Kiss, Josef (1843-1921) österreichisch-ungarischer Dichter und Schriftsteller

Ungarn ist reich an hervorragenden lyrischen und epischen Dichtern in der Gegenwart, welche durch ihre Leistungen auch im Auslande hochgeschätzt werden. Einer der hervorragendsten ist der 1843 in Temesvar geborene Josef Kiss, früher Klein, dessen Gedichte und einige andere poetische Werke auch ins Deutsche von Ladislaus von Neugebauer, dem bekannten, mustergiltigen Übersetzer der Lieder Alexander Petöfis, übertragen wurden. Besonders populär wurde Kiss durch seine Balladen, die sich denen des grössten magyarischen Balladendichters, Johann Arany, an die Seite stellen lassen, und deren Stoff er mit Vorliebe der jüdischen Sage oder der jüdisch-magyarischen Gesellschaft entlehnt. Aus seinen „Jüdischen Gesängen“ will ich ein gerade jetzt sehr aktuelles Gedicht, „Gegen den Strom“ betitelt, hier mittheilen:

Nacht wird's; es ballt sich das Gewölk —
Ob wohl ein Gott dort oben wacht?
O frag' mich nicht, ich weiss es nicht!
Mein Kind, geh' schlafen — es wird Nacht! —
Aus grauer Zeit ein finst'rer Geist
Gespenstig über'm Erdball kreist,
Im Blick den Holzstoß-Glutenschein,
Wer weiß, tritt er nicht hier auch ein?
Geh' schlafen, Kind, geh' schlafen!


Tod im Gefolge — wie die Pest,
So schreitet er von Land zu Land,
Von seinem Tritt die Gnade stirbt.
Verliert sein Unrecht der Verstand;
Und Hoch und Niedrig, Jung und Alt,
Erfasst des „Wahnsinns Allgewalt,
Und wo sein tolles Spiel er treibt.
Vom Menschen nur der Name bleibt.
Geh' schlafen, Kind, geh' schlafen!

Man klagt uns an, o Frevelmut!
Blut trinkt Dein Vater, sagt man, Blut!
Und reifst heran Du einst zum Mann,
Auch Du, auch Du trinkst Blut sodann!
Die „Wolke ballt sich — es ist Nacht —
Ob wohl ein Gott dort oben wacht?
Ihn leugnen — bräche mir das Herz!
Ihm glauben — stillt es meinen Schmerz?
Geh' schlafen, Kind, geh' schlafen !

,,Wir lieben nicht dies Vaterland!“
Wie leicht man uns solch' Urteil spricht!
Der Vogel liebt sein Nest — das Wild
Liebt seine Schlucht: sein Heim — wir nicht!
O dieser Vorwurf schändet mehr.
Als wenn mit feuerrothem Stahl
Auf des Galeerensträflings Stirn
Der Henker brennt sein Schandenmal!
Geh' schlafen, Kind, geh' schlafen!

Vertheid'ge Dich — Du reiz't auf's Neu';
Leid stumm — bist Du ein feiger Wicht;
Schrei auf — so ist's Empfindelei,
Ja, wider Dich Dein ,,Ach“ selbst spricht.
Nur ein Gesetz gilt allerwärts.
Für jedes Hirn und jedes Herz ;
Natur lässt keine Ausnahm' zu —
Nur eine, eine: die bist Du;
Geh' schlafen, Kind, geh' schlafen!

O schließ', mein Kind, o schließe Du
Die holden Augensterne zu.
Wozu auch strahlte ihre Pracht
In solch' gewitterschwang'rer Nacht?
Wer weiss, kommt nicht die Zeit daher,
Dass dieser Blick sich tränenschwer
Gen mich kehrt — wenn ich längst im Grab —
Dass ich Dir solchem Leben gab.
Geh' schlafen, Kind, geh' schlafen !

Josef Kiss arbeitete sich mühsam empor. Geraume Zeit war er in Privatstellungen und lebte dann als Notar der Temesvarer israelitischen Gemeinde. Seit vielen Jahren hat er sein Domizil in Budapest und gibt seit einem Jahrzehnt die geachtete belletristische Zeitschrift: „A hét“ (Die Woche) heraus. In Bezug auf literarische Anerkennung musste er lange warten, bis sein Talent nach Gebühr gewürdigt wurde. Seine 1868 erschienenen ersten „Gedichte“ vermochten nur geringen Eindruck hervorzurufen; um so größer war der Beifall, den zehn Jahre später seine „Gesammelten Gedichte“ fanden.

Noch mag sein reizendes gesellschaftliches Epos: „Lied von der Nähmaschine“, gleichfalls von Ladislaus von Neugebauer übesetzt, erwähnt werden.