttischler, Elfenbeinschnitzer, Drechsler, Bronzegießer, Gold- und Silberschmiede wurden für solche Kunstwirkungen herangezogen. Von Hunderten dieser tüchtigen Meister sind die Namen vergessen, oder nur in Zunftdokumenten enthalten und dem großen Publikum unbekannt. Einige der Bildhauer, deren Namen mit bedeutenden Werken verknüpft bleibt, seien hier angeführt: Andrea dal Pozzo, eigentlich Brunner, gestorben zu Wien 1709, schuf neben graziösen Fresken auch ein gutes Buch über die Perspektive. Eine große Künstlerfamilie führte den echt wienerischen Namen Strudl (eine beliebte ,,Mehlspeise“ heißt nämlich so). Jakob Strudl war der Stammvater; sein Sohn Peter († zu Wien 1714) war der Begründer und erste Leiter der Wiener Akademie, die eine Zeitlang die berühmteste Europas war, viele tüchtige Kräfte heranbildete und erst viel später durch Formalismus zum Schreckgespenst der frei schaffenden Künstler wurde. Ein Bruder, Paul, war Bildhauer; er schuf die schönen Figuren an der Pestsäule, die Statuen der Habsburger im großen Saal der Hofbibliothek.

Gerade die Karriere dieser Familie gibt Gelegenheit, zu zeigen, dass die Künstler damals in Wien durchaus nicht als untergeordnete Hilfskräfte oder als Hoflakaien behandelt wurden. Die Brüder Peter, Paul und Dominik wurden 1707 von Kaiser Josef I. in den Reichsfreiherrenstand erhoben; das Adelsdiplom enthält die schmeichelhaftesten Ausdrücke, Vergleiche mit Phidias und Praxiteles. Das waren nicht bloß Formalitäten, Titel ohne Mittel. Man weiß aus den in Archiven bewahrten Rechnungsauszügen, dass z. B. der eine Bruder als kaiserlicher Kammermaler einen jährlichen Gehalt von 3.000 Gulden bezog (was einer heutigen Jahresgage von etwa 12.000 Mark gleichkommt); eine Zeitlang hatte er für das kaiserliche Jagd- und Lustschloss zu Laxenburg die Statuen auszuführen und bekam dafür noch ,,extra“ eine Zulage von 2.000 Gulden pro Jahr, also einen viel höheren Bezug als die städtischen Beamten und Würdenträger. Er hat sich denn auch bald an einem herrlichen hochgelegenen Punkte, der ,,Schottenpeunt“ (oberhalb der Liechtensteinstraße), ein herrschaftliches Schlössel bauen lassen, von dem man einen schönen Überblick über Schloss und Park des Fürsten Liechtenstein bis hinüber zu den umrahmenden Bergen des Westens genoss; heute ist an der Stelle Palast und Garten des Botschafters Grafen Berchtold; aber die Straße ist noch jetzt nach dem alten Strudlhof benannt.

Die Kunstfreunde hatten sich eben gewöhnt, Schönheit als Annehmlichkeit des Lebens zu empfinden, wertvolle Werke der größten Meister zu erwerben, und hatten gelernt, diese Leistungen zu bezahlen. Über Not, wie manche deutsche Maler und Dichter, hatten sich die in Wien Schaffenden selten zu beklagen; eine Ausnahme bildet gerade einer der Besten, Rafael Donner (geb. zu Eßling 1693, † zu Wien 1741), der für die einträglichen Aufgaben zu spät kam, und seine reich quellende Begabung nur in wenigen Werken, oft für elenden Lohn und in schlechtem Material, in Blei oder gar nur in Wachs, offenbaren konnte. Trotzdem gilt er mit Recht als der klassische Wiener Bildhauer, und sein Brunnen im alten Rathaus, sowie besonders der auf dem Mehlmarkt sind, obwohl der Meister sie nur in Bleiguss ausführen konnte, weltberühmte Werke. Noch sind als Beispiele zu nennen: Tobias Kracker, von dem der Prachtsarg Josefs I. in der Kapuzinergruft stammt, Ignaz Johann Bendel, von dem die viel zu wenig beachteten meisterhaften Reliefs an der Pestsäule, zahlreiche Arbeiten in Kehlheimer Stein und Elfenbein erhalten sind, und der auch in Brunn und Prag tätig war. Als Elfenbeinschnitzer sind noch Simon Troger und Balthasar Permoser zu rühmen, deren Arbeiten in Spezialwerken abgebildet zu finden sind; der letztere hat in Wien u. a. eine schöne Statue des Prinzen Eugen geschaffen. Lorenzo Mattielli hat in Wien und Umgebung viele Statuen für Kirchen und Schlösser gearbeitet, Mathäus Donner, ein Bruder Raffaels, exzellierte in Porträtbüsten und Prägearbeiten; der letzte dieser Reihe ist der in letzter Zeit oft genannte Grübler und Experimentator Franz Xaver Messerschmid, der mit seinen schönen Leistungen, anmutigen Barockfiguren für Fassaden und Brunnen, nicht zufrieden, seiner Zeit in Charakter- und Ausdrucksstudien vorauseilte und als Gegner des aufkommenden Klassizismus 1783 (zu Preßburg) starb.

Unter den Freskanten, denen die Ausschmückung der Wände und Gewölbe, sowie die Durchführung der Altarbilder oblag, stehen der aus der Venezianer Schule hervorgegangene Karl Loth, dann der genannte Peter Strudl und Johann Michael Rottmayr (geb, bei Salzburg 1652, † in Wien 1734) am Eingang der Epoche. Von letzterem stammen die Freskomalereien in der Karls- und Peterskirche. Große Massen von schwebenden, segnenden, andächtig aufschauenden Gestalten in wirkungsvollen Gruppen zu disponieren, durch Farbenkontraste, scharfe Beleuchtung zu heben, war seine an römische Meister anklingende Kunst. Dann ist der vortreffliche Maulpertsch und der geschmackvolle Martin Hohenberg, genannt Altomonte (1657 geb., † zu Linz 1745), ein in Italien reich ausgebildeter Maler, viel beschäftigt worden. Daniel Gran (geb. zu Wien 1694, † zu St. Polten 1757) ist vielleicht der eigenartigste, ein Meister des Kolorits, in rosigem Inkarnat, buntesten Gewändern, silbern oder goldig strahlenden Wolken, heiter leuchtendem Himmelsblau schwelgend. Ernster in der Auffassung, dunkler in der Abtönung der Gemälde ist der sog. Kremser-Schmidt (1718 — 1810) (nach dem kleinen Örtchen Krems, wo er wirkte, so benannt) ein Meister, dem man eben in der jüngsten Zeit gerecht zu werden versucht, in Ausstellungen und Publikationen.

Neben der Freskomalerei und der Behandlung religiöser Sujets für Kirchen und Klöster kam die profane Malerei fast nur als Porträtkunst zur Geltung. An der — wie oben erwähnt — durch Peter Strudl begründeten Akademie wirkten berühmte Ausländer, wie Jakob van Schuppen (geb. zu Fontainebleau 1669, † zu Wien 1771), und sein Nachfolger Martin Meytens (in Stockholm geboren, seit 1721 in Wien), internationale Künstler, die sich aber infolge langjährigen, angenehmen Aufenthaltes in Wien heimisch fühlten. Von diesen Künstlern, zu denen sich noch Auerbach und Loth gesellen, stammen die meisten Porträte der Herrscher und ihrer Familie, Karls VI., der Maria Theresia, der hohen Adligen. Ihre Werke sind in der pompösen Repräsentionsmanier, mit der virtuosen Behandlung des Stofflichen durchgeführt, wie sie an den berühmten Porträtisten der Pariser Schule geschätzt wurde. Übrigens ließen sich manche Herren, so der in diplomatischer Mission reisende und als eifriger Kunstsammler sich betätigende Graf Bonaventura Harrach, auch von französischen Künstlern, in diesem Falle von Largillière, porträtieren; auch von Rigaud und Nattier, von dem Schweden Alexander Roslin, der 1778 in Wien weilte, und von Anton Maron, (einem Schwager des Rafael Mengs, † 1808) gibt es Familienporträte in Wiener Besitz, und das Bildnis des Tondichters Gluck am Klavier von Duplessis bildet eine Sehenswürdigkeit des Hofmuseums. Der berühmte Schweizer Liotard hat mehrmals Wien zum Schauplatz seiner Tätigkeit gewählt; gerade für sein populärstes Werk, das „Schokoladenmädchen“ in Dresden, hat ein Wiener Stubenmädchen Modell gestanden. (Vgl. die Abbildung S. 53.) Auch die graziöse Madame Vigée-Lebrun hat mehrere Damen des Wiener Hofes und Hochadels gemalt. Eine vor drei Jahren im österreichischen Museum abgehaltene historische Porträtausstellung brachte manches schöne unbekannte Werk jener Epoche ans Tageslicht.

Eine eigene Position nimmt unter diesen Bildnismalern der vortreffliche und originelle Johann Kupetzky (geb. zu Bösing bei Preßburg 1667, † zu Nürnberg 1740) ein. Diesem Maler nachzugehen, wäre eine lohnende Aufgabe. Ich kenne in Privatbesitz Werke von Kupetzky, die ihn hoch über die Nachahmer der Franzosen und der Van Dyk-Schule erheben; in einem gesunden, kraftvollen Wahrheitssinn, einer farbenfrischen Derbheit trat er dem Konventionellen entgegen. Im Wiener Hofmuseum ist sein energisches Selbstporträt zu sehen. Dort findet man überhaupt die Meister des Wiener Barock und Rokoko am zahlreichsten vertreten, wenn auch nicht übersichtlich geordnet: Tüchtige religiöse und mythische Arbeiten von Loth, Rottmayr, Hohenberg, Gran, Maulpertsch, Troger; brillante Porträte des Leux von Leuchsenstein, Suttermans, Auerbachs (Karl VI. im gelbseidenen, goldverbrämten und mit mattblauen Säumen eingefassten Prunkgewande, mit koloristischer Noblesse vorgetragen). Hier ist auch in einem großen Gemälde von Francisco Solimena die Szene verewigt, wie Graf Althann dem kunstsinnigen Kaiser das Verzeichnis der in der Stallburg untergebrachten Gemäldesammlung kniend überreicht; und die ersten Anfänge dieser jetzt weltberühmten Galerie, die Brüsseler Sammlung des Erzherzogs Leopold Wilhelm, findet man, ein paar Säle weiter, von der unermüdlichen Hand Teniers d. J . lebendig wiedergegeben. Ferner Porträts von Dichtern und Gelehrten, von J. van Schuppen gemalt, von Meytens ein drolliges Selbstporträt; die Staatsbilder der Maria Theresia, mit dem Plane von Schönbrunn, und des Kaisers Josef II., von Maron; daran reihen sich entzückend graziöse, an Tonfeinheit und eleganter Behandlung der Seidenstoffe mit besten Meistern wetteifernde Familienbildnisse von Johann Zoffany, (der eigentlich Zauffely hieß): die Familien Toskana, Parma, die Erzherzogin Maria Christine (s. die Abbildung S. 50). Und den Schluss bilden, schon in Klassizismus übergehend, die Arbeiten des Raffael Mengs und der Angelika Kauffmann, die ja eine geborene Österreicherin war: sie stammt aus Vorarlberg. Noch wären von Malern, die in Wien tätig waren, zu nennen: der Holländer Bredael, der Schlacht- und Jagdbilder schuf und einige Kriegszüge des Prinzen Eugen mitmachte; der Pferdemaler Querfurt, die tüchtigen Porträtisten Unterberger und Hickel sowie Aug. Friedr. Oelenhainz, ein Württemberger von Geburt, der aber an der Wiener Akademie studierte und manche bekannte Persönlichkeit porträtierte. Am populärsten wurde sein Bild ,,Ein Wiener Stubenmädchen“, ein hübsches Gegenstück zu Liotards Schokoladenmädchen, besonders durch die vorzügliche Wiedergabe in Schabkunst-Manier, durch Jacobé (vgl. die Abbildung S. 54). Auch der Genremaler Janneck, und der vielbeschäftigte Landschafter Brand, von dessen ,,Kaufrufen“ später noch die Rede sein wird, dürfen hier nicht vergessen werden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Alt-Wien
Widmungsblatt der Kaiserin Maria Theresia

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Alt -Wiener Porzellangruppe, um 1760

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Silhouetten-Stich von Hieron. Löschenkohl

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