Lage der westeuropäischen Juden

Westeuropa, Amerika — das sind für die Juden die Länder der Freiheit, der Gleichheit, die Länder, in denen es keine Judenfrage gibt, von denen die gequälten Juden des Ostens wie von einem irdischen Paradiese träumen, deren Zustände ihnen als das Ideal erscheinen, dessen Verwirklichung auch in ihren Geburtsländern der Judennot für immer ein Ende machen würde

Sieht man näher zu, so erkennt man, daß bei einer derartigen Beurteilung der Verhältnisse ein gut Teil Selbsttäuschung mitunterläuft. Man muß eben zwischen dem Gesetz und den Sitten, zwischen dem Papier und dem Leben unterscheiden.


Von den Ländern, in denen die Juden vollberechtigte Staatsbürger sind, wie alle anderen Mitglieder der Nation, wes Glaubens sie auch sein mögen, haben Italien, die Schweiz, Spanien heute wenig Bedeutung für das Gesamtjudentum. Wichtig für dieses sind dagegen Frankreich, England, die Vereinigten Staaten von Nordamerika.

In allen diesen Staaten besteht die Gleichheit vor dem Gesetze für die Bekenner aller Religionen und zum Teil auch für die Religionslosen. Theoretisch wird kein Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden gemacht. Irgendeine Änderung der Verfassung oder Gesetze haben die Juden zur Besserung ihrer Stellung nicht zu verlangen. Dies sei ein für allemal festgestellt, damit es nicht bei jedem einzelnen Lande wiederholt werden müsse.

Das theoretische Recht ist jedoch überall von der Praxis verschieden. Geheim oder offen herrscht überall ein mehr oder minder grimmiger Antisemitismus, dessen geringster Grad Geringschätzung ist, der sich aber vielfach bis zur tätigsten Todfeindschaft steigert und den Juden oft oder immer das Dasein vergällt, ungezählte Demütigungen bereitet und in allen Be rufen das Fortkommen erschwert.

In der Schweiz suchen manche Kantone durch kleinliche Verfügungen, die ihre Spitze offen gegen die Juden richten, diesen so unangenehm zu werden, wie es die freisinnige Verfassung eben gestattet. Durch eine Volksabstimmung wurde in der schweizerischen Eidgenossenschaft 1891 eine Verfassungsrevision herbeigeführt, durch die unter dem Vorwande des Tierschutzes die rituelle Tötung des Schlachtviehes verboten wurde. Dadurch sind die gesetzestreuen jüdischen Einwohner der Schweiz gezwungen, ihr Fleisch mit erheblichen Kosten und Schwierigkeiten aus dem Elsaß oder Baden zu beziehen. Die Kantone Luzern, St. Gallen und Zürich erteilen russischen Juden kein Hausiererpatent und begründen diese fremdenfeindliche Maßregel mit der „Zudringlichkeit“ dieser Ausländer, welche die einheimische Bevölkerung ungebührlich „belästigen“. An den Hochschulen ist unter den Schweizer Hörern eine Bewegung im Gange, die den fremden, d. h. russischen Juden, das Studium an diesen Anstalten erschweren oder unmöglich machen soll und die von den Universitätsbehörden mindestens nicht entmutigt wird. In vielen Gasthöfen und Familienpensionen tritt ein mitunter roher Antisemitismus unverhüllt zutage, doch sind dafür ebenso sehr die reichsdeutsche Gastkundschaft wie die Schweizer Besitzer und ihre Angestellten verantwortlich zu machen.

In Italien haben die Juden anscheinend am wenigsten zu klagen. Allerdings ist ihre Assimilation, die sich in häufigen Mischehen und Übertritten ausdrückt, soweit vorgeschritten, daß die Auflösung des italienischen Judentums trotz seiner ruhmreichen Geschichte unabwendbar und nahe scheint, wenn ihm nicht frisches Blut und neue Gesinnungen zugeführt werden. Und doch erinnern selbst in Italien kleinere und größere Zwischenfälle die Juden immer wieder daran, daß sie von ihren Mitbürgern doch nicht als vollwertig anerkannt sind.

Bei Stadtverordneten und selbst Abgeordnetenwahlen ist es in den letzten Jahren — in Arcona, Turin und anderwärts wiederholt vorgekommen, daß jüdische Bewerber mit antisemitischen Redensarten in Maueranschlägen, Flugblättern, Zeitungsaufsätzen und Volksversammlungsreden bekämpft wurden. In einer oberitalienischen Stadt mußte gegen den Lehrkörper einer öffentlichen Schule, der sogar die Blutbeschuldigung gegen die Juden erhob, behördlich eingeschritten werden, und Ende August 1906 hatte Guido Treves, ein Enkel des bekannten großen Mailänder Verlegers Emilio Treves, mit dem Mitarbeiter der „Illustrazione Italiana“, Dr. Andreotti, einen Säbelzweikampf auszufechten, weil der letztere sich über Juden und Judentum ehrenrührig geäußert hatte. Dabei ist in Italien die Zahl der Juden anscheinend klein. Einen einigermaßen wahrnehmbaren Bestandteil der Bevölkerung bilden sie höchstens in Venedig, Mailand, Turin und Livorno, allenfalls auch noch in Rom. Wie sich die Dinge gestalten würden, wenn Italien verhältnismäßig auch nur so viel Juden zählen würde wie Preußen, darüber seien besser keine Vermutungen angestellt.

In Spanien fehlt es nicht an Juden, die „sich nicht zu erkennen geben“. Geschlossene Gemeinden haben sich erst in Sevilla und Barcelona gebildet. Trotz der in die Verfassung eingeschriebenen religiösen Gleichberechtigung bemühen sie sich, möglichst wenig bemerkt zu werden, und sie tun gut daran, denn „judio“ ist im Munde des Mannes aus dem Volke noch immer kein Kosename. Der Senator für Salamanca, Dr. Angel Pulido, hat in den letzten Jahren mit schöner Begeisterung und regem Eifer in Zeitungen und umfangreichen Büchern, wenn nicht für die Wiederansiedlung der vertriebenen spanischen Juden in der alten Heimat, doch für die Anknüpfung neuer Beziehungen zwischen Spanien und diesen „españoles sin patria“, Spaniern ohne Vaterland, zu wirken gesucht. Platonische Zustimmungsschreiben einiger Spanier von Namen sind bisher der einzige sichtbare Erfolg seines Auftretens in Spanien selbst, andererseits hat dieses aber auch Äußerungen in der Presse hervorgerufen, die beweisen, daß der Geist Torquemadas im Reiche Ferdinands und Isabellas der Katholischen immer noch am hellen Tage spukt

Die Lage der Juden in Frankreich ist durch das eine Wort „Dreyfus-Affäre“ hinreichend gekennzeichnet. Der Fall hat blitzähnlich in Verhältnisse hineingeleuchtet, die von den Befürwortern der restlosen Anpassung der Juden an ihre Umgebung immer in den rosigsten Farben gesehen und dargestellt zu werden pflegten. Gewiß, die gesetzliche Gleichstellung ließ seit Jahrzehnten nichts zu wünschen übrig. Juden waren Generäle, hohe Richter, Präfekten, Minister. Gleichzeitig aber gilt, wie Rechtsanwalt Mornard in seinem Plädoyer vor dem Kassationshofe im Juli 1906 sagte, „im Großen Generalstabe jeder Jude seiner Natur nach für einen Verräter“, und wütender Antisemitismus suchte mit Mitteln gesellschaftlicher Verfolgung das Offizierkorps ,,judenrein“ zu machen. Jämmerliche Machwerke wie das Stück „Le retour de Jerusalem“ von Maurice Donnay verdankten ihrem einfältig pöbelhaften Antisemitismus großen und anhaltenden Erfolg und öffneten ihrem Verfasser die Pforten der Akademie. In den öffentlichen Schulen, namentlich den Gymnasien, und der Pariser Rechtsfakultät, hatten und haben junge Juden unter der tückischen oder brutalen Feindseligkeit der Mitschüler und selbst der Lehrer schwer zu leiden. Viele jüdische Geschäftsleute verheimlichen ihre Abstammung, um nicht in Verruf zu geraten, sie entfernen ihre Namen von den Schildern oder lassen nur die Vornamen stehen, die ihren Ursprung nicht verraten. Als ein Lyoner Antisemit ein Adressbuch der französischen Juden herausgab, erzwangen viele darin aufgeführte Juden die Entfernung ihres Namens aus dem Verzeichnis durch gerichtliche Klage und begründeten ihre Beschwerde damit, daß es ihnen schweren geschäftlichen Nachteil zuziehe, wenn bekannt sei, daß sie Juden sind. Französische Juden geben sich den Anschein, nicht zu bemerken, daß man sie auch im Lande der „Erklärung der Menschen und Bürgerrechte“ nur als Staatsbürger zweiter Klasse ansieht. Aber im Grunde ihres Herzens fühlen sie es wohl, und mitunter verrät sich ihre hange Unruhe und ihr quälendes Gefühl von Unsicherheit. Bis zur gesetzlichen Trennung von Staat und Kirche war es Brauch, daß bei Reisen des Staatsoberhauptes oder der Minister alle staatlich organisierten Kulte in gesetzlich bestimmter Ordnung, Juden zuletzt, den Gast begrüßten. Die Rabbiner unterließen nie, in ihren Ansprachen demütig für den Ihnen gewährten „Schutz“ und die gegen sie geübte „Duldung“ zu danken, was natürlich den protestantischen Pastoren und gar den katholischen Bischöfen oder Pfarrern nie in den Sinn kam. In Algerien hat die französische Verwaltung blutige antisemitische Hetzen nicht zu verhindern gewußt, wenn sie sie nicht zeitweilig im geheimen etwa gefördert hat, und in Tunis zeichnet die französische Schutzherrschaft sich durch eine ausgesprochene antisemitische Färbung aus. Sie liefert die eingeborenen Juden systematisch der moslemischen Rechtspflege aus, deren Feilheit und Parteilichkeit gegen Andersgläubige, die sie nicht fürchtet, bekannt sind, und verweigert ihnen die französische Naturalisation, auch wenn sie vollkommen europäisch gebildet sind und französische akademische Titel besitzen. Zwanzigjährige antisemitische Hetze in der Presse und im Schrifttum haben es durchgesetzt, daß im allgemeinen Sprachgebrauch „Franzose“ und ,,Jude“ gegensätzlich angewendet werden, selbst von solchen Franzosen, die sich keiner Spur von Judenhass bewußt sind.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch