Alt-Wien

Die Geschichte seiner Kunst
Autor: Abels, Ludwig W. (?), Erscheinungsjahr: 1909
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wien, Alt-Wien, Neuerungssucht, Prachtbauten, Wipplinger Straße, Franziskanerplatz, Heiligenkreuzhof, Meisterwerke, Maler
1. Kapitel: Einleitung und historischer Überblick

Der heutigen Generation von Alt-Wien erzählen bedeutet fast, eine ins Meer versunkene Stadt aus Erinnerung und Phantasie wieder aufzubauen. Wohl stehen noch viele der prächtigsten und markantesten Bauten aus acht vergangenen Jahrhunderten. Aber ihre Umgebung ist verändert, die Größenverhältnisse sind verschoben, die Gruppierung und die Veduten sind zerstört: das Gesamtbild der Stadt ist ein total anderes. Man kann den Wienern der Gegenwart den Vorwurf nicht ersparen, dass sie allzu willig und oft ohne das volle Verständnis für die historisch gewordene Schönheit jeglichem Regulierungsplan Raum gegeben haben, auch wo es nicht durch sanitäre oder Verkehrserfordernisse geboten war. So wurde das reizvolle alte Bild des Hohen Marktes und des Mehlmarktes, — der heute stolz ,,Neuer Markt“ genannt wird — fast ganz zerstört; der Platz ,,Am Hof“ ist jetzt an der Reihe, bald werden noch andere Opfer einer unverständigen Neuerungssucht, die intimen Schönheiten des idyllischen Heiligenkreuzerhofes, des Franziskanerplatzes, die Prachtbauten der Wipplinger Straße folgen.

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Das alte Wien, wie es aus den noch vorhandenen schönen Resten, aus alten Plänen, Bildern und Schilderungen sich vor dem inneren Auge aufstellt, war ein individuelles Kunstwerk, etwa wie es Nürnberg oder Venedig heute noch sind. Und wenn man ein altes Meisterwerk, einen Dürer oder Peter Vischer, andächtig konserviert, so sollte man wohl auch dem kunstvollen alten Stadtbilde gegenüber nicht gar zu dünkelhaft auf die eigenen neuesten Errungenschaften technischer Art pochen. Es wäre Raum genug vorhanden, nach Süd- und Nordost die Wohnstätten und Industrieanlagen Wiens auszudehnen, so wie man in Nürnberg, mit Wahrung des alten Stadtteiles, die neue Stadt jenseits der Wälle aufbaute. Gerade an den Ufern des großen Donaustromes, die bisher noch in ländlicher Unberührtheit schlummern, lockt ein weites Gebiet die moderne Welt zu kühnen technischen Leistungen. — Es ist über dieses leider sehr aktuelle Thema in den letzten Monaten viel Tinte verspritzt worden; nutzlos, weil die Zerstörer den höheren Wert des in der Vorzeit Geschaffenen nicht kennen. Sie darüber zu belehren, den rasch und oberflächlich Urteilenden Geschmack und Verständnis für die Werke der inniger und ehrlicher empfindenden Vorfahren beizubringen, ist in unserer Epoche eine wichtige Aufgabe des Kunsthistorikers.

Das alte Wien war an dem südlichen rechten Ufer des kleineren Donau-Armes, der heute als Donaukanal den ersten Bezirk ,,Innere Stadt“ vom zweiten ,,Leopoldstadt“ scheidet, allmählich aufgebaut worden. Hier soll jedoch nicht die Entstehung der Stadt ab ovo dargestellt werden; von den Fischer-Ansiedlungen, dem römischen Kastell, den Klosterbauten der Passauer Bischöfe, der Entstehung der Herzogsburg ist oft genug erzählt worden. Meine Aufgabe ist, jenes Alt-Wien zu schildern, das heute wieder aus einem sehnsüchtigen Trieb heraus Mode geworden ist, die schlichte, gemütvolle Welt unserer Urgroßväter. Diese Epoche bereitete sich vor in der großen, politisch und künstlerisch bedeutenden Regierungszeit Karls VI. und der Maria Theresia, im 18. Jahrhundert, und endete ungefähr mit dem Revolutionsjahr 1848. In diesem knappen Rahmen ist fast alles zusammengefasst, was unser Wien als wundervoll eigenartige, trotz mancher Rückständigkeiten geistig und künstlerisch regsame Stadt erscheinen lässt, was heute noch in der Heimat und in der Fremde an ihm gerühmt wird. Wir sehen in diesem Zeitraum entstehen, was in den Palästen, Parks, Landhäusern, in den besten Gemälden eines Lampi, Füger, Waldmüller, Danhauser, Schwind, den Miniaturen von Daffinger, Theer, Saar, Peter, Wigand, in den Lithographien von Kriehuber und Prinzhofer, ebenso wie in den Dichtungen von Grillparzer, Raimund, Lenau, in den Tonschöpfungen von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und in der altberühmten Wiener Schauspielkunst noch heute das Publikum entzückt.

Alles das sind Qualitäten, die an sich schon ein umfangreicheres Sonderwerk vor aller Welt rechtfertigen würden. Für den Wiener und die österreichische Bevölkerung knüpft sich an diese Epoche noch manche intimere Reminiszenz, manches imponderable Herzensmoment. Stammt doch der noch immer so kräftige schwarzgelbe Patriotismus, dieser Seelenkitt, der trotz aller Misere und Zankerei die Leute verschiedendster Nationalitäten aneinanderbindet, zur Einheit verschmilzt und dem Auslande gegenüber als Einheit kennzeichnet, gerade aus der genannten Ära, aus den kriegerisch großen Tagen der Maria Theresia, aus der geistigen Erhebung unter Kaiser Josef II. Heute noch, also hundert Jahre post festum, kommt es vor, dass einfältige Bauern nach Wien pilgern, um den Kaiser Josef zu sehen. Das ist kein Märchen: Rosegger hat in einer köstlichen Jugenderinnerung ein solches Erlebnis mit rührendem Humor geschildert.

Aber es ist nicht leicht, ein solches historisches Bild von Alt-Wien mit wissenschaftlicher Exaktheit und lebendiger Greifbarkeit vorzuführen. Vor allem existieren — wir sind ja im Lande der „Schlamperei“ und des ,,Fortwurstelns“ — so wenige verlässliche Quellenwerke, so wenige gründliche Vorarbeiten, dass das meiste neu zu machen wäre. Drollige Berichte, von Augenzeugen im Plauderton gehalten, ,,Sehenswürdigkeiten“ und ,,Denkwürdigkeiten“, die entweder von privaten Patrioten oder von Spekulanten herrühren, oft von Spaßmachern oder Leuten, die das Gruseln erwecken wollen, liegen wohl in Menge vor. Das alles müsste gesichtet werden. Und bei aller Anerkennung der Bücher von Bermann, Wurzbach, Guglia, Krones, Arneth, Hevesi, Schaeffer, Bodenstein usw. und der kostspielig ausgestatteten Spezial-Werke über den ,,Wiener Kongress,“ die ,,Wiener Miniaturen,“ die ,,Alt-Wiener Porzellan-Manufaktur“, über Waldmüller und andere Künstler, muss doch der Wunsch nach einer eifrigeren Pflege dieses wissenschaftlichen Gebietes nachdrücklich geäußert werden.

Dass auch das vorliegende Werk keine endgültig abschließende und erschöpfende Behandlung des umfangreichen Themas bedeutet, ist wohl selbstverständlich. Es sollte nur ein Überblick, eine allgemein verständliche und — hoffentlich! — interessante Darstellung gegeben werden. Ich durfte nicht vergessen, dass dieses Buch für ein internationales Publikum zu schreiben war. Viele Namen tüchtiger Künstler, die der einheimische Sammler hochschätzt, konnten nicht einmal erwähnt werden, um die Übersichtlichkeit nicht zu zerstören, den Rahmen nicht zu sprengen. Dass ich es versucht habe, in der Gruppierung der Kunsterscheinungen, besonders aber in der Motivierung mancher bisher unerklärlichen Richtungen im Wiener Geistesleben etwas Neues und Eigenes zu bieten, wird der Fachmann leicht herausfinden. Auf Widerspruch bin ich gefaßt, da ich auch manchem alteingewurzelten Vorurteil widersprechen musste.

Herrn Dr. August Heymann, unserem bedeutendsten Viennensia-Sammler, sei an dieser Stelle für sein liebenswürdiges Interesse an dem Werden dieses Büchleins und für manchen wichtigen Wink der herzlichste Dank abgestattet. Auch den verschiedenen Behörden, Museumsdirektionen, Firmen und Privatsammlern, welche durch Erteilung von Reproduktionsrechten, Überlassung von Photographien und Clichés die Möglichkeit gaben, den illustrativen Teil des Buches so reichhaltig auszustatten, muss ich hier danken. Die einzelnen Namen und genaueren Angaben findet der Leser im Anhang verzeichnet. Besonders hervorheben möchte ich aber noch, dass ein großer Teil der abgebildeten Alt-Wiener Kunstwerke in diesem Buche zum ersten Male veröffentlicht wird; so vor allem die schönen Neuerwerbungen unseres kunsthistorischen Hofmuseums, Werke von Waldmüller, Füger, Fendi, Schindler, Eybl, auch Zoffanys graziöses Porträt der Erzherzogin Maria Christine. Diese Gemälde hat Herr Hofrat August Schaeffer, der verdienstvolle, auf die Ausgestaltung der vaterländischen Abteilung stets bedachte Direktor der Galerie, eigens für den vorliegenden Zweck aufnehmen zu lassen die große Güte gehabt.

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Mit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts setzt in Wien eine Epoche friedlicher Kulturentwicklung ein, die mit ihren künstlerischen Leistungen den eigenartigen Charakter des Stadtbildes in seinen Hauptzügen festlegte und auch einen kräftigen Grund für alle weitere Tätigkeit abgab. Eine Zeit furchtbarer äußerer und innerer Kämpfe war überwunden. Zuerst hatten die Glaubensstreitigkeiten die ganze Bevölkerung Österreichs ebenso wie diejenige des deutschen Nordens aufgewühlt. Es ist begreiflich, dass die Regierung, welche von Wien aus ihre Soldaten, ihre Feldherren und ihre Befehle in den Dreißigjährigen Krieg entsendete, mit den stärksten Mitteln der Gegenreformation wenigstens im eigenen Lager die geistige Ruhe wiederherstellte. — Zugleich waren gegen Osten hin die Anstürme der Türken abzuwehren. Nachdem der Kaiser Siegismund und sein Heer bei Nicopolis unterlegen waren, hatten die Türken 1453 Konstantinopel erobert und drängten unaufhaltsam gegen Mitteleuropa vor. Die Niederlage bei Mohács, der Abfall des von den Ungarn zum König gewählten Johann Zapolya, der sich mit den Türken gegen Kaiser Ferdinand verband, hatten die erste schreckensvolle Invasion 1529 zur Folge.

Die heldenmütige Verteidigung der Wiener unter Niklas Grafen Salm ist oft geschildert worden. Aber die Gefahr war nicht endgültig abgewendet; die abgebrannten Vorstädte durften nicht wieder aufgebaut, die Wälle und Befestigungen mussten beständig vermehrt werden. Aus der berühmten Handelsstadt, in der vorher auch Kunst und Dichtung geblüht hatten, wurde eine Festung. Erst nach der zweiten gewaltigen Abwehr 1683, bei der etwa 20.000 Einwohner sich gegen ein Heer von 170.000 Mann zu verteidigen hatten, bis deutsche und polnische Truppen zum Entsätze der Stadt herbeikamen, war der ,,Erbfeind“ endgültig zurückgedrängt.

Um so reicher konnten dann aber unter Josef I., Karl VI. und Maria Theresia die aus früherer Aussaat emporschießenden Künste sich entfalten. Es ist diese Epoche in Geschichtswerken oft so dargestellt worden, als ob der Zwang der religiösen Zucht, der jesuitischen Beichtväter alle geistige Regsamkeit niedergehalten und die Übermacht der Hofkreise und des Adels alles kräftige Empfinden vernichtet hätte. Dieser Auffassung gegenüber müsste doch darauf hingewiesen werden, unter welchem Druck der vornehmen Kreise im mächtigen Frankreich und auch in Spanien die gesamte Bevölkerung zu leiden hatte, und dass auch dort die großen Künstler, wie Rigaud, Le Brun, Boucher, Watteau sich um die allein wärmende Sonne des Königtums drehten. Und was die geistige Regsamkeit im nördlichen Deutschland zu jener Zeit anbelangt, so war sie wohl auch von Pietismus und Zopf bös beeinflusst. In der neuesten Zeit erst, wo man die Kultur einer Epoche nicht mehr einseitig nach literarischen Leistungen misst, konnten die Kunsthistoriker zum Verständnis jener bedeutungsvollen Epoche vordringen, in welcher die Baukunst, Denkmalplastik, Freskomalerei, Gobelinweberei, Porzellanfabrikation, Goldschmiedekunst und manche anderen Hilfskünste sich zu einem vollkommen selbständigen, wenn auch von italienischem Barock und französischem Rokoko in einzelnen Formen und Motiven beeinflussten Stil entfalteten. Diesen Stil als einheitliche historische Offenbarung zu studieren, müsste ein Hauptinteresse der kunstsinnigen Weltreisenden sein. Freilich gehört dazu ein längerer Aufenthalt und ein emsiges Nachgehen; auch fehlt ein anregender, übersichtlicher Cicerone. Vielleicht geben diese Zeilen den Anstoß dazu.

Peter Fendi, „Der Säemann“ (Heliogravüre) Titelbild

Peter Fendi, „Der Säemann“ (Heliogravüre) Titelbild

Wiener Stadtansicht

Wiener Stadtansicht

Ansicht der Stefanskirche (nach Rudolf Alt, Heliogravüre)

Ansicht der Stefanskirche (nach Rudolf Alt, Heliogravüre)

Kanzel im Stefansdom (photogr. Aufnahme)

Kanzel im Stefansdom (photogr. Aufnahme)

Ansicht von Schönbrunn (nach Canaletto)

Ansicht von Schönbrunn (nach Canaletto)

Ansicht der Freyung mit Schottenkirche (nach Canaletto)

Ansicht der Freyung mit Schottenkirche (nach Canaletto)

Der Kuppelsaal der Hofbibliothek (nach K. Probst)

Der Kuppelsaal der Hofbibliothek (nach K. Probst)