Staatsbürgertum und nationale Bestrebungen.

Der schwerste Vorwurf, der in fast allen Ländern von unsern Gegnern wider den Zionismus erhoben wird, ist der, wir könnten nicht gleichzeitig treue Staatsbürger unserer Wohnländer und dabei jüdisch-national und Zionisten sein. Hier läge ein innerer Widerspruch und die Juden hätten entweder für das Wohnland oder für den Zionismus zu optieren, oder wie die neue Formel lautet: wir müßten Farbe bekennen, ob wir zuerst Deutsche wären oder Juden. Selbst in Staaten, wie Österreich und Rußland, die vielerlei Nationalitäten beherbergen, weigert man der jüdischen nach Möglichkeit die Anerkennung, weil die Juden kein geschlossenes Sprachgebiet ihr eigen nennen, sondern verstreut unter allen Völkern wohnen; dem Zionismus als Streben nach einer Heimstätte in Palästina werfen die jüdischen Assimilanten auch dort Staatsfeindschaft vor und wollen uns als Zukunftsbürgern fremden Landes das Recht nehmen, uns an der Politik unseres Heimatlandes zu beteiligen.

Der moderne Staat beruht staatsrechtlich auf dem Grundsätze des Staatsbürgertums, der Staatsangehörigkeit; das Wort cuius regio, eius religio, die exklusive Konfessionalität des Staates ist rechtlich längst überwunden; das Prinzip cuius regio, eius natio, die exklusive Nationalität des Staates hat sich niemals auch nur in der Theorie durchführen lassen, und die extremen Nationalisten, die, wie Prof. Hasse-Leipzig, die fremdnationalen Staatsbürger rechtlich zu Parias degradieren und zu Sklavendiensten anhalten wollen, führen sich selbst ad absurdum. Vor dem Gesetze ist jeder Staatsbürger gleich, welcher Konfession und welcher Nationalität er auch angehören mag.


Trotz der theoretischen Rechtsgleichheit ist praktisch das Deutsche Reich ein christlicher Staat und ein solcher deutscher Nationalität. Wir mögen uns als konfessionelle und nationale Minorität noch so oft auf unser Recht berufen, die Verwaltung wird mit einer prinzipiellen Verbeugung vor den Verfassungsgrundsätzen weiter ihre absichtlich germanische Politik betreiben — und die Bevölkerung wird ihr in ihrer großen Mehrzahl zustimmen — und wenn nicht öffentlich aus Scheu vor den großen demokratischen Prinzipien, desto sicherer im geheimen in ihren Reden und Handlungen.

Wir Juden teilen konfessionell dieses Los der ewigen Minorität mit einigen Dissidenten, Freidenkern und Sektierern, die neben uns kaum in Betracht kommen, national mit Polen, Dänen, Franzosen, Litauern, Masuren, Kassuben, Wenden, Wallonen und Tschechen. Die Polen sind heute die vera crux Preußens und des Reiches, mit ihnen teilen Franzosen und Dänen das Bestreben nach Losreißung einzelner Gebietsteile vom Reichsverband. Wallonen und Tschechen sind an Zahl unbedeutend. Litauer, Masuren, Kassuben und Wenden sind durchaus reichstreu, genau ebenso wie wir Juden. Diesen Zustand hat unser Kaiser als durchaus zulässig anerkannt, als er 1902 in Posen sagte: „Das Königreich Preußen setzt sich aus vielen Stämmen zusammen, die stolz sind auf ihre frühere Geschichte und Eigenart. Das hindert sie nicht, vor allem brave Preußen zu sein.“

Unsere Mitbürger christlicher Konfession und deutscher Nationalität werden uns immer als fremd-nationale Minderheit betrachten, selbst wenn wir beweisen, daß wir zum Teil schon seit der Römerzeit deutschen Boden bewohnen. Denn die Summe gemeinsamer Erinnerungen und vor allem gemeinsamer Leiden macht, wie Renan nachweist, ein Volk aus. Die gemeinsam erduldeten Verfolgungen der Vergangenheit und Gegenwart schmieden uns mit unseren Brüdern rund um den Erdball unauflöslich zusammen. Und Renan fährt fort: „L'homme ne s'improvise pas. Le culte des ancêtres est de tous le plus légitime; les ancêtres nous ont faits ce que nous sommes.“ — Das wissen wir, das wissen jene — das eine Jahrhundert gemeinsamer Geschichte kann den Abgrund des Mittelalters nicht überbrücken.

Da dies so ist und unsere Mitbürger also handeln, ist es Vogel Strauß-Politik, wenn wir Juden die Tatsachen ableugnen und unsere Sonderart und Sondernationalität verbergen wollten. Wir können uns damit in den Augen unserer Mitbürger nur verächtlich machen, wir ziehen den Abfall in den eigenen Reihen groß und wir verbessern praktisch unsere Stellung nicht um einen Deut. Wir sind nun einmal keine Germanen, der Abstammung nach, wir haben nicht Teil an deutscher Vergangenheit vor dem Jahre 1800, und darum sind Juden, die sich als Germanen geben, lächerlich.

Dies alles hat aber mit unserer Stellung zum Deutschen Reich und zur heutigen deutschen Kultur nicht das mindeste zu schaffen, wenigstens nicht nach der Art, wie wir unsere Treupflicht gegen den Staat stets aufgefasst und erfüllt haben, während unsere Feinde aus den Judenverfolgungen der Vergangenheit das Recht herleiten, uns auch jetzt in unserem Rechte zu kränken. Wir sind aufgewachsen auf deutschem Boden, unsere Muttersprache ist die deutsche, wir haben vollen Anteil an der deutschen Kultur der Gegenwart, an der wir redlich mitschaffen und wir sind treue Bürger unseres deutschen Vaterlandes, die alle Pflichten gern erfüllen und bereit sind, in Not und Gefahr mit Gut und Blut hierfür einzustehen. Wir wahren uns aber das Recht, die Traditionen unseres jüdischen Volkstums in jeder Weise zu pflegen, unseren jüdischen Brüdern in der ganzen Welt in jeder Weise beizustehen und die Zukunft des jüdischen Volkes durch Schaffung einer öffentlich rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina sicherzustellen.

Und damit ist auch die Frage, ob wir zuerst Deutsche sind oder Juden, in das rechte Licht gerückt. Sie ist ebenso unsinnig wie jene, ob jemand Kaufmann ist oder lieber in die Alpen reist, weil bei beiden Gliedern jener Frage das gemein same tertium comparationis fehlt. In deutschen Dingen, d. h. in allen politischen und kulturellen Fragen, die das Wohl und Wehe des Deutschen Reiches betreffen, sind wir Deutsche, in jüdischen Dingen, d. h. in allen Fragen, die das jüdische Volk, sein Volkstum und seine Zukunft angehen, sind wir Juden. Ein Interessenkonflikt besteht hier nicht und kann gar nicht entstehen.

Dabei ist es ganz gleichgültig, ob einzelne von uns beabsichtigen, in Zukunft nach Palästina auszuwandern oder nicht Es ist der Lage der Dinge nach ausgeschlossen, daß dies ein erheblicher Bruchteil auch nur der Zionisten unter den westeuropäischen Juden tue. Die zionistische Organisation hat stets betont, daß nur der in die zu gründende Heimstätte übersiedeln solle, der sich an seinem Wohnorte nicht assimilieren kann und will. Wer sich wohl fühlt, der bleibe, wer jüdisches Leben und den aktiven Kampf für die jüdische Zukunft dem behaglichen Bebauen vorzieht, der gehe nach Erez Israel. Die Zionisten aber in irgendeinem Lande der Welt deswegen schlechtere Bürger zu heißen, weil unter zukünftig vielleicht eintretenden Umständen ein Bruchteil von ihnen abwandern will, das stände auf derselben Höhe staatspolitischer Logik, wie wenn Rußland die Judenverfolgungen mit der jüdischen Massenauswanderung, Preußen die Verschleppung der Mainkanalisierung mit der starken Auswanderung der drei fränkischen Kreise in der Mitte des 19. Jahrhunderts begründen wollte; eine Logik, die gegenüber den vor dem Pogrom flüchtenden jüdischen Dörflern bisher nur angewandt hat das Land des Wort- und Vertragsbruchs — Rumänien.

Sollte aber die Auswanderung wider Erwarten eine umfangreiche werden, so wird dies den Zurückbleibenden nur zugute kommen. Denn mit der sinkenden Zahl der Juden schwindet der Antisemitismus. Und diejenigen, die trotz Schaffung einer gesicherten Heimstätte im Geburtslande bleiben, werden mit Recht darauf hinweisen können, wie sehr sie dasselbe lieben und daß sie sich als treue Bürger fühlen. (Über den Begriff der jüdischen Nationalität s. Jüdisches Volk.)


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch