JAN VAN DER MEER VAN DELFT, Die lesende Frau

Eine Frau oder besser ein junges Mädchen steht am offenen — Fenster in ihrem Zimmer und liest einen Brief. Sie ist weder hübsch noch interessant, und für das Ganze sind die Wirkung des Sonnenlichts, das auf dem hellgrünen Vorhang spielt, die hohe, halbbelichtete Wand und der Teller mit Früchten, der schräg auf dem farbigen Tischteppich mehr hängt als steht, ohne Frage wichtiger als die eine bescheidene und sogar unbedeutende Gestalt. Aber gerade darin, dass dieses alltägliche Geschöpf so wenig hervortritt, dass es so gar nicht stört, besteht sein Verdienst. Es ist richtig gezeichnet, denn der Delfter van der Meer zeichnet seine Figuren immer gut, besser z. B. als gewöhnlich Pieter de Hooch, der ihm übrigens nahe kommt und oft mit ihm verwechselt worden ist, — und es hat gerade noch soviel persönlichen Inhalt, dass wir uns darum kümmern. Es hat also für diesen menschlichen Wohnraum mit seiner Morgensonne, seiner luftigen Frische und dem farbigen Lichtspiel, etwa die Bedeutung, wie wenn wir in einem einsamen Park eine Bank gemalt finden, bei der wir an Menschen denken müssen, so dass uns nun die unbelebte Natur vertraulich wird. So sollen wir auch dieses Zimmer lieb gewinnen, uns in die Lage und Stimmung dessen denken, der es bewohnt, und unser Auge sich freuen lassen an dieser gewählten Farbenzusammenstellung von hauptsächlich Grün und Gelb zu einer vorwiegend kühlen Harmonie. Der geistreiche Künstler dieses schlichten Bildes, das er in der reifsten Zeit seines kurzen Lebens gemalt hat, war ein Schüler des beinahe verschollenen Karel Fabritius und hat seine Vaterstadt Delft vielleicht niemals verlassen. Seine Genossen schätzten ihn, aber das übrige Publikum verstand ihn nicht, und bald kam eine Zeit, wo man ihn ganz vergaß. Heute steht er mit Recht in dem höchsten Ansehen, ein Impressionist wie wenige. Seine Bilder sind nicht häufig, dies ist eins der schönsten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Album der Dresdner Galerie