Fand unsere uralte wendische Bevölkerung bei der Christianisierung Mecklenburgs ihren Untergang?

Dass während der blutigen Kämpfe manche Gegend unseres Vaterlandes fast zur Einöde wurde, dürfen wir nach der Natur damaliger Kriege wohl annehmen, und sehen wir geschichtlich bezeugt. So wurden i. J. 1210 (Urk. Nr. 197) deutsche Colonen auf die Insel Poel verpflanzt, weil deren wendische Urbevölkerung wegen Mangels an Lebensmitteln und an Menschen nicht mehr zum Ackerbau hinreichte; so wollten nach Urk. v. 21. Mai 1236 (Nr. 454) die Anbauer längere Zeit hindurch durchaus nicht nach Bäbelin, welches beim Kampfe mit den vormals von dort verdrängten Wenden verheert war. — Ebensowenig wollen wir in Abrede nehmen, dass die durch hundertjährige Kriege aufs Äußerste erbitterten Deutschen gewiss am Liebsten das ganze Wendenvolk auf einmal ausgerottet hätten, doch vermochten sie bei ihrer obendrein immer nur verhältnismäßig geringen Menge das durch Sümpfe und Wälder schwer zugängliche und hart verteidigte Land nicht zu überschwemmen, und nur allmählich ging die Eroberung vorwärts. Und als endlich das Christentum hier auf immer siegreich eingezogen war, da finden wir nur die Grafschaft Schwerin — jetzt Städte und Ämter Schwerin, Wittenburg, Boizenburg, Crivitz, Hagenow, Neustadt — unter deutscher Herrschaft, während das ganze übrige Land von dem Sieger an den Wendenfürsten Pribislav, den Ahnherrn unseres Fürstenhauses, zurückgegeben wurde 1167. Boll, Gesch. Mecklenburgs Bd. 1, S. 90. 105; v. Rudloff, Meckl. Gesch. Bd. 1, S, 150, 220.

Zweifellos sammelten Pribislav und seine Nachfolger nun ihr treues Wendenvolk um sich, und waren bemühet, die demselben geschlagenen Wunden zu heilen, sein ferneres Gedeihen auf jede Weise zu fördern. Das Gegenteil wäre geradezu unnatürlich gewesen, und unsere Ansicht ist geschichtlich bestätigt. — So sehen wir zunächst an Pribislavs und seiner Nachkommen Umgebung einen zahlreichen wendischen Adel. Die Namen Sirizlaf Recis, Wolcowitz, Wartiz, Bizpraw, Germeriz, Vencegur, Radomir, Chubanze, Veneiko, Woiwoto, Damascho, Paliz, Gusiz, Uriz, Sziso, Jerdagh, Zlauteich, Chemko, Dursico, Barinz, Janeke, Gamba, Germeriz, Wenezlav, Stoislav, Neopra, Niwoper, Yo, Dargatz, Jarozlav, Priscebur, Zlawoteck, Gotemar, Unislar u. a. begegnen uns überall in der Zeugenreihe der von den wendischen Fürsten ausgestellten Urkunden, und zwar vor den Trägern deutscher Adelsnamen, woraus das Ansehen jener zur Genüge erhellt. Im Laufe des 13. Jahrhunderts verschwinden freilich allmählich die wendischen Namensklänge, und deutsche treten an ihre Stelle; doch erklärt sich dies daraus, dass damals der Adel überhaupt seine alten Familiennamen abzulegen und nach dem neuen Lehensbesitz sich zu nennen begann; Lisch, Jahrbücher Meckl. Gesch. Bd. 13, S. III. — Ferner berichtet Helmold in seiner Slawenchronik a. E., dass Pribislav Mecklenburg, Ilow Rostock aufgebaut, und in diesen Landesteilen die Völker der Slaven angesetzt habe; Lisch, Bd. 13, S. 63. Das Kloster Dargun erhielt sowohl bei seiner ersten Gründung durch Urk. von 1174 u. 1219 (Nr. 114, 247), als uch bei späteren Verleihungen der Güter Dukow und Gaarz durch Urk. v. 1229 u. 1242 (Nr. 373, 542) das Recht, Ansiedler jeglichen Stammes — einerlei, ob Deutsche, Dänen oder Wenden — herbeizurufen, und ähnliche Ausdrücke finden sich in anderen Klosterprivilegien, z. B. für Doberan v. 1218 und 1219 (Nr. 239, 258). Am 22. Febr. 1287 (Nr. 1888) .wurden Streitigkeiten zwischen dem Wenden Dedic, einem „ehrenwerten Manne“ (virum honestum) und dem Kloster Dargun wegen des Dorfes Cantim „durch Rat angesehener Männer“ gütlich verglichen, und Gleiches geschah am 8. Januar 1296 (Nr. 2378) wegen des Dorfes Bast gegenüber einem Wenden Milota. Am 30. April 1315 schenkte Fürst Heinrich von Mecklenburg dem Kloster Doberan die wendischen Dörfer Stülow und Hohenfelde mit dem Befehle, das dortige Gericht nach wendischem Rechte zu handhaben (jurisdictio debet fieri jure slavicali, prout antiquitus Slavi usi fuerunt); Lisch, Bd. 15, S. 234. In Rostock wohnten im Mittelalter zahlreiche Wenden mit einem besondern Vogte; Lisch, Bd. 21, S. 17. Die s. g. schwarzen oder Biestower Bauern, welche früher die ganze Fläche zwischen Rostock, Doberan und Schwaan inne hatten und noch jetzt in den Kirchspielen Biestow und Buchholz in großer Abgeschlossenheit leben, gelten für Nachkommen der alten Wenden; Beiträge zur Statistik Mecklenburgs Bd. 4 S. 155.


In der deutschen Grafschaft Schwerin dagegen, unter unmittelbarem Einfluss der erbitterten Sieger durften die Wenden wohl eben keine Schonung erwarten und ebenso musste dem deutschen Bistum Ratzeburg — in einem Teile der Grafschaft Schwerin, und ferner in den Gebieten Gadebusch, Dassow, Grevismühlen, Dömitz — an Zunahme der deutschen Bevölkerung gelegen sein, teils schon zur eignen Sicherheit, teils, weil die Zehnten der Deutschen den wendischen Bischofszins ums Doppelte überstiegen; Lisch, Bd. 13 S. 65. So berichtet denn auch Helmolds Chronik 1160, dass die Zehnten sich mehrten im Lande der Slawen und die Festen von den Ankömmlingen bewohnt würden; ferner 1163, dass die letzten Reste der Slawen zu den Pommern und Dänen geflüchtet, und von diesen verkauft seien. Die Urkunden der damaligen und selbst noch späterer Zeit lassen aber nur ein allmähliches Zunehmen der Deutschen unter möglicher Berücksichtigung der Wenden erkennen. Bei der Bewidmung des Bistums Ratzeburg 1158 (Nr. 65) wird die Vertreibung der Wenden und die Zunahme der deutschen Zehnten nur als eine erst in der Zukunft liegende bezeichnet (postquam autem Slvis ejectis terra decimalis fuerit), ebenso nach einer Urkunde von 1190 (Nr. 150), in welcher aber schließlich Graf Heinrich sich verpflichtet, binnen 10 Jahren das Land zehentpflichtig zu machen. Dass dies aber nicht geschehen, ergibt ein Ratzeburger Zehentregister von 1230 (Nr. 375), also noch 40 Jahre später, in welchem für dieselbe Gegend der Zehnte geordnet wird, sobald erst Deutsche sich dort angesiedelt haben werden, und wobei die frühere Clausel der Wendenverjagung nicht wiederholt wird. In derselben Urkunde werden die von Wenden bewohnten Dörfer immer ausdrücklich als solche bezeichnet (Slavi sunt — villa Slavica), und deren liest man noch eine ganze Reihe, besonders in den Parochien Pritzier, Rehna, Vietlübbe, Dassow, Mummendorf, Proseken, Beidendorf, Grevismühlen. Graf Gunzel von Schwerin verlieh am 25. Mai 1220 (Nr. 266) den Wenden zu Brüsewitz, welche zur Zeit dort wohnten und später dort wohnen wollten, deutsches Recht. Graf Helmold von Schwerin verpflichtete sich beim Verkauf von Lositz am 6. Juli 1285 (Nr. 1809) zwar zur Vertreibung der Wenden aus diesem Orte, jedoch nur in der Weise, dass dieselben unter freiwilligem Abzuge (voluntarie recedendo) öffentlich auf ihre Rechte verzichten sollten. Noch im 16. Jahrhundert lebten zahlreiche Wenden in der s. g. Jabelheide, d. i. den Ortschaften zwischen Sude, Rögnitz und Elbe, Lisch, Bd. 1, pag. 7, und selbst jetzt noch will man in den Ämtern Neustadt, Grabow, Eldena, Lübtheen (auch wohl Hagenow?) die wendische Urbevölkerung vielfach erkennen; Boll, Gesch. Mecklenb., Vorrede zu Bd. 1.

Hiernach dürfen wir kein Bedenken tragen, mit v. Rudloff Meckl. Gesch. Bd. 1, S. 150, 220, und von Lützow Meckl. Gesch. Bd, 1, S. 322, zu behaupten, dass auch nach der bereits im 12. Jahrhundert abgeschlossenen Christianisierung unseres Vaterlandes die Wenden, wenigstens auf dem platten Lande, sehr zahlreich sich erhalten haben und nicht untergegangen sind.