Zur Orientierung in der Schönen Literatur

Die alte Heldensage und ihre Bearbeiter
Autor: anonym aus: Morgenblatt für gebildete Leser, Erscheinungsjahr: 1853
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Das Morgenblatt für gebildete Leser (seit 1837, vorher: Morgenblatt für gebildete Stände) ist der bedeutendste Vertreter eines neuen Zeitschriftentypus, zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Mit seiner Auflage von 2.500 Exemplaren, davon etwa 1.400 Abonnements, war es das führende literarische Unterhaltungsorgan in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von 1807 bis 1865 erschien es in Stuttgart und Tübingen im Verlag der Cotta'schen Verlagsbuchhandlung, einem der einflussreichsten deutschen Verlage seiner Zeit.

Idee und Konzept zu der vier- bis sechsseitigen und bis zu sechsmal wöchentlich erscheinenden, im Zeitungsstil aufgemachten Zeitschrift stammten von dem Verleger Johann Friedrich Cotta*). Der Inhalt war eine vielfältige Mischung aus Reiseberichten, Gedichten, Lebenserinnerungen, Aufsätzen zu Literatur, Geschichte, Kunst und Naturkunde, sowie Rezensionen. Die Zeitschrift hatte aufgrund der Vielzahl bedeutender Mitarbeiter schnell großen Erfolg; kaum ein wichtiger Autor der Zeit fehlte auf der Mitarbeiterliste. Die Prominenz der Mitarbeiter führte dazu, dass von dem ursprünglichen Prinzip, die Beiträge der Zeitschrift anonym erscheinen zu lassen, zusehends abgewichen wurde. Quelle: Wikipedia

*) Cotta, Johann Friedrich Freiherr von Cottendorf (1764-1832) deutscher Verleger, Industriepionier und Politiker
Wenn von den Erscheinungen auf dem Felde der epischen Dichtung, die nach der Goethe-Schillerschen-Literaturperiode aufgetaucht sind, die Rede sein soll, so gebührt unzweifelhaft die erste Stelle denjenigen Werken, welche sich an die alte Heldensage anlehnen. Die romantische Schule ist zwar nicht im Stande gewesen, irgend eine rein poetische Arbeit zu Tage zu fördern, welche ihre Lebensfähigkeit auch nur bis in unsere Tage herab bewiesen hätte, aber sie hat das offenbare Verdienst, den Geist der Nation auf die Stoffe gelenkt zu haben, welche dieses wunderbar reiche, fast unerschöpfliche Gebiet bietet. Ihren rastlosen Bemühungen verdanken wir es vorzugsweise, dass wir in die vergangene poetische Pracht des Mittelalters gegenwärtig klare und lichte Blicke tun können. Man braucht nur an das Nibelungenlied, an die Gudrun, an den Parcival und an Tristan und Isolde zu erinnern, die wir jetzt samt und sonders in vielfachen trefflichen Übertragungen vor uns liegen und dem Geiste und dem Herzen nahe gebracht sehen, um voll Dankbarkeit für eine Reihe von Männern zu sein, denen die Kritik freilich nach andern Seiten hin oft die härtesten Dinge sagen musste, die aber nie vergessen werden dürfen, wenn es sich um die alte Sage handelt.

Was die Vater säen, das ernten die Söhne. Zu den glücklichsten Erben, der sich die schönsten und vollsten Garben auf diesem Acker geschnitten und sie in die sichere Scheune gebracht hat, gehört ohne Widerrede der treffliche Karl Simrock, dessen Übersetzungen der Nibelungen, der Gudrun und des Parcival von Wolfram von Eschenbach zu den rühmlichsten Arbeiten unserer Literatur gehören, nicht allein, weil sie in jedem Wort den gründlichen gelehrten Forscher offenbaren, sondern noch mehr, weil sie das klarste und deutlichste Zeugnis ablegen von der eigenen kräftigen Dichterbegabung des Schriftstellers, der mit wahrhaft künstlerischem Sinn und Maß die alte Zeichnung herstellt und die verwischten und dunkeln Farben erneut und auffrischt. Leider hat bis jetzt nur sein Nibelungenlied die verdiente Popularität gefunden, die Gudrun und der Parcival sind noch lange nicht genug gewürdigt und gekannt.

Mit Betrübnis, muss man hinzufügen, dass Simrocks Amelungenlied, eine der bedeutsamsten, umfangreichsten und prächtigsten Dichtungen, welche die deutsche Nation besitzt, dasselbe Los teilt. Eine tiefere Bekanntschaft findet man fast nur bei den besten Kennern der Literatur. Und doch, welche Vorzüge vereinen sich in diesem herrlichen Werk, in welchem der Poet nicht nach- und umbildet, sondern selbstständig und eigenschöpferisch auftritt! Zunächst staunen wir über die unabsehbare Mannigfaltigkeit des verarbeiteten Materials. Welche Masse von Studien war nötig, um diese Tatsachen und Ereignisse an das Licht zu fördern! Und wie hatte die Phantasie alsdann zu schaffen, um die getrennten, losgerissenen Glieder zu einem ganzen Organismus zu verbinden und zu verknüpfen, ohne dabei den ursprünglichen Charakter der Gestalten und Taten zu zerstören und zu schwächen! Welche Kraft der Arbeit, welche Zähigkeit der Begeisterung war endlich nötig, damit auch alle im Haupte entstandenen und zusammengelegten Kombinationen zur plastischen, greifbaren Erscheinung kämen! Wie mussten die Abenteuer durchgefeilt, wie musste die Sprache gehandhabt werden, um ein solches Gedicht zu schreiben! Das Ende hat aber auch das Werk gekrönt. Eine Exposition der Amelungen wäre hier nicht an der Stelle, weil sie uns über das Maß, welches diesen Orientierungen gegeben ist, hinausführen würde. Wir haben nur die Tatsache auszusprechen, dass in dieser Dichtung ein großartiges, ächt deutsches Werk vor uns liegt, dessen Gleichen wir bei einem andern Volk vergebens suchen würden. Ächt deutsch ist es dem Stoffe, dem Gedanken und der Behandlung nach. Die riesigen Heldengestalten, welche der germanische Geist vor langen Jahrhunderten phantastisch erdacht hat, gewinnen, wie in den Nibelungen, so auch in den Amelungen Fleisch und Bein, sie treten eisengerüstet aus den Nebeln der Vergangenheit mit ihrer mächtigen Lebensfülle, mit ihrer ehernen Kraft, mit ihrem wilden ungebändigten Mut. So lieben sie, so hassen sie, so feiern sie ihre Feste, so schlagen sie ihre Schlachten. Wie sehr sie aus jedem Rahmen, an den unsere Anschauungsweise gewöhnt ist, heraustreten, der Dichter weiß sie unserem Gefühl nahe zu bringen. Wir erhalten überall den Eindruck, dass ein ächter Künstler sie vor uns auftauchen und verschwinden lässt. Von ganzem Herzen stimmen wir deshalb einem jungen Dichter bei, der von Simrocks Heldenbuch sagt: er zeihe jeden der Geschmacklosigkeit, der es besitzen kann und nicht besitzt, er bedaure jeden, der es nicht haben könne.

Simrocks rastloser Fleiß hat es aber nicht allein bei diesen Dichtungen bewenden lassen. Hin und wieder ist er auch in die spätere Sage hinabgestiegen und hat auch dort manche eigentümliche Arbeit zu Tage gefördert. Eine sehr hübsche Geschichte ist das kleine Epos: der gute Meister Gerhard. In seinen Volksbüchern findet sich ferner der freilich ziemlich drastische Schwank: Solomon und Morolf, dem er aus Vorsicht das Motto: „Wer zipp ist oder zimperlich, der hüt' vor diesem Büchlein sich! vorsetzt. Überaus lieblich und anmutig klingt endlich das Gedicht: Bertha die Spinnerin, welches die Sage von der Mutter Karls des Großen behandelt und eben in einem besondern Abdruck erschienen ist.

Bei dieser Gelegenheit wollen wir gleich eines andern Bearbeiters des karolingischen Sagenkreises gedenken. O. F. Gruppe behandelt in seinem: „Karl der Große, eine epische Trilogie“ ungefähr das ganze Leben des fränkischen Kaisers. Der erste Teil führt uns ebenfalls die Königin Bertha und damit die Geburt Karls vor; die zweite Abteilung schildert unter dem Titel Hildegard, die bekanntlich von des Kaisers Bruder in Versuchung geführt und auf die heuchlerische Anklage desselben verbannt wurde, alle seine hauptsächlichen Staats- und Kriegstaten, und der Schluss, Eginhard und Emma, zeigt ihn uns als Vater seiner Familie. Simrocks epische Kraft und Breite ist hier freilich bei weitem nicht erreicht. Die zusammenknüpfenden Fäden sind oft viel zu lose geschürzt, die Ereignisse gehen oft zu paradenartig vorüber. Dabei wiegt der Balladenton zu sehr vor. Auch sprachlich könnte manches besser gebaut sein. Es lässt sich indes nicht leugnen, dass die idyllischen Partien des Buches mitunter äußerst zart und lieblich sind. Besonders ist Eginhard und Emma ein wahrer kleiner Edelstein.

Schließlich müssen wir hier noch an einen Bearbeiter der Heldensage erinnern, den schon lange die kühle Erde deckt und dessen Genius viel zu früh von uns geschieden. Sein Name ist Karl Immermann, sein Gedicht heißt Tristan und Isolde. Dieses Epos verhält sich zu den Dichtungen Simrocks, wie die französische Sage zur deutschen. Ist diese groß, starr, gewaltig, eisern, so macht jene meistens einen graziösen, milden, anmutvollen und blühenden Eindruck. Und so hat Immermann seine Arbeit auch gefasst. Er überschüttet den Leser ordentlich mit einem Reichtum von üppigen Bildern. Man sitzt darunter wie unter einem Apfelbaum im Frühling, der seine reichen Blüten herabstreut. Dabei sind seine Gestalten stets aus ganzem Holze geschnitten, mögen sie nun die Kraft oder die Liebenswürdigkeit präsentieren. Freilich ist auch manches zu tadeln, zumal die mitunter entsetzlich holperigen Verse, in denen der Sprache und dem Reime Gewalt angetan wird. Trotzdem übt die Dichtung einen überaus wohltuenden Einfluss auf Herz und Haupt. Sie ist das Werk eines ganzen und reifen Meisters. Seltsam ist das Los, das Immermann gerade wie seinen Vorgänger Gottfried von Straßburg traf. Beide sind über ihrem Gedichte, das denselben Stoff behandelt, gestorben.

Haben wir uns hier erlaubt, auf einige schon vor längerer Zeit erschienene Dichtungen aufmerksam zu machen, so geschah es nicht wenig des heutigen, Geschmacks wegen, der sich oft nur zu sehr den spielenden, tändelnden und füßlichen Erscheinungen der Tagesliteratur zuwendet und darüber die kräftigsten, tüchtigsten Arbeiten unserer Dichter vergisst. In der Tat wäre wohl vieles besser im deutschen Vaterlande, wenn man sich daran gewöhnte, die Urtypen alter Kraft, hohen Stolzes, edler Milde und süßer Holdseligkeit in ihren reinen ungetrübten Bildern zu betrachten, als Zeit und Muße für ekelhafte, nur die Sinne reizende ausländische Produkte zu vergeuden. Erzieht einmal eure Söhne und Töchter mit der alten Heldensage, und sie werden bessere Männer und Frauen werden, als sie, Gott sei es geklagt, gegenwärtig sind.

Cotta, Johann Friedrich Freiherr von Cottendorf (1764-1832) deutscher Verleger, Industriepionier und Politiker

Cotta, Johann Friedrich Freiherr von Cottendorf (1764-1832) deutscher Verleger, Industriepionier und Politiker