Protestrabbiner

Dieses Kainszeichen drückte Herzl gewissen Rabbinern auf die Stirn. „Damit sie fürder nicht mit den guten Rabbinern verwechselt werden, wollen wir die Angestellten der Synagoge, die sich gegen die Erlösung ihres Volkes verwahren, die Protestrabbiner nennen.“ Das ist der Schlusssatz eines der kraftvollsten Aufsätze von Herzl. In No. 24 der Allgemeinen Zeitung des Judentums (1897) — zwei Monate vor Eröffnung des Baseler Kongresses (s. d.) — hatte der Geschäftsführende Ausschuss des Rabbinerverbandes in Deutschland Dr. Maybaum (Berlin), Dr. Horowitz (Frankfurt a. M.), Dr. Guttmann (Breslau), Dr. Auerbach (Halberstadt), Dr. Werner (München) eine Erklärung veröffentlicht des Inhaltes:

,,Durch die Einberufung eines Zionisten-Kongresses und durch die Veröffentlichung seiner Tagesordnung sind so irrige Vorstellungen über den Lehrinhalt des Judentums und über die Bestrebungen seiner Bekenner verbreitet worden, daß der unter zeichnete Vorstand des Rabbinerverbandes in Deutschland es für geboten erachtet, folgende Erklärung abzugeben:


1. Die Bestrebungen sogenannter Zionisten, in Palästina einen jüdischnationalen Staat zu gründen, widersprechen den messianischen Verheißungen des Judentums, wie sie in der Heiligen Schrift und den späteren Religionsquellen enthalten sind.

2. Das Judentum verpflichtet seine Bekenner, dem Vaterlande, dem sie angehören, mit aller Hingebung zu dienen und dessen nationale Interessen mit ganzem Herzen und mit allen Kräften zu fördern.

3. Mit dieser Verpflichtung aber stehen nicht im Widerspruch jene edlen Bestrebungen, welche auf die Kolonisation Palästinas durch jüdische Ackerbauer abzielen, weil sie zur Gründung eines nationalen Staates keinerlei Beziehungen haben. — Religion und Vaterlandsliebe legen uns daher in gleicher Weise die Pflicht auf, alle, denen das Wohl des Judentums am Herzen liegt, zu bitten, daß sie sich von den vorerwähnten zionistischen Bestrebungen und ganz besonders von dem trotz aller Abmahnungen noch immer geplanten Kongress fern halten.“

Diese Erklärung hatte die Runde durch die Tageszeitungen gemacht und war von der Furcht diktiert, daß der Kongress wie geplant war, in München stattfinden sollte. Die Erklärung ist sicher nicht aus der Tiefe protestrabbinerlichen Gemütes geflossen. Sie ist nur im Zusammenhang mit der Absage des Vorstandes der jüdischen Gemeinde München zu verstehen, und den vergeblichen Versuchen, die Behörden zum Verbot eines Kongresses in München zu veranlassen. Die Erklärung muß als die Befolgung eines strikten Befehles der Gemeindevorstände aufgefasst werden. Wie sich herausstellte, hatte der geschäftsführende Vorstand eigenmächtig ohne Wissen des Verbandes gehandelt. Diesem war durch § 16 seines Statuts jede politische und religiöse Diskussion verboten. Die Erklärung hatte einen durchaus denunziatorischen Charakter und sprach vom deutschen Patriotismus in einer Form, die noch die deutlichen Spuren der außerdeutschen Herkunft der Redakteure aufwies. Am 11. Juli veröffentlichte die national-jüdische Vereinigung für Deutschland eine Gegenerklärung. Sie war von Dr. Bodenheimer und Dr. F. Rülf, Rabbiner in Memel, gezeichnet.

„1. Es ist unrichtig, daß die zionistischen Bestrebungen den messianischen Verheißungen des Judentums widersprechen. Wir verweisen in dieser Hinsicht nur auf das von einer der hervorragendsten rabbinischen Autoritäten, Rabbi Kalischer, unter dem Titel ,,Drischath Zion“ veröffentlichte Werk, aus welchem das Gegenteil der Rabbinererklärung unwiderruflich hervorgeht. Mit dem Lehrinhalte des Judentums beschäftigen sich übrigens unsere Bestrebungen überhaupt nicht, dieselben sind vielmehr lediglich darauf gerichtet, den abnormen Zustand des jüdischen Volkes zu beseitigen. 2. Den in der Rabbinererklärung durch die gänzlich unmotivierte Hervorhebung ihrer Vaterlandsliebe unterstell ten Vorwurf, als ob die zionistische Gesinnung uns an der Betätigung vaterländischer und staatsbürgerlicher Pflichten hindere, weisen wir als eine jeder Begründung entbehrende Verdächtigung ganz entschieden zurück. 3. Daß die „edlen Bestrebungen, welche auf die Kolonisation Palästinas durch jüdische Ackerbauer abzielen“, mit den unsrigen nicht zu identifizieren sind, geben wir auch zu. Wenn wir aber dieselben von unserem Standpunkte aus ebenfalls unterstützen, so kann dies doch weder uns noch auch diesen Bestrebungen irgendwie zum Tadel gereichen. Vor dem Kongresse in Basel zu warnen, liegt für niemanden, am wenigsten für den „Deutschen Rabbinerverband“ eine Veranlassung vor. Der Kongress wird sich hoffentlich zu einer imposanten Kundgebung dafür gestalten, daß das jüdische Volk auch heute auf seine nationale Existenz noch nicht verzichtet, sondern gewillt ist, als Volksindividualität Hand in Hand mit den andern Nationen an dem Fortschritt der menschlichen Kultur zu arbeiten. Die Sympathien aller rechtlichen und vorurteilslos denkenden Menschen bei der Förderung dieser Bestrebungen werden gewiß auf unserer Seite sein.“

Im gleichen Sinne gehalten waren Zuschriften, Aufsätze, Äußerungen vieler Rabbiner (z. B. Chief Rabbi Dr. Gaster, Dr. Felsenthal Chicago, Dr. Niemirower u. a.)

Erst vor dem zweiten Baseler Kongress (1898) verteidigte der geschäftsführende Ausschuss seine Erklärung vor der Rabbinerversammlung. „Da der moderne Zionismus für das Judentum sowohl nach außen wie nach innen Gefahren in sich berge und um zu verhüten, daß die Bestrebungen der Z. allen Juden zur Last gelegt würden, sei der Vorstand genötigt gewesen, eine Erklärung zu erlassen, und da der Zionisten Kongress vor der Tür stand und Eile dringend geboten war, mußte dieses ohne vorherige Befragung der Versammlung um ihre Zustimmung geschehen. Daß die Erklärung richtig und zeitgemäß gewesen sei, beweise die Äußerung, daß die Protesterklärung als klassischer Ausdruck für den Patriotismus der westeuropäischen Juden anerkannt worden sei.“ Nach zwei Referaten von Horowitz und Vogelstein wurde die Erklärung durch Abstimmung gutgeheißen. Eine Diskussion, die Dr. Gronemann, Rabbiner in Hannover, fordert, wird unter Tumult verhindert. Gronemann protestiert gegen die Erklärung. Daß sie nicht die Ansicht aller deutschen Rabbiner zum Ausdruck brachte, ergibt sich aus den Resolutionen, die der in Frankfurt 1898 tagende Verband der orthodoxen Rabbiner faßte:

1. Die Erklärung der Protestrabbiner beruht auf Irrtum. Die offen vorliegenden Theorien des Zionismus kollidieren keineswegs mit den religiösen Dogmen, dagegen kann es den Prinzipien der deutschen Orthodoxen nicht entsprechen, einer Leitung Folge zu leisten, die anderen Prinzipien huldigt.

2. Es ist Pflicht der Orthodoxie, zu der religiösen Angelegenheit ersten Ranges, der Kolonisation Palästinas, tatkräftig Stellung zu nehmen, und in dieser Beziehung selbständig durch eine Parallelaktion vorzugehen, und dieselbe durch Unterstützung der heimischen Bevölkerung bei Koloniengründung zu betätigen.

3. Diese Frage hat mit den religiösen Hoffnungen der messianischen Erlösung der Nation gar nichts zu tun. Wir halten uns dabei ohne jede Neuerung an unsere alte Tradition.

4. Das Projekt der Staatenbildung bleibt wie jede politische Institution in dieser Beziehung vollständig außer Programm.

Die Erklärung der Protestrabbiner ist nicht zurückgezogen worden. Freilich ist der Zionismus niemals wieder im Verbande behandelt worden. Es ist fraglos, daß er heute ein besseres Schicksal fände. Zum Glück aber werden die Erklärungen des Rabbinerverbandes nicht kodifiziert. Die Rechtsgültigkeit des Schulchan Aruch haben sie nicht. Immerhin ist festzustellen, daß sich in der Folge auch innerhalb des Rabbinerverbandes eine verständnisvollere Auffassung des Zionismus durchgesetzt hat.

Literatur: Welt I No. 4 Erklärung gegen Erklärung (Rülf); Welt I No. 7 Protestrabbiner (Herzl); Welt I No. 8 No. 6 S. 7 2. Sp. Welt II No, 23 S. 7, No. 24 (Der deutsche Rabbinertag — H. Loewe) Welt II No. 23 S. 8.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch