Abschnitt 02 - Jede Geschichtsschreibung ist vermessen, ist weit gewagter als Naturforschung ...

Jede Geschichtsschreibung ist vermessen, ist weit gewagter als Naturforschung und Denken; denn hier gibt es Gesetze zu bestimmen, die nach unseren Begriffen ewig genannt werden müssen, deren Morgen das Heute und Gestern und Urgestern wiederholt. Die Geschichtsschreibung dagegen hat keinen Maßstab der Sicherheit, als die innere Überzeugung des Forschers von ihr, von dem, was er aus dem staubbedeckten Felde der nie wiederkehrenden Vergangenheit herausgräbt. Damit ihm Andere glauben, muss er sie glauben machen können: er muss Persönlichkeit haben.

Man denke sich doch einen Menschen, der einen Rosenzweig betrachtet: offenbar hat er ein wundervolles, geheimnisvolles Gebilde in den Händen, in das die Sphinx Natur Hunderte von Hieroglyphen eingezeichnet hat zum Zeichen ihrer Unergründlichkeit, und doch voll verheißender Offenbarungen für das geweihte Auge und den ehrfurchtsvoll erwartenden Sinn. Nun geht ihm eine entzückende Sonne auf: er erkennt das Blatt als die Mutterform — nicht die Urform — aller Pflanzenglieder.


Wer glaubt ihm da? Wenn er nur schwach ist — nicht einmal er sich selbst. Alle, wenn es eine gottumstrahlte Persönlichkeit ist* — und jede Persönlichkeit ist göttlich.

*) Also hier Goethe.

Nur weil es keine unversiegende, ewig sonnenhafte, noch im Ruhen durch genießendes Schauen schaffende Persönlichkeit unter uns Menschen gibt, nur darum haben wir auch keine Götter unter uns. Jeder ist göttlich, solange und soviel er Persönlichkeit ist. Er fühlt sich dann selbst so: wie wäre es sonst möglich, daß sich der Mensch — jeder echte Mensch hat seinen eigenen Gott — seiner gewaltigsten, erschütterndsten, persönlichsten Schöpfung als Ebenbild in unschuldiger Selbstvergötterung zur Seite stellt? Auch von Anderen wird die Persönlichkeit als göttlich empfunden, also als bestimmend, richtend, leitend, gebend angesehen, kaum allein bestimmt und höheren Gewalten unterworfen. Man denke doch daran, wie jede große Persönlichkeit von Legendenmusik begleitet wird, auch während ihres Wirkens schon und daß man ihren Tod nicht glaubt. (Moses, Christus, Buddha, Mahomet; die griechischen Helden; Napoleon.) Ja, die ganze Lehre von der anderen hinterirdischen Welt wäre nicht geworden ohne das Sein der Individualität.

Der Persönlichkeit gegenüber handelt man, wie man Göttern gehorcht, weil die Abwehr eine Erniedrigung des eigenen Wertes, des dem Göttlichen Verwandten in der eigenen Brust, wäre; und das ist ein Verrat, zu dem nur gefühllose oder erschütternd trotzige, allerwenigste Naturen fähig sein könnten. Der Persönlichkeit glaubt man, weil man sich sonst vor sich selbst schämen müsste.

Jede menschliche Persönlichkeit, weil nie vollendet, erweckt strömende, glühende Gegnerschaft. Doch schweigt der edle Gegner lieber, als daß er sich mit in das Geschrei der anderen Meisten mischt, welche keine Scham der Individualität kennen, und deren Leid noch im vollsten Atmen des mit dem All vereinten Ich: daß sich die Persönlichkeiten so fremd sind, daß Jede in sich abgeschlossen ist und auch in sich selbst ihren Abschluß findet.

Die Gegner des wahrhaft Neuen und des neu Wahrhaften kennen jenes Leid nicht und sind hierin schamlos: sie setzen sich voran, sie setzen ihre eigene Meinung als die Notwendigkeit selbst voraus. Sie glauben, zwingen zu müssen und zu dürfen, nur weil sie selbst bezwungen sind. Aber sie sind dazu da, bezwungen zu werden. Nur soll es durch eine starke Macht sein, die sie erst durch ihre Gegnerschaft prüfen: wenn nicht für sich selbst, dann für Ähnliche, vielleicht für Spätere. Sie horchen, nur um zu gehorchen, sie setzen ihre Macht ein, sobald sie es können, weil sie sich unter einem höheren Befehle fühlen, der ihnen Sicherheit gibt. Nicht Sicherheit vor dem Feinde: das fordert nur die niedrigste Art Mensch, der geborene Nur-Feigling, den es wohl kaum einmal in Jahrhunderten gibt; sondern die Sicherheit eines Zieles, die Sicherheit, daß es ein Ziel gibt: und wenn sie dieses Ziel auch nicht kennen, es nicht anders sehen, als auf der Stirn ihres Helden, aus seinem sie alle denkend umfassenden Auge.

Die Persönlichkeit muss ein Ziel haben und einen schwierigen Weg dazu: zum Schaffen und Pfadfinden und Denken. Und jedes Wesen sehnt sich nach einem Ziel: daraus die Macht des Vollmenschlichen, die suggestive Kraft der großen Seele.

Wer Geschichte zu machen sich hingibt, soll groß sein; aber auch nicht gering, wer die Geschichte nachfühlen, nachbauen will: denn er findet nur Zähne vor und soll das Tier bestimmen; nur Samen, Jahrtausende alt, und soll die Blumen daraus ziehen; nur ein Wort, das ihm Schlüssel zum Buche werden muss. Und fühlt er sich nicht stark genug, Andere an sich glauben zu machen, ist er nur kritisch — so wird er vielleicht in der Geschichte der Wissenschaft als Pflasterstein auf dem Wege liegen, aber nicht Wegweiser sein.

Jede Geschichtsschreibung ist notwendigerweise Neuschöpfung, Brückenschlagen von Klippe zu Klippe; und es ist viel, sehr viel Willkür darin, freie Wahl und freies Walten: es ist Kunst darin. Dem Geschichtsschreiber soll man nie glauben, wie man dem Naturforscher glaubt: also ohne nach seinem „Wer?“, nur nach seinem „Was?“ zu fragen. Man soll in ihm nur den Wahmehmer, nicht den Wahrsprecher, Wahrgeber, Wahrsager suchen.

„So will ich die Welt sehen!“ ruft der Glaube aus. Man kann ihn belächeln, man kann ihn zu sich reißen: zu widerlegen ist er nicht anders, als durch den Tod. Und das ist kein Widerlegen, nur Niederwerfen.

„So will ich die Welt geschehen sein wissen!“ ist des Geschichtskünstlers Wort. Und wer ihn nicht ernst nimmt darin, sündigt gegen das Heiligtum des Ich ebenso stark, wie es der strafende Richter tut, dem das Richten nur Amtssache ist. Doch wer ihn erhört und ihm folgt, soll nicht vergessen, daß er Ja gesagt nicht zu einem ewigen Gesetz, sondern zu einem menschlichen Wort, zu einem menschlichen Ziel, zu einem Unrecht.

In jedem Ziel ist zerstörendes Unrecht. Jedes Zerstören ist Unrecht gegen Jene, die das Werk gebaut; ein Unrecht gegen das eigene Errichten, dem einst vergolten werden soll mit dem gleichen Hammer der Zerstörung; ein Unrecht gegen die Ansprüche auf Ewigkeit, die wir für unser Werk haben müssen, weil sonst keine Rechtfertigung unseres Wertes möglich wäre. Was ist Entwicklung anders für die Zurückgelassenen als der Tod, und sei er noch so erfüllt von der Jubelsonne des Jasagens zum künftigen Geschehen?

Wer Geschichte schreibt um der „objektiven“ Wahrheit willen — versteht weder die Geschichte, noch die Welt, noch sich selbst. Dass ein Geschichtskünstler nicht lügen darf: — ja, kein Künstler darf lügen, will er mehr sein als Lückenverstopfer in der Hohlheit der nicht lebenden Zeitgenossen.

Wo die Lüge anfängt, hört der Wert auf, hört die Kunst auf, hört das Leben auf. Die Lüge hat nur Gegenwart, kürzeste, momentane: keine Vergangenheit, keine Zukunft. Man sehe doch, wie oft die Lüge bei der Wiederholung das erste Aussagen umstößt, wie sie sogar falschschaffend wird; wie sie quälend wirkt auch auf den Lügenden selbst, als Abbild der absoluten Vergänglichkeit, des lächerlichsten Unsinns — und dieses Bild ist sein!

Lügner aus Dummheit gibt es ja auch. Aber man sollte von Lastern aus Dummheit überhaupt wenig sprechen: die fallen nicht schwer ins Gewicht. Nur eitles Jonglieren mit den entscheidenden Fragen kann den Gedanken verteidigen, daß jedes Laster auf Dummheit beruht, daß mit der Aufklärung auch die Fehler schwinden, usw. Das Laster wird erst zum Problem und zu einem Problem für Völker, für Epochen, für alle Großen, wo es eben mit Geist gedüngt ist, wo es die höhnende Unheimlichkeit des Verneinens atmet.

Daher lassen auch die durchaus eigenen, durchdringend ausgeprägten Fehler der Juden keine Ruhe weder unseren Feinden, noch unseren Gliedern, die mit sich selbst in dumpfem Kampfe liegen. Und beachtet: man spricht von diesen Fehlern, wenn man den jüdischen Geist prüft.

Ein lügender Künstler steht schon wankend am Rande eines Abgrunds. Ein Volk, das mit einer Lüge lebt, ist schlimmer daran.

Aber es sich zum Verdienst anrechnen, daß man nicht lügt — das kann der Stumme auch, und dieser nur ist in einer solchen Lage ehrenwert, ein anderer bloß lächerlich.
„Lügst du, so wollen wir dich nicht hören; und lügst du nicht — auch dann vielleicht nicht! laß uns sehen“ — so rufen wir dem Künstler zu.

Wer Geschichte schreibt, schreibt mit Blut vergangener Zeiten; sein eigenes Blut ist die Sühne dafür, er muss sich dafür opfern und darin seine Erfüllung sehen. Jeder Künstler stirbt für sein Werk, mit jedem Künstler stirbt sein Werk, für spätere Zeiten gehört es der Geschichte an; und es lebt nur dem, dem die Geschichte lebt. Es bedeutet viel, wenn die Geschichte für einen Menschen lebend ist: es gibt nur wenige solcher Menschen.

Der Geschichtskünstler belebt die Geschichte wieder; darum gibt es ihrer so wenige. Und wer Geschichte schreibt für die Geschichte, darf auf dem Fundament der Wahrheit seinem eigenen Gotte Tempel bauen; er hat die Toten nicht zu begraben, sondern sie sprechen zu lassen: eindringlich, gewaltig; in fester Sprache des Befehlens, dem kein Widerstreben sich entgegensetzen darf: weil der Widersprechende dadurch sich selbst seinen Unwert und schmachvollen Untergang besiegelt.

Ich weiß: es schläft jetzt im Judentum der Künstler, den ich erwarte, den ich im Nebel der Zukunft herankommen sehe, der kommen muss, weil die Zeit sich ihm zu Füßen legt und sagt: „Wir sind wert, dir zu dienen; wir sind geläutert in unserem Innern, weil wir unsere Reinheit ersehnen, unserer Würde jetzt leben und sterben wollen; führe uns, wohin wir wollen; denn du willst es“.

Ich will diesem Künstler den ersten Schritt ebnen, die Erde küssen, auf der er schreiten soll und gehen — das Kommende segnend und vom Kommenden Segen erflehend.

Wer ist er? Es ist — der neue Jude. Ein Wort — ein Ziel.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wir Juden