Moderne Kultur und ihr Einfluss auf die Juden

Der Eintritt der Juden in die moderne Kultur beginnt um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Zeit Moses Mendelssohns; er hat für die Juden zum Teil schädliche und gefährliche, zum Teil aber auch sehr nützliche Folgen gehabt. Wir stellen zunächst die schädlichen und gefährlichen Folgen zusammen: Der Eintritt der Juden in die moderne Kultur führte infolge der Überlegenheit der letzteren auf wissenschaftlichem und ästhetischem Gebiete zu einem verhältnismäßig raschen Versinken der besonderen jüdischen Kultur. War diese auch nur eine Ghettokultur, so verbürgte sie doch dem Judentum immerhin sein Eigenleben, seine Sonderexistenz. So aber schwand mit dem bisherigen nationalen Leben auch das nationale Bewußtsein, der nationale Wille und die nationale Zukunftshoffnung dahin. Das völlige Eingehen in die Kultur der Umgebung und die Gleichberechtigung mit den übrigen Bürgern wurden mehr und mehr das höchste und letzte Ideal. Im Zusammenhang mit dem Versinken der jüdischen Kultur versiegte auch allmählich mit psychologischer Notwendigkeit das Interesse an der jüdischen Religion, die in den allgemeinen Niedergang des jüdischen Bewusstseins um so sicherer hineingezogen werden mußte, als sie mit nationalen Elementen völlig durchsetzt ist und auch sonst, als sichtbare Scheidewand zwischen Nichtjuden und Juden, ein völliges Aufgehen der letzteren in ihrer Umgebung hinderte. Bisher hatte die Religion das festeste und sichtbarste, die Juden einigende Band gebildet. Jetzt aber begann ein stetig zunehmendes, geistiges Auseinandergehen, das zuletzt notwendig den Untergang des Judentums als eines besonderen geistigen Kulturfaktors zur Folge haben mußte. Politisch wurden die Juden zwar noch bis zu einem gewissen Grade durch die Emanzipationskämpfe, und später durch den Kampf um die Erhaltung und praktische Durchführung der Gleichberechtigung zusammengehalten. Allein die Teilnahme an dem allgemeinen politischen Leben und das prinzipielle Aufgeben eines besonderen jüdischen Standpunkts mußte unausweichlich zu einer inneren Schwächung des Judentums führen, durch welche die Wahrung der gemeinsamen Interessen nach außen sehr erschwert wurde. An der Überwindung dieses Missstandes hat erst die jüngste Vergangenheit auf dem Boden des neuerwachten jüdischen Selbstbewusstseins zu arbeiten begonnen. Das Ideal des völligen Aufgehens in der Kultur der Umgebung hat ferner die Assimilation mit ihren moralisch bedenklichen und durch ihre innere Zwiespältigkeit abstoßenden Begleiterscheinungen gezeitigt und in ihren natürlichen Konsequenzen zur Taufe und Mischehe geführt. Das Judentum des 19. Jahrhunderts hat durch Ausscheiden hervorragende geistige Kräfte in großer Zahl verloren. Das weitere Fortschreiten dieses Ausscheidungsprozesses beschwor trotz der überdurchschnittlichen Geistigkeit der jüdischen Rasse die Gefahr einer wachsenden Entgeistung des Judentums herauf. Die religiöse Reform und die jüdische Wissenschaft im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts waren ein groß angelegter letzter Versuch, das Judentum auf dem Boden der allgemeinen Kultur zu regenerieren. Allein so wichtig sie, insbesondere die jüdische Wissenschaft, später für die nationale Wiedergeburt geworden sind und noch weiter sein werden, so sind sie in ihrer eigenen Fahrrichtung doch gescheitert. Die Zeit von 1850—1880 stellt einen überaus rapiden und traurigen Verfall des jüdischen Geistes dar. Das jüdische Geistesleben dieser Periode zeigt überall die Spuren des Untergangs und den Charakter des Epigonentums, da die hervorragendsten geistigen Kräfte, wenn sie nicht gänzlich ausscheiden, sich so gut wie gar nicht um das Judentum kümmern und sich den allgemeinen wissenschaftlichen, politischen, literarischen und Kulturinteressen zuwenden. Andererseits war trotz der unleugbaren Auflösungstendenz gar nicht abzusehen, wie bei der Zähigkeit der jüdischen Rasse, dem Mangel an einem festen Auflösungswillen, der offiziellen Geltung der jüdischen Religion und einer doch immer noch starken Pietät die Juden unter den Völkern wirklich verschwinden und ihre Leidensgeschichte wirklich beendigen sollten. Die fortschreitende Entnationalisierung der westeuropäischen Juden, zumal der deutschen, vermochte den Antisemitismus keineswegs zu entwaffnen. Dieser erwachte vielmehr gerade in der Zeit zu neuer Kraft, als die Entnationalisierung der Juden in Westeuropa am weitesten gediehen war. Die Aussicht, die sich nach alledem nachdenklichen und gewissenhaften Juden eröffnete, war ein langsames, schleichend langsames Hinsiechen des Judentums als eines besonderen Kulturfaktors, eine wachsende Verachtung der zurückgesetzten und isolierten, von ihren besten Kräften verlassenen Juden, eine Verarmung an geistigem und wirtschaftlichem Kapital infolge Ausscheidens der oberen Stände und dadurch verschuldete zunehmende Wehrlosigkeit bis zur völligen Ohnmacht, die Ausbreitung des wirtschaftlichen Boykotts, und daneben die Fäulniserscheinungen der Assimilation, die nur zu geeignet sind, die Juden gerade in den Augen vornehm empfindender Menschen verächtlich zu machen. Psychologisch mußte die Unmöglichkeit, den Juden völlig abzustreifen und vergessen zu machen, zu einer inneren Zwiespältigkeit und Zerrissenheit führen, über die nicht hinwegzukommen war. So mußte der Eintritt der Juden in die moderne Kultur, wenigstens nach seiner ursprünglich scheinbar hervortretenden Tendenz, zu den trostlosesten Konsequenzen führen. — Auf der anderen Seite aber hatte die Europäisierung und Modernisierung der Juden auch heilsame Folgen, die erst im Laufe der Zeit die schädlichen überwiegen sollten und diese nur noch als die natürlichen, wenn auch unangenehmen Begleiterscheinungen des im Judentum sich vollziehenden Regenerationsprozesses erscheinen ließen. Nützlich war es zunächst, daß die Juden aus der geistigen Enge und Abgeschlossenheit und aus der Erstarrung der polnischen Periode (1500—1750) heraustraten und mit der allgemeinen Weltkultur Fühlung gewannen. Die moderne Wissenschaft und Bildung strömte bei den Juden ein, befreite sie von manchem festgewurzelten Aberglauben und Vorurteil, von der Enge und Einseitigkeit des fast ausschließlich auf Talmud und Kabbala beschränkten Geisteslebens. Auch der Sinn für das Schöne, der im Ghetto arg verkümmert war, wurde ihnen wieder neu erschlossen. Ferner wurden die durch den passiven Messianismus des Mittelalters gebundenen Kräfte des jüdischen Volkes wieder entfesselt: die Juden bekamen ein wachsendes rationelles Verständnis für ihre Lage, für die Notwendigkeit des Zusammenschlusses, und sie gingen allmählich daran, sich zu organisieren. Sie konnten auch nur so die Mittel ausfindig machen und die Kräfte heranzüchten, deren es zur Vollendung der nationalen Wiedergeburt im Lande der Väter bedurfte. Weiter verschärfte sich von Ge schlecht zu Geschlecht in steigendem Maße ihr Ehr und Freiheitsgefühl, besonders im Zusammenhang mit den Kämpfen um die Gleichberechtigung. Auch die sogenannte jüdische Wissenschaft, d. h. die wissenschaftliche Erkenntnis der jüdischen Vergangenheit, die ja auch nur durch die Berührung mit der modernen Kultur entstehen konnte, tat das ihrige, um das jüdische Selbstgefühl zu stärken und den jüdischen Nationalstolz durch die Erkenntnis von der Kulturkraft des jüdischen Volkes zu wecken und zu entwickeln. Selbst die Neubelebung der neuhebräischen Sprache und Literatur, die in dem Wiedererwachen des nationalen Bewusstseins eine so hervorragende Rolle spielt, ist ein Kind der beim Eintritt in die moderne Kultur entstandenen Aufklärung: der erhöhte wissenschaftliche und verfeinerte ästhetische Sinn hat die hebräische Sprache nach Form und Inhalt umgeschaffen; erst nach und nach wurde die hebräische Sprache das Organ des zu immer klarerem Selbstbewusstsein sich emporringenden und sich regenerierenden nationalen Geistes. Der Zionismus, der die äußere Befreiung und innere Wiedergeburt des jüdischen Volkes anstrebt, wurde solchermaßen von verschiedenen Ansatzpunkten her, die aber alle durch den Eintritt der Juden in die moderne Kultur bedingt waren, mit teleologischer Folgerichtigkeit vorbereitet. Von hier aus erscheinen dann die schädlichen Folgen dieses Eintritts nur als unangenehme Begleiterscheinungen in dem sich langsam vollziehenden Regenerationsprozess, als Begleiterscheinungen, die natürlich und selbstverständlich waren, weil der Weg zum Ziele von vornherein weder sicher war noch sein durfte. Aus einem positiv jüdischen Empfinden heraus war der große Widerstand und das Vorurteil der Juden gegen die moderne Kultur nicht zu überwinden. Andererseits mußten all die gefährlichen und widerwärtigen Begleiterscheinungen des Modernisierungsprozesses und die trostlosen Aussichten, die sie eröffneten, notwendig den starken jüdischen Lebenswillen zu erhöhter Kraftanstrengung spornen und ihn wieder in die nationale Bahn zurückleiten. Die Modernisierung des Judentums ist genau so die Voraussetzung der nationalen Wiedergeburt, wie die Emanzipation und die Kämpfe um dieselbe eine Voraussetzung und Vorbedingung des Zionismus bilden. Das gegenwärtige National-Judentum und seine politische Konsequenz, der Zionismus, bedeuten, vom Standpunkt der immanenten Teleologie der jüdischen Volksseele aus, keineswegs eine Abkehr von der seit Mendelssohn eingeschlagenen Entwicklung, sondern vielmehr ihre Vollendung auf dem Wege einer konsequenteren Erfassung ihrer von Anbeginn wirksamen Motive, die, wie bereits bemerkt, auf die äußere und innere Befreiung gerichtet waren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch