Die Ursachen der Geldkrisis von 1907.

Die Ursachen der Geldkrisis von 1907.*

Krisen gehören zu den kompliziertesten Erscheinungen des heutigen Wirtschaftslebens. Um sie in ihrem Wesen und in ihrer Bedeutung klar zu erfassen, gilt es daher in der bunten Wirrnis der Geschehnisse sorgfältig zu sichten. Wir tun das, indem wir verschiedene Arten von Krisen unterscheiden. Aber die säuberlichen theoretischen Grenzlinien, die wir damit ziehen, werden vom flutenden Leben nicht geachtet. Wie die Elemente nur selten in der Natur chemisch-rein vorkommen, so tritt auch ein Krisentypus regelmäßig uns nicht rein entgegen. Es handelt sich vielmehr stets um eine Kombination verschiedenartiger Krisentypen. So können wir auch bei der Wirtschaftskrisis des Jahres 1907 vor allen Dingen drei Krisentypen, die eng miteinander verbunden sind, zum Teil sich verschärfen, zum Teil sich paralysieren, voneinander unterscheiden:


1. eine Kapitalkrisis, die in einen Mangel an Kapital begründet ist; sie ist schleichenden, dauernden Charakters, verläuft langsam und milde;

2. eine Geldkrisis, die auf einem Mangel an Zahlungsmitteln zurückgeht; sie setzt plötzlich ein, spitzt sich scharf zu und verschwindet fast ebenso schnell, wie sie gekommen ist;

3. eine Kreditkrisis, die in einen Mangel an Vertrauen besteht. Sie ist eine zum Teil psychologische, zum Teil wirtschaftliche Begleit- und Folgeerscheinung der beiden anderen Krisen. Ihre Ursachen lassen sich nur erkennen, wenn man die Geld- und Kapitalkrisis betrachtet. Zu so interessanten individuellen Erscheinungen sie auch geführt hat, sie ist nicht von umfassender Bedeutung und bietet wenig Eigenartiges und Neues. Von ihr soll daher ausführlich nicht die Rede sein.

*) Vortrag, gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 18. Februar 1908. Er beruht auf Unterredungen mit leitenden amerikanischen Bankleuten und genauer Verfolgung der Ereignisse in den Tagesblättern und Zeitschriften diesseits und jenseits des Atlantischen Ozeans, sowie der selbstverständlichen Kenntnis der bis dahin erschienenen und erreichbaren einschlägigen Literatur. Er ist meines Wissens der erste Versuch einer zusammenfassenden Darstellung der großen internationalen Zusammenhänge. Hat es auch natürlich an anderer Auffassung nicht ganz gefehlt, so ist die Darstellung doch in allen wesentlichen Grundlinien durch die späteren Veröffentlichungen bestätigt worden.
Eine französische Übersetzung von Prof. Jean Lescure ist unter dem Titel: Le marché financier Américain et sa récente crise monétaire 1909 in Paris erschienen.

Auch von der Kapitalkrisis will ich eingehender nicht sprechen. Denn sie weist ebenfalls wenig interessante Besonderheiten auf. Sie ist vielmehr eine notwendige Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs, der hinter uns liegt. Denn ein solcher Aufschwung besteht ja darin, daß neue Arbeits- und Gewinngelegenheiten durch Gründung neuer oder Vergrößerung alter Erwerbsanlagen, d. h. durch Umwandlung von flüssigem (Betriebs-)Kapital in stehendes (Anlage-)Kapital geschaffen werden. Solchem Umwandlungsprozess sind natürlich gewisse Grenzen gezogen. Sie können leicht überschritten werden, da sie schwer zu erkennen sind und da der Umwandlungsprozess nicht einheitlich, nach einem bestimmten Plan, sondern regellos in Konkurrenz zahlreicher Individuen sich vollzieht. Solche Überschreitung wird noch mehr erleichtert, wenn gleichzeitig die Nachfrage nach flüssigem Kapital für Betriebszwecke in unvorhergesehener Weise durch Steigerung der Rohstoffpreise und Löhne wächst. Beides war in Deutschland der Fall. Niemals sind so viele Kapitalinvestierungen vorgenommen worden; die Emission von Wertpapieren stieg von 1995 Millionen Mark im Jahre 1904 auf 3090 Millionen Mark im Jahre 1905 und 2837 Millionen Mark im Jahre 1906. Niemals haben im letzten Vierteljahrhundert die Rohstoffpreise so hoch gestanden; nach den Indexzahlen des Economist waren die Preise von 22 der wichtigsten Handelsartikel am 1. Juli 1907 20% höher, als vor zwei Jahren, 33% höher als 1897.

Findet aber eine Überschreitung jener so schwer zu erkennenden und schwer einzuhaltenden Grenze statt, so ist die notwendige Folge, dass die Nachfrage nach flüssigem Leihkapital das Angebot übertrifft. Wie normalerweise bei jeder Mehrnachfrage, steigt dann der Preis des nachgefragten Gutes, also der Zins des Kapitals, der am reinsten im Diskontsatz in die Erscheinung tritt. Erreicht diese Steigerung eine ungewöhnliche Höbe und Dauer, so liegt eine Kapitalkrisis vor, die Schmoller als das „Wachstumsfieber der modernen, schnell reich werdenden Staaten“ bezeichnet hat. Die wirtschaftliche Expansionskraft und die Sparkraft des Volkes stehen dann nicht mehr im Einklang miteinander; das flüssige Leihkapital ist nicht mehr für alle Bedürfnisse ausreichend. Wenn der Privatdiskontsatz im Durchschnitt des Jahres in Deutschland von 2,85% in 1905 auf 4,04% in 1906 und 5,13% 1907 gestiegen ist, so findet das seine Haupterklärung in einer solchen Kapitalkrisis, die im Oktober 1905 langsam bereits begann und am deutlichsten darin zum Ausdruck kommt, daß der Barvorrat der Reichsbank nie seit 1885 am Ende des Jahres so niedrig gestanden hat, wie in den beiden letzten Jahren (1906: 665 Millionen Mark, 1907: 626 Millionen Mark). Natürlich ist eine solche schleichende Kapitalkrisis, in der das Geld teuer ist, die Dividenden abnehmen, die Kurse der Wertpapiere sinken, stets weniger vergnüglich, als eine Zeit glänzenden Aufschwungs; sie fordert nach natürlich stets einige Opfer: aber sie bietet dieses Mal, soweit sich bisher übersehen lässt, keinen wirklichen Anlass der Besorgnis. Sie bedeutet mehr ein Verblassen ungewöhnlichen Glanzes, als wirkliche Not. Sie ist in mancher Beziehung nicht nur eine natürliche , sondern auch gesunde Reaktion, da sie dazu zwingt, prüfend die Kräfte von neuem zu sammeln. Das ist um so mehr der Fall, als diese schleichende Kapitalkrisis in weitgehendem Maße international ist; insbesondere die Vereinigten Staaten sind gleichzeitig von ihr heimgesucht, ungefähr aus denselben Gründen, wie wir, zu denen aber verschärfend noch hinzukommen die Überkapitalisierung der großen Unternehmungen und die Kapital Vernichtung und Kapitalnachfrage, die die Zerstörung von San Franzisko mit sich gebracht hat. Auch von dieser Kapitalkrisis will ich nicht sprechen.

Das Thema meines Vortrags soll die Geldkrisis sein, die den Diskontsatz unserer Reichsbank eine Höhe hat erreichen lassen, wie nie zuvor. Sie ist nicht international in ihren Ursachen und nicht von Dauer in ihren Wirkungen, aber trotz ihrer lokalen und zeitlichen Beschränktheit ist sie gefährlicher. Zieht sie heute auch schnell vorüber, sie wird notwendigerweise wiederkommen, und ist sie auch lokalen Ursprungs, sie hat doch vielleicht mehr als irgend ein anderes Ereignis gezeigt, wie eng die verschiedenen nationalen Wirtschaftskörper heute zusammenhängen. Sie verdient deshalb, zumal da sie neu, eigenartig, bisher wenig verstanden ist, eine eingehende Betrachtung.

Diese Geldkrisis ist lokalen Ursprungs. Sie wurzelt nicht etwa — wie wohl behauptet worden ist — in einem weltwirtschaftlichen Moment: in der Goldproduktion. Ein absoluter Mangel an Zahlungsmitteln ist weder allgemein, noch in einem einzelnen Land, etwa in Deutschland oder in den Vereinigten Staaten, vorhanden. Niemals war die Goldproduktion der Welt so groß; im Durchschnitt der letzten zehn Jahre belief sie sich auf fast das Doppelte, wie im Durchschnitt des voraufgehenden Jahrzehntes. Deutschland hat es verstanden, an diesem gewaltig angeschwollenen Goldvorrat der Welt einen wachsenden Anteil sich zu sichern; unser Goldgeld beläuft sich heute auf fast dreimal so viel, wie vor zwanzig Jahren, und auch unser durchschnittlicher Notenumlauf ist um etwa 600 Millionen Mark in den beiden letzten Jahrzehnten gestiegen. Ähnlich haben die Vereinigten Staaten insbesondere seit der vollen Durchführung der Goldwährung im Jahre 1900 die Menge ihre Zahlungsmittel vergrößert Nach amtlicher Berechnung betrugen sie auf den Kopf der Bevölkerung 24,03 Dollar in 1893, dagegen 33,23 Dollar am 1. November 1907 , d. h. erheblich mehr, als in allen Kulturländern mit alleiniger Ausnahme von Frankreich. Somit kann es am ein Zerren an der Golddecke, wie es vor den Goldfunden in Südafrika and der Einführung der bergmännischen Gewinnung des Goldes vorgekommen ist, heute nicht sich handeln. Hat doch auch im Gegenteil die Theorie in weiten Kreisen Verbreitung gefunden, die Goldproduktion sei so gewaltig angewachsen, daß die Menge der Zahlungsmittel ihren Wert vermindert und durch diese Verkürzung des Wertmaßstabes die starke allgemeine Preissteigerung herbeigeführt habe: eine Lehre, die allerdings mit den Tatsachen nicht in Einklang zu bringen ist, die bunte Kompliziertheit der Preisbildungsvorgänge auf eine zu einfache Formel zurückführt und wohl nicht zufallig in dem Lande am eifrigsten verbreitet wird, in dem die modernen Monopolisierungstendenzen am stärksten hervortreten.

Statt in einem absoluten Mangel an Zahlungsmitteln wurzelt die Geldkrisis vielmehr in konkreten Organisationsfehlern im Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten. Um das klar zu machen, muß etwas weiter ausgeholt werden.

Bekanntlich handelt es sich bei der Organisation des Geldwesens nicht nur darum, eine Volkswirtschaft mit einem bestimmten Vorrat an Zahlungsmitteln auszustatten. Das wäre eine recht einfache Aufgabe. In Wirklichkeit ist aber diese Aufgabe so schwierig, weil der Bedarf an Zahlungsmitteln nicht fest bestimmt ist und sich gleich bleibt. Er ist vielmehr aus verschiedenen Gründen Schwankungen unterworfen. Der Wechsel der Konjunkturen bringt solche unregelmäßige Schwankungen in großen Zwischenräumen mit sich. Wichtiger ist der regelmäßige Wechsel der Jahreszeiten. Das Einbringen der Ernte erfordert ungewöhnliche Geldmittel. Im Herbst ist daher der Bedarf von Zahlungsmitteln sehr viel größer als sonst im Jahr. In Deutschland ist ein Unterschied von mehreren Hunderten Millionen Mark vorhanden. Wie viel mehr in den Vereinigten Staaten, die ohne Alaska und die neuen Inselerwerbungen 14 mal, nach Abzug alles nicht nutzbaren Bodens noch immer mindestens 8 mal so groß sind wie Deutschland. Ihre Gesamternte hat der amerikanische Landwirtschaftsminister für das Jahr 1907 auf 7412 Mill. Dollar bewertet; das in der amerikanischen Landwirtschaft tätige Kapital wurde amtlich 1900 auf rund 20 ½ Milliarden Dollar gegenüber nicht ganz 10 Milliarden in der Industrie mit Ausnahme des Bergbaues geschätzt; von der Gesamtausfuhr entfielen 1907 noch 71 ½ auf land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse. So sehr auch die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren ihre Industrie entwickelt haben, sie sind auch heute noch überwiegend agrarisch; nirgends ist die Ernte von größerer Bedeutung; sie ist auch noch heute der entscheidende Faktor im amerikanischen Wirtschaftsleben.

Diesen durch die Ernte und die Konjunkturen hervorgerufenen Schwankungen in der Nachfrage nach Zahlungsmitteln hat die Organisation des Geldwesens gerecht zu werden. Die Aufgabe ist also, ein elastisches, dem wechselnden Bedarf leicht sich anpassendes Zahlungswesen zu schaffen. Je größer die Ernte und je häufiger und stärker der Wechsel der Konjunkturen ist, um so wichtiger und schwieriger ist diese Aufgabe. Nirgends ist sie vielleicht so vollkommen — trotz einiger reformbedürftiger Stellen, die die Krisis uns enthüllt hat — gelöst worden, wie in Deutschland, nirgends so unvollkommen wie in den Vereinigten Staaten.

Theorie und Erfahrung lehren uns übereinstimmend, daß nur eine Einrichtung diese wichtige Aufgabe zu lösen vermag; nur das Banknotenwesen ist es, durch das Elastizität in ein Zahlungswesen hineingebracht werden kann. In Deutschland ist das so erfolgreich geschehen, weil wir die Notenausgabe mit dem Wirtschaftsleben in eine organische Verbindung gebracht haben, indem wir die Banknote basierten auf den Wechsel. Die Menge der Wechsel entspricht der Intensität des Wirtschaftslebens: je mehr Waren verkauft werden, um so mehr Wechsel werden auf die Käufer gezogen und gelangen zur Diskontierung. Die Diskontierung oder Rediskontierung bei der Reichsbank bedeutet aber, daß die Wechsel, die nur beschränkt umlaufsmäßig sind, weil sie auf stets verschiedene individuelle Beträge lauten und in ihrer Gültigkeit zeitlich begrenzt sind und in ihrer Güte vom Kredit zahlreicher Privatpersonen abhängen, umgetauscht werden gegen Banknoten, die von einer allgemein bekannten, halböffentlichen Anstalt in großen Mengen auf stets die gleichen runden Beträge ohne zeitliche Beschränkung ausgestellt werden und deshalb eine weit umfassendere, dem Metallgeld ähnliche Umlaufsfähigkeit besitzen. Mit der Einlösung der diskontierten Wechsel findet dann ein Umtausch in umgekehrter Richtung statt: die Banknoten — oder statt ihrer Bargeld — strömen zurück zur Reichsbank, die Menge der umlaufenden Zahlungsmittel mindernd. So findet die weitgehendste Anpassung an den wechselnden Bedarf an Zahlungsmitteln statt und zwar automatisch. Nichts bleibt zu tun übrig, als für einen stets ausreichenden Bardeckungsfonds zu sorgen. Dazu dient die Diskontpolitik. Sie kann allerdings in der Hauptsache nur erhalten, was vorhanden ist, hat also einen ausreichenden Barfonds zur Voraussetzung. In seiner Vergrößerung ist die Reichsbank, ähnlich wie die Bank von England, hinter der gewaltigen Entwicklung des Wirtschaftslebens etwas zurückgeblieben; ihre Goldbasis ist nicht in ähnlichem Maße verbreitert worden, wie das gewaltige Kreditgebäude, das sich auf ihr aufbaut. Hier ist einiges nachzuholen, zumal da die Widerstandskraft der Reichsbank dadurch etwas gemindert ist, dass die Kreditwechsel gegenüber den Warenwechseln stark gewachsen sind, die Rediskontierungen der großen Kreditbanken immer zunehmen und die direkte Verbindung unserer Zentralnotenbank mit der Geschäftswelt lockern, sowie ihren offiziellen Bankdiskont gegenüber dem privaten Marktdiskont im Einfluß mindern. Doch diese Reformbedürftigkeit, so dringend sie ist, betrifft doch nur Punkte, die von tatsachlicher, nicht prinzipieller Bedeutung sind. Der organisatorische Grundgedanke im deutschen Banknotenwesen bleibt unberührt.

Ganz anders, als in Deutschland, liegen die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten. Nichts ist vielleicht charakteristischer für das amerikanische Volk, nichts berührt den Fremden sympathischer, nichts kann aber auch gefährlicher werden, als der unverwüstliche Optimismus des Amerikaners. Er denkt — von individuellen Ausnahmen abgesehen — nur an das Heute und sorgt sich nicht um die Zukunft, weder als Produzent noch als Konsument Das macht ihn zum kühnsten Gründer, läßt ihn aber auch so oft versagen, wo weit in die Zukunft reichende Organisationsaufgaben zu lösen sind. Nirgends hat sich das deutlicher gezeigt als beim Banknotenwesen. Hier war die Aufgabe allerdings auch besonders schwer.

Denn die Grundlage, auf die wir unsere Banknotenausgabe so erfolgreich aufgebaut haben, fehlt in den Vereinigten Staaten. Im Laufe einer langen Entwicklung, gefördert dadurch, daß das Wechselrecht das erste Rechtsgebiet ist, das einheitlich für alle deutschen Länder geregelt wurde, ist die Tratte, der Wechsel mit mehr als einer Unterschrift, bei uns bekanntlich zum wichtigsten kaufmännischen Kreditmittel geworden. Im Ganzen sind 1907 für 30766 Millionen Mark Wechsel in Deutschland in Umlauf gewesen, im Jahresdurchschnitt für 7692 Millionen Mark, also für weit mehr als die Gesamtsumme alles geprägten deutschen Geldes. Diese gewaltige Menge von Wechseln bietet unseren Banken in der Form des Diskontgeschäfts eine besonders günstige Gelegenheit, ihre jederzeit oder in kurzen Fristen fälligen Gelder anzulegen. Denn solche Wechselanlage ist stets leicht und schnell realisierbar, einmal weil die Tratten regelmäßig in kurzer Frist fällig werden, vor allem aber, weil sie in ihrer großen Mehrzahl bei der Reichsbank oder sonstwie jederzeit rediskontiert werden können. Auf dieser Wechselanlage beruht in erster Linie die große Liquidität unserer Banken.

Einen ähnlichen Wechselverkehr, wie wir ihn haben, besitzen die Vereinigten Staaten nicht. Wohl kommen auch dort Tratten vor. Das sind weit überwiegend aber Auslandswechsel oder Devisen (foreign exchange bills). Sie sind gewissermaßen Ausläufer des europäischen Wirtschaftslebens, die hinüberragen auf amerikanischen Boden. Sie spielen ziffernmäßig im Rahmen des Zahlungsverkehrs des ganzen Landes nur eine verhältnismäßig bescheidene Rolle; denn gerade in den weiträumigen und reichen Vereinigten Staaten tritt der Außenhandel stark zurück hinter den Innenhandel; obwohl ihre Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse 1000 Millionen Dollar im letzten Jahr zum erstenmal überschritten hat und größer ist, als sie je in einem anderen Lande war, stellten doch die Produkte der Landwirtschaft, die im Inland verblieben, den sechsfachen Wert der exportierten dar, und bei den Industrieerzeugnissen wird das Verhältnis nicht weniger zugunsten des Inlands sich gestalten.

Im amerikanischen Inlandsverkehr aber spielt die Tratte keine Rolle. Soweit es sich um die Vermittlung des Zahlungsverkehrs handelt, herrschen die Schecks vor. Sie können wohl Bargeld ersparen, aber nicht ein Zahlungswesen mit Elastizität ausstatten; denn sie haben gesetzliche Zahlungsmitttel zur Voraussetzung; fehlt es an ihnen, versagt auch das Scheckwesen. Schecks bieten aber auch nicht den Banken die Möglichkeit leichtflüssiger Anlage, wie unsere Wechsel. Schon darum müssen im Kreditverkehr der Vereinigten Staaten, an die Stelle des Diskontgeschäftes bei uns, andere Bankgeschäfte treten. In einem jungen weiten Lande mit großer Einwanderung und noch größerer Binnenwanderung, in dem alles noch im wilden Fluss der Entwicklung sich befindet und die spekulative Beweglichkeit des Geistes hinter der körperlichen nicht zurücksteht, ist besondere Vorsicht bei allen Kreditgeschäften geboten. Der Realkredit erscheint daher oft noch nötig, wo in älteren und gesetzten Kulturvölkern der Personalkredit herrscht. Das Lombardgeschäft tritt deshalb vielfach an die Stelle des Diskontgeschäfts bei uns und ist in den Vereinigten Staaten weit wichtiger als dieses. In den landwirtschaftlichen Gebieten insbesondere des Westens dominiert das Warenlombardgeschäft, das sich stützt auf ein hochentwickeltes Lagerhauswesen und ein ausgebildetes Warrantsystem. Im reicher entwickelten Osten, der die Führung hat im gesamten Wirtschaftsleben des Volkes, steht das Effektenlombardgeschäft voran; „loans on collateral security“ sind die üblichste Art des amerikanischen Kreditgeschäfts. Der größeren Sicherheit, die das Faustpfand schafft, entspricht aber eine geringere Realisierbarkeit. Verpfändete Effekten, wie verpfändete Waren, lassen nicht jederzeit, zumal während einer Krisis, ohne bedenkliche Verluste sich veräußern. Soweit das reguläre Lombardgeschäft in Betracht kommt, fehlt es daher den amerikanischen Banken an Liquidität.

Das ist aber auch sogar der Fall bei der Gewährung von Personalkredit. Sie erfolgt überwiegend mittels „promissory notes“ Das sind eigene Solawechsel, in denen der Aussteller sich nach der Strenge des Wechselrechts zur Zahlung der kreditierten Summe verpflichtet. Sie tragen nur eine Unterschrift und lassen nicht so leicht, wie unsere Tratten, erkennen, aus welchen Geschäften sie hervorgegangen sind. Sie sind zum Umlauf daher wenig geeignet und schlummern regelmäßig bis zur Einlösung im Portefeuille der kreditgebenden Bank. Aus dieser mangelnden Umlaufsqualität erklärt es sich, weswegen der Personalkredit in den Vereinigten Staaten so viel mehr einen lokalen und individuellen Charakter trägt als bei uns; ein Kreditausgleich zwischen den verschiedenen Banken kann kaum stattfinden; der jeweilige Kassenbestand der einzelnen Bank gewinnt infolgedessen für die Bedingungen der Kreditgewährung eine ganz andere Bedeutung; Unterschiede, die bei uns durch die Umlaufsfähigkeit der Diskonten ausgeglichen werden, bleiben in ungemildeter Schärfe bestehen, so daß die klare Einheit eines großen Kreditmarktes in eine schwer übersehbare Fülle kleiner Kreditmärkte sich auflöst. Aus der mangelnden Umlaufsfähigkeit erwächst aber auch für diese Bankanlage ein Mangel an Liquidität. Solche Liquidität ist in den Vereinigten Staaten zwar nicht so nötig mit Bezug anf die Banknoten, da sie seit 1874 auch von der Regierung der Vereinigten Staaten eingelöst werden und zu den Banken selten zurückkehren. Um so nötiger ist sie aber mit Bezug auf die Depositen, da diese nicht, wie bei uns, mit den eigenen Garantiemitteln der Banken ungefähr balancieren, sondern, wie in England, regelmäßig um das Vielfache den Betrag des Aktienkapitals und der Rücklagen übertreffen. Liquidität der Anlage ist also schwieriger und doch nötiger. In diesem in der Organisation des amerikanischen Bankgeschäfts liegenden Widerspruch wurzelt in letzter Linie der Grund, weswegen fast alle Banken in den Vereinigten Staaten während der letzten Geldkrisis ihre Barzahlungen nicht aufrecht zu erhalten vermochten.

Ein Wechselverkehr, wie er unseren Banken eine Milderung dieser Schwierigkeiten gestattet, ist auf amerikanischem Boden nicht nur nicht vorhanden, sondern einstweilen nicht einmal denkbar. Die gesunden Grundlagen für ihn fehlen sowohl rechtlich als auch wirtschaftlich. Denn ein einheitliches Wechselrecht, wie wir es seit 60 Jahren besitzen, gibt es nicht in den Vereinigten Staaten, soweit Tratten in Frage kommen; jeder der 46 Einzelstaaten der nordamerikanischen Union hat das Recht besonderer gesetzlicher Regelung. Und wie die rechtliche, fehlt auch die wirtschaftliche Grundlage, weil im Lande der größten Kapitalkonzentrationen das Bankwesen bekanntlich dezentralisiert ist, wie nirgendwo sonst. Es gibt in den Vereinigten Staaten keine Zentralnotenbank und es gibt dort auch keine beherrschenden Kreditbanken, wie wir sie haben. Etwa 24000 Banken sind nebeneinander tätig.

Diese merkwürdige Dezentralisation ist von größter Bedeutung für das Diskontgeschäft. Denn da es die Aufgabe des Wechsels in erster Linie ja ist, Zahlungen von einem Platze auf den anderen zu übertragen, inbesondere ,,Zahlungen per distance in Zahlungen am Platze zu verwandeln“, so macht ein streng dezentralisiertes und lokalisiertes Bankwesen es geradezu unmöglich, das Diskontgeschäft in Verbindung mit den Banken wirksam zu entwickeln. Die Zentralisation im Bankwesen bei uns hat auch eine Zentralisation des Diskontgeschäfts in weitgehendem Maße zur Folge gehabt; 3/5 aller Wechsel — 1907 für 12316 Millionen Mark — gehen allein durch das Portefeuille der Reichsbank. Verteilt sich das Diskontgeschäft in einem weiten Gebiet auf eine große Vielheit von Banken, so sind Verschleierungen sehr viel leichter möglich und es wächst infolgedessen das Risiko stark. Sieht sich aber das Diskontgeschäft im wesentlichen verwiesen auf die Börse, so kann es nicht, wie bei uns die Banken es getan haben, eingegliedert werden in einen geregelten Kontokorrentrerkehr, der stets einen Überblick über die Geschäfte und damit auch ein Urteil über die Kreditwürdigkeit der Wechselschuldner gestattet. Solche Angliederung des Diskontgeschäfts an feste Kundenkreise machen die starken Fluktuationen in einem Börsenpublikum, zumal in einem amerikanischen, unmöglich; und doch wäre sie nirgends so nötig wie in einem jungen Kolonisationslande, das den Spekulationsgeist üppiger sich entfalten ließ, als irgendwo sonst, und Hunderttausende von Neulingen alljährlich in sich aufnimmt. Infolge der lokalen Dezentralisation des amerikanischen Bankwesens ist ein Wechselverkehr in den Vereinigten Staaaten mit so hohem Risiko verbunden, dass es zweifelhaft erscheint, ob er in absehbarer Zeit erfolgreich sich entwickeln läßt.

Jedenfalls fehlte bisher in den Vereinigten Staaten die Grundlage, auf der wir unser Banknotenwesen aufgebaut haben. Es musste also eine andere Grundlage gewählt werden. Die Entscheidung bei dieser Wahl wurde aber nicht getroffen durch sorgsame Überlegung, sondern durch einen Zufall. Das grundlegende Gesetz, das heute das Banknotenwesen in den Vereinigten Staaten regelt, stammt nämlich aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs. Dieser verlief bekanntlich zunächst recht ungünstig für die Nordstaaten. Sie gerieten durch das Missgeschick der Waffen auch in Geldnot. Bei der Aufnahme von Anleihen waren besondere Lockmittel deshalb nötig. Ein solches Lockmittel war, daß mit dem Besitz der Staatsschuldverschreibungen der Vereinigten Staaten, der United States Bonds, ein Vorzugsrecht zur Ausgabe von Noten verbunden sein sollte. Nur wer solche Bonds in Washington hinterlegte, durfte Noten, und zwar anfangs in Höhe von 90% ihres Wertes, ausgeben. Die Notenausgabe wurde also, statt mit dem Wirtschaftsleben, wie bei uns, mit dem Finanzwesen der Vereinigten Staaten in Verbindung gesetzt. Zwischen Notenbedarf und Wechselvorrat bestehen Kausalzusammenhänge, zwischen Notenbedarf und Bondsvorrat sind sie nicht vorhanden. Die Wechselmenge verkörpert den Bedarf der Volkswirtschaft an Zahlungsmitteln und mit ihr vermehrt sich bei uns automatisch der Notenumlauf. Die Menge an staatlichen Bonds veranschaulicht nur frühere Zahlungsbedürfnisse der Regierung; sie ist Änderungen überhaupt sehr wenig unterworfen; ist sie die Grundlage der Notenausgabe, so findet nicht nur keine automatische Vermehrung oder Verminderung des Notenumlaufs statt, sondern überhaupt keine.

Eine Vermehrung mußte schon aus äußeren Gründen im Laufe der Zeit auf Schwierigkeiten stoßen. Denn je mehr das Wirtschaftsleben in den Vereinigten Staaten sich entwickelte, um so günstiger gestalteten sich auch die Bundesfinanzen und um so mehr konnte von der anfangs großen verbrieften Schuldenlast abgetragen werden. In der Zeit von 1888—1892 ist sie von 1020 Millionen Dollar auf 585 Millionen Dollar, also um 435 Millionen Dollar vermindert worden. Seitdem hat allerdings, zum Teil in Verbindung mit dem Spanischen Krieg und dem Bau des Panamakanals, eine Vergrößerung der Bundesschuld der Vereinigten Staaten wieder stattgefunden. Am 1. November 1906 belief sie sich im ganzen auf 925 Millionen Dollar. Aber trotz dieser nicht unerheblichen Steigerung sind Bonds der Vereinigten Staaten schwer zu erhalten. Die große Mehrzahl von ihnen ist von den Notenbanken in Washington hinterlegt Am 1. November 1906 war das der Fall mit 631 Millionen Dollar. Aber auch der nicht auf diese Weise festgelegte Betrag befindet sich größtenteils in festen Händen.

Sind solche Bonds aber nicht jederzeit leicht zu bekommen, so können auch neue Noten nicht plötzlich, einem schnell auftretenden Bedarf gemäß, in Umlauf gesetzt werden. Ist daher das Bedürfnis nach einer Mehrausgabe von Noten groß, so entsteht die Versuchung für die Regierung der Vereinigten Staaten, die Menge der ausgegebenen Bonds zu vergrößern, wie ja auch am 16. November 1907 der amerikanische Schatzsekretär bekanntlich erklärte, es sollten für 150 Millionen Dollar neue Staatsschuldverschreibungen ausgegeben werden. Eine Vermehrung der Banknoten ist ferner dadurch äußerlich erschwert worden, daß keine Bank mehr Noten ausgeben darf, als ihr eingezahltes Aktienkapital beträgt.

Ebenso wie der Vermehrung, sind auch der Verminderung des Banknotenumlaufs feste Grenzen gesetzt. Das so wichtige natürliche Rückströmen der Banknoten zur ausgebenden Bank ist in den Vereinigten Staaten dadurch beseitigt worden, dass alle auf Grund hinterlegter Staatsschuldverschreibungen ausgegebene Koten seit 1874 auch jederzeit vom Schatzamt in Washington auf Grund eines Tilgungsfonds, für den jede Notenbank Einzahlungen in Höhe von 5% ihrer ausgegebenen Noten zu machen hat, eingelöst werden müssen; die staatliche Garantie macht eine Präsentation zur Einlösung bei der Bank überflüssig; die amerikanischen Banknoten haben so einen papiergeldähnlichen Charakter gewonnen und bleiben wie Papiergeld, an dessen Gebrauch lange Währungswirren den Amerikaner gewöhnt hatten, an sich im Verkehr haften. Überflüssigerweise ist aber außerdem noch bestimmt worden, daß Noten nicht über einen Höchstbetrag hinaus aus dem Verkehr gezogen werden dürfen; dieser Höchstbetrag war bis zum Frühjahr 1907 die lächerlich geringe Summe von 3 Millionen Dollar monatlich; seitdem ist er durch die Aldrich-Bill vom 4. März 1907 auf 9 Millionen Dollar monatlich vergrößert worden. Während eine Minderung des Notenumläufe also bei uns durch natürliches Rückströmen der Banknoten infolge Einlösung der diskontierten Wechsel stattfindet, kann es in den Vereinigten Staaten nur durch künstliche Einziehung herbeigeführt werden, und auch das nur in beschränktem Maße. Endlich war der Notenausgabe jeder einzelnen Bank ebenso wie eine Höchstgrenze auch eine Mindestgrenze gezogen worden: die Deponierung von Bonds hatte mindestens in Höhe eines Drittels des Aktienkapitals stattzufinden.

So sind an sich Änderungen im Notenumlauf enge Grenzen gezogen. Ob aber in diesen Grenzen eine Vermehrung oder Verminderung vorgenommen wird, hängt ausschließlich davon ab, ob sie der einzelnen Bank Gewinn verspricht. Der Gewinn der Bank bei der Notenausgabe besteht in der Verzinsung der Bonds, abzüglich der Steuer und der Kosten. Die Kosten setzen sich in erster Linie zusammen aus dem Zinsverlust für das Bardepot in Washington in Höhe von 5% der ausgegebenen Noten, sowie der Ausgaben für ihren Druck und ihre Beschaffung. Hinzu kommt die Notensteuer, die früher 1% jetzt regelmäßig ½% der umlaufenden Noten beträgt. Wie das Goldwährungs-Gesetz vom 14. März 1900 durch diese Herabsetzung der Notensteuer den Gewinn der Bank aus der Notenausgabe zu vergrößern suchte, so auch durch die Bestimmung, daß Noten hinfort in Höhe nicht nur von 90% sondern von vollen 100% des Nennwertes oder des unter diesem stehenden Kurswertes der deponierten Bonds ausgegeben werden dürften. Diese Gewinnsteigerung in Verbindung mit vorteilhaften Konventierungen der Bonds hat eine erhebliche dauernde Vermehrung der umlaufenden Noten zur Folge gehabt. Noch stärker aber wirkten die durch dasselbe Gesetz gewährten Erleichterungen in der Gründung solcher Nationalbanken genannten Notenbanken, denen durch Steuermaßnahmen ein tatsächliches Monopol der Notenausgabe gesichert ist. Sie haben ihre Zahl in der kurzen Frist von 7 ½ Jahren verdoppelt, So ist der dauernde Notenumlauf von 216.375.000 Dollar am 14 März 1900 auf 556.946.000 Dollar am 1. September 1907 angewachsen, d. h. prozentual ungefähr dreimal so stark, wie bei uns in Deutschland.

Der Gewinn hängt aber, wie gesagt, in erster Linie ab von der Verzinsung der Bonds. Sie ist bekanntlich sehr gering. Nominell beträgt sie heute regelmäßig 2%, tatsächlich ist sie natürlich abhängig vom Kursstand. Je niedriger der Kurs, um so größer der Gewinn; je höher der Kurs, um so niedriger der Gewinn. Die durch die ganze Notengesetzgebung künstlich geschaffene Nachfrage hat nun, wie es auch beabsichtigt war, den Wert der Bonds künstlich gesteigert, nach dem früheren Schatzsekretär Gage um volle 20%, was das Haupthindernis für jede durchgreifende gesetzliche Änderung der ungeeigneten Grundlage der amerikanischen Notenausgabe bildet, weil eine solche die künstliche Wertsteigerung beseitigen und damit den Nationalbanken, die im Besitz von solchen Bonds in Höhe von etwa 600 Millionen Dollar sind, einen Verlust von ungefähr 120 Millionen Dollar bringen würde. So steht regelmäßig trotz der niedrigen Verzinsung der Kurs der amerikanischen Bonds weit über pari; notiert er, wie es oft der Fall gewesen ist, 110, so beträgt der Gewinn bei der Annahme eines Zinssatzes von 6% nicht mehr als 0,6 %. Das ist an sich ein so geringer Gewinn, daß er, zumal unter amerikanischen Verhältnissen, keinen starken Anreiz zur Ausdehnung des Notenumlaufs bietet Gerade aber wenn solche Ausdehnung wünschenswert wird, mindert sich noch dieser Anreiz. Denn die gesteigerte Nachfrage treibt den Kurs der Bonds dann noch weiter herauf und verringert damit noch weiter die Gewinnchance. Also: wenn das volkswirtschaftliche Bedürfnis nach Banknoten am größten ist, ist der privatwirtschaftliche Ansporn zu ihrer Ausgabe am geringsten; und umgekehrt, wenn eine Zusammenziehung des Notenumläufe für die Gesamtheit geboten erscheint, ist für die einzelne Bank die Ausgabe von Banknoten am vorteilhaftesten. Schon darum ist mit einer zeitweisen Vermehrung wenig zu rechnen.

Sie verbietet sich geschäftlich aber vor allem wegen der angegebenen Schwierigkeiten der Zurückziehung der Noten. Ihretwegen lohnt es sich nur, so viele Noten auszugeben, wie dauernd, das ganze Jahr hindurch, in Umlauf gehalten werden können; denn wenn die Banknote nicht genutzt werden kann, reicht der geringe Gewinn, den ihre Ausgabe gewährt, nicht aus. Handelt es sich nur um Kapitalanlage, so ist der Ankauf von Bonds besonders unvorteilhaft.

Das Ergebnis ist also: Bei uns in Deutschland ist der Notenumlauf innerhalb eines Jahres sehr schwankend; er pflegt Differenzen von 500 bis 600 Millionen Mark aufzuweisen; im Jahre 1907 stand er am 23. Februar mit 1.275 Millionen Mark am niedrigsten und am 31. Dezember mit 1.886 Millionen Mark am höchsten; in der einen Woche vom 23. bis 30. September 1907 ist er um 395 Millionen Mark vergrößert worden. In den Vereinigten Staaten schwankt zwar der Bedarf nach Zahlungsmitteln wegen des agrarischen Charakters des Landes und des spekulativen Sinnes der Bevölkerung viel mehr noch als bei uns, der Banknotenumlauf dagegen bleibt im wesentlichen das ganze Jahr hindurch stabil auf der etwa durchschnittlichen Höhe des Jahresbedarfs. Im Jahre 1907 belief er sich am 1. Januar auf 596, am 1. April auf 597, am 1. Juli und am 1. Oktober je auf 604, am 1. November auf 609 Millionen Dollar.

Es muß also die im wesentlichen sich gleichbleibende Summe an Zahlungsmitteln im Jahre zeitweise hinter dem Bedarf zurückbleiben, zeitweise über ihn hinausgehen. Ist der Bedarf größer als das Angebot, muß der Zins steigen; ist er kleiner, muß der Zins sinken. Ob der erste oder der zweite Fall eintritt, hängt, wie wir schon wissen, vor allen Dingen ab von der Ernte.

Für die gesamte Ernte, deren Wert im vorigen Jahre amtlich auf 30 Milliarden Mark geschätzt worden ist, müssen die Erntearbeiter bezahlt werden. Soweit sie in den Handel kommt, was natürlich nicht bei der ganzen Ernte, aber immerhin bei mehr als der Hälfte der Fall ist, muß sie außerdem bewegt und finanziert werden. Dieser ungewöhnliche doppelte Bedarf an Zahlungsmitteln trifft zeitlich zusammen. Er bringt daher die Banken insbesondere im Baumwoll- und Weizengebiet in eine schwierige Lage. Einmal entziehen ihnen die Farmer ihre hinterlegten Barbeträge, um die Erntelöhne zu zahlen, was um so bedeutsamer ist, als diese nur langsam aus den Taschen der ländlichen Arbeiter an die Banken zurückfließen. Zugleich müssen die Banken große Summen herleihen, um die Ernte zu bewegen. Woher sollen sie diese Mittel beschaffen? Die Banknotenausgabe läßt sich aus den dargelegten Gründen nicht vergrößern. Das Scheckwesen ist nur wirksam, wo die Leute Bankkonten haben, was aber auf dem Lande auch in Amerika nicht der Fall ist; es versagt daher zum großen Teil seine Dienste, weil die Erntearbeiter Schecks nicht annehmen oder alsbald versilbern. Bargeld muß also beschafft werden.

Von Bargeld sind die Landbanken aber in außerordentlichem Maße entblößt. Es hängt das mit den gesetzlichen Bestimmungen über die beim Depositengeschäft zu haltende Barreserve zusammen. Sie soll bei den Landbanken 15% betragen, wovon 3/5 aber in den Nationalbanken der sog. Reservestädte hinterlegt werden dürfen. Tatsächlich also brauchen nur 6% aller Depositen in Bargeld gehalten zu werden; die übrigen 9% der Reserve werden hinterlegt in den oft weit entfernten Banken der 40 Reservestädte, die diese hinterlegten Beträge der Landbanken wie andere Depositen behandeln, d. h. sie in ihrem Bankgeschäfte verwenden bis auf die für sie gesetzlich vorgeschriebene Reserve von 25%, die wiederum zur Hälfte hinterlegt werden darf in den Nationalbanken der drei „Zentralreservestädte“ New York, Chicago und St. Louis, welche ihrerseits wieder diese Depositengelder wie andere Depositengelder behandeln. Diese Bankdepositen sind eine besondere Eigentümlichkeit des amerikanischen Bankwesens. Welchen Umfang sie haben, geht daraus hervor, daß die Nationalbanken am 22. August 1907 an Depositen von anderen Nationalbanken 824 und von anderen Banken und bankartigen Instituten 734 Millionen Dollar nachwiesen. Was die Landbanken (country banks) unter den Nationalbanken besonders anlangt, so waren im Oktober desselben Jahres von 621 Millionen Dollar vorhandener, (actuel) ;,Reserven“ nur 201 Millionen Dollar in Bargeld zur Hand, 420 Millionen Dollar dagegen in mehr oder minder weit entfernten anderen Nationalbanken hinterlegt. Am 22. August 1907 hatten die Nationalbanken der drei Zentralreservestädte an solchen Depositen anderer Nationalbanken allein aus den 40 Reservestädten 165 Millionen Dollar aufzuweisen.

Dieses eigentümliche Reservesystem trägt viel dazu bei, daß von den verfügbaren Barmitteln des Landes ein so großer Teil — etwa 30% — in New York anzusammeln pflegt. Statt dass das Kapital aus dem reichen Osten in die weniger entwickelten und daher noch kapitalärmeren Gebiete des Westens gelenkt wird, wird es so künstlich nach dem Osten zurückgezogen. Die Klagen, daß damit der schnell emporblühende Westen in finanzieller Abhängigkeit vom Osten festgehalten wird, sind nicht ganz unberechtigt. Auch muß diese künstliche Verstärkung des Zusammenströmens der Leihkapitalien in den großen Städten zumal des Ostens die großen Zinsunterschiede zwischen Ost und West, zwischen Stadt und Land noch verstärken.

Wenn es immer mehr wahrscheinlich wird, daß unter der Einwirkung von Männern, wie William J. Bryan, an die Stelle des altüberkommenen Gegensatzes zwischen Nord und Süd, der bisher das Parteileben bestimmt und die Politik des Landes beherrscht hat, ein Gegensatz zwischen West und Ost, d. h. zum großen Teil zwischen Landwirtschaft und mobilem Kapital tritt, so ist auch diese eigenartige, die natürlichen Unterschiede verschärfende Organisation des amerikanischen Bankwesens daran nicht ganz unbeteiligt.

Wenn nun zur Zeit der Ernte die Landbanken für den angegebenen doppelten Zweck sich Bargeld beschaffen müssen, ziehen sie zunächst ihre deponierten Gelder von den Banken der Reservestädte zurück und entleihen von ihnen die weiteren Beträge, die sie darüber hinaus allenfalls noch nötig haben. So beginnen mit der Erntezeit, je nach der Witterung, bald etwas früher, bald etwas später, jene groBen Bargeldwanderungen in den Vereinigten Staaten, die für das amerikanische Wirtschaftsleben schon immer so charakteristisch waren, neuerdings aber — nach Durchführung der Goldwährung in den Vereinigten Staaten — auch anfangen, eine Bedeutung für die Weltwirtschaft zu gewinnen. Sie werden regelmäßig auf 600 bis 800 Millionen Dollar geschätzt. Je reicher die Ernten und je höher die Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse sind, um so großer müssen diese Bargeldwanderungen sein.

Die Ernte im Jahre 1907 ist nicht besonders groß gewesen. Die weitaus größte und für das amerikanische Wirtschaftsleben wichtigste Ernte der Vereinigten Staaten, die Maisernte, erreichte zwar den Durchschnitt der letzten fünf Jahre, aber nicht den besonders hohen Stand der Jahre 1905 und 1906; die Baumwollernte ist nach den besten Schätzungen sogar um etwa eine Million Ballen oder 1/12 kleiner als im Vorjahre; die Weizenernte bleibt mit 625 Millionen Bushel um 100 Millionen oder etwa 1/7 hinter dem Jahre 1906 zurück; die Haferernte ist sogar zum großen Teil mißraten.

Aber für den Ausfall an Menge boten die hohen Preise reichen Ersatz. Der Baumwollpreis stand ja fast doppelt so hoch wie vor wenigen Jahren; der Weizen notierte in London Ende 1907 34/6 s gegen 26/1 s Ende 1906; der Mais erreichte in New York im Oktober 1907 eine Notierung von 76 3/8 c per Bushel gegen 55 ½ c im Vorjahr. Dem Werte nach war die Maisernte um 26%, die Baumwollernte um 7%, Weizenernte um 5 ½ % über dem Durchschnittswert der letzten fünf Jahre. Der amerikanische Landwirtschaftsminister hat berechnet, daß der Wert aller Zerealien 1907 den Durchschnittswert der letzten fünf Jahre um 23%, den Wert des Vorjahres um 296 Millionen Dollar übertrifft und daß der Gesamtwert aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse den von 1906 um 657 Millionen Dollar (10%), den von 1905 um 1.103 Millionen Dollar (17%), den von 1904 um 1.253 Millionen Dollar (20%), den von 1903 um 1.495 Millionen Dollar (25%), den von 1899 um 2.695 Millionen Dollar (57%) überflügelt. Es war daher, trotz geringerer Mengen, der Barbedarf für die Ernte-Finanzierung 1907 besonders groß. Beträchtlichere Geldsendungen vom Osten waren nötig als je zuvor.

Nach dem Maß dieser Geldsendungen mindern sich natürlich die Barreserven in den östlichen Banken. Das kommt auch in der Statistik einigermaßen zum Ausdruck, wenn sie bei den Nationalbanken in der Zeit vom 22. August bis 3. Dezember 1907 in den Depositen anderer Nationalbanken eine Abnahme von 115 und bei denen anderer Banken und bankartiger Institute eine solche von 91 Millionen Dollar nachweist. Doch gibt es für diese Minderung der Barreserven eine Grenze. Sie wird durch die bereits erwähnten gesetzlichen Bestimmungen gezogen, die beim Depositengeschäft eine Barreserve von 15% den Landbanken, von 25% den Stadtbanken vorschreiben. Wird diese Mindestgrenze im Barvorrat nicht innegehalten, so darf die Bank ihre Verbindlichkeiten nicht mehr vergrößern und kann eventuell durch den Comptroller of the Currency suspendiert werden. Jemehr die Depositen also anwachsen, um so mehr Barmittel werden durch diese gesetzlichen Bestimmungen festgehalten in den Banken, um so weniger sind verfügbar für die großen Ernten im Westen und Süden.

Die Depositengelder sind nun in den Jahren des großen Aufschwungs gewaltig gewachsen. 1886 wurden sie auf 2.800, 1896 auf 4.900, 1906 auf 12.200 Millionen Dollar beziffert, d. h. im letzten Jahrzehnt haben sie gerade doppelt so stark als im voraufgehenden, um 150% gegen 75% zugenommen. Die gesetzlich vorgeschriebene Reserve war somit auch sehr viel größer als früher. Der Mehrbetrag an Bargeld, der infolge des Anwachsens des Depositengeschäfts durch die gesetzlichen Reservevorschriften in den Banken festgehalten wird, dürfte hinter den Neuprägungen in Gold im letzten Jahrzehnt kaum zurückstehen. Da gleichzeitig schon wegen der starken Zunahme der Bevölkerung der Bedarf an Zahlungsmitteln stark gewachsen war, so mußte jetzt beim Bargeldbezug der Erntegebiete im Westen und Süden die durch das Gesetz gezogene kritische Grenze früher erreicht werden als sonst. Wenn das aber geschah, so gab es nur eine Alternative.

Entweder: man achtete die gesetzliche Bestimmung und rührte die vorgeschriebene Barreserve, ihrer wirtschaftlichen Bestimmung zuwider, trotz dringendsten Bedarfs, den Gesetzesparagraphen zu Liebe, nicht an. Dann konnten für die Ernten nicht genügend Barmittel zur Verfügung gestellt werden. Dann konnte die Ernte nicht in ausreichendem Maße bewegt werden. Sie mußte deshalb zum Teil beim Farmer oder wenigstens im Produktionsgebiet bleiben und konnte nicht verkauft werden. Es entstand dann also zunächst in den Erntegebieten eine verhängnisvolle Stockung im Wirtschaftsleben und sie mußte von hier aus übergreifen auf das ganze Land.

Oder: man stellte sich auf den Standpunkt, daß eine gesetzliche Beserre, die im Fall der Not nicht angegriffen werden darf, ein wirtschaftlicher Unsinn ist. Die Stadtbanken, zmnal im Osten, überschritten, trotz der angedrohten Strafen, die kritische gesetzliche Grenze. Solche Überschreitung bleibt nicht geheim. Denn ein „Wochenausweis der Vereinigten New Yorker Banken“ wird regelmäßig veröffentlicht und nicht nur in amerikanischen, sondern aoch in europäischen Zeitungen abgedruckt. Allerdings kommt ihm nicht die Bedeutung zu, die ihm insbesondere in Europa oft beigelegt wird. Denn er kann — von den Privatbanken ganz abgesehen — auf Vollständigkeit keinen Anspruch machen. Er bezieht sich nämlich nur auf Mitglieder des New Yorker Clearing House. Ende des Jahres 1907 waren aber z. B. selbst zwei Nationalbanken und nicht weniger als 17 Einzelstaatsbanken nicht Mitglieder des Clearing House, und vor allen Dingen stehen diejenigen Bankinstitute draußen, die in den letzten Jahren in den Vereinigten Staaten am stärksten sich entwickelt haben und allein in New York Ende 1907 Depositen in Höhe von etwa 700 Millionen Dollar aufzuweisen hatten. Es sind das die sog. Trust Companies, die unter den amerikanischen Banken am meisten Ähnlichkeit mit unseren großen „Effektenbanken“ aufzuweisen haben. Nur drei von ihnen waren zu Beginn der Krisis Mitglieder des Clearing House, unter ihnen die Knickerbocker Trust Company, die durch den „Run“ zu Beginn der Krisis solchen Weltruf erlangte; 47 dagegen standen außerhalb dieser Organisation, insbesondere weil sie nicht bereit waren, gegenüber ihren Depositen in derselben Weise Reserven zu halten, wie das Gesetz es von den Nationalbanken verlangt.

Somit leidet jener vielbeachtete Wochenausweis schon an großer Unvollständigkeit. Doch das ist nicht das Schlimmste. Auch eine unvollständige Statistik, wenn sie zuverlässig ist, kann wertvolle Vergleiche ermöglichen. Aber auch diese Zuverlässigkeit wird angezweifelt. Denn zwischen den zum Clearing House gehörigen und am Wochenausweis beteiligten Banken und den außerhalb der Organisation und Veröffentlichung verbleibenden bestehen zum Teil sehr enge persönliche Beziehungen. Dieselben Männer sind verschiedentlich hier wie dort ausschlaggebend. Es ist zum mindesten die Möglichkeit nicht zu bezweifeln, daß auf Grund solcher persönlicher Beziehungen allerlei Schiebungen mit Rücksicht auf den Wochenbericht vorgenommen werden. Dass es, auch wenn wichtige Interessen auf dem Spiele stehen, bei dieser bloßen Möglichkeit bleibt, ist allgemein, ganz besonders aber in Amerika wenig wahrscheinlich. Um so bedeutsamer ist es unzweifelhaft, wenn der Wochenausweis — trotz dieser „Frisierungs“-Möglichkeit — ein Defizit in der gesetzlich vorgeschriebenen Barreserve zeigt. Ist es groß und ist es von Dauer, so müssen alle Verschleierungskünste schließlich versagen. Erscheint es im Wochenausweis, so darf man annehmen, daß es nicht mehr sich geheim halten ließ.

Ein solches sichtbares Defizit in der Barreserve hat in New York vom 26. Oktober 1907 bis 11. Januar 1908 bestanden und am 28. November 1907 mit 54 Millionen Dollar seinen Höhepunkt erreicht, während es in der letzten großen Krisis von 1898 über 16 Millionen Dollar nicht hinausgegangen war.

Ein solches Defizit kann leicht eine starke Erregung bei den Deponenten zur Folge haben, eine Erregung, die so besonders bedenklich ist, weil sie sich, wie das Defizit des Wochennachweises, nicht auf eine einzelne Bank, sondern eine große Anzahl von Banken bezieht. Die Deponenten beginnen zu fürchten, dem Schwinden der Barreserve entspreche ein Schwinden der Privatdepositen. Damit ist der Anlass zu einem „Run“ gegeben. Man sucht zu retten, was noch zu retten ist, und beginnt, die hinterlegten Beträge zurückzuziehen, damit das Defizit weiter zu vergrößern und den Anlass der Beunruhigung noch zu verstärken. Das „Hoarding“ beginnt, von dem der amerikanische Schatzsekretär meint, es habe sich während der letzten Krisis auf nicht weniger als 296 Millionen Dollar, auf 97 Millionen Dollar allein in der Stadt New York erstreckt, Summen, die allerdings recht hoch gegriffen zu sein scheinen, wenn sie nicht etwa Abhebungen von Bankdepositen mit einschließen.

Wegen dieser Gefahr der Zurückziehung der Depositengelder haben die Banken ein lebhaftes Interesse daran, ein sichtbares Defizit möglichst zu vermeiden und, wenn es doch eintritt, es schleunigst wieder zu beseitigen. Das können sie nur durch Einschränkung ihrer Kreditierungen. Zunächst werden, wie es das Gesetz im Falle eines solchen Defizits schon vorschreibt, neue Darlehen nicht mehr gewährt. Schon das ist misslich, da in einer Krisis die Kreditansprüche natürlich nicht abnehmen, sondern wachsen. Weit bedenklicher aber ist es, wenn in solcher Zeit hereinbrechender Not nicht nur neue Kredite verweigert, sondern auch alte, zur Deckung des Defizits, eingezogen werden. Das ist aber kaum zu vermeiden. Denn das Zurückziehen der Bank- und Privatdepositen schmälert die Grundlage des bisherigen Kreditgebäudes. Jedem hinterlegten und jetzt zurückgezogenen Betrage entspricht das Mehrfache an Kreditgewährungen. Im amerikanischen Schatzamt ist eine Berechnung aufgestellt worden, wonach einem Depot von je 100.000 Dollar in einer Bank einer Zentralreservestadt, einer Bank einer Reservestadt und einer Landbank Kredite von 1.906.000 Dollar, also vom 6 ½ fachen Betrage, entsprechen. Eine Zurückziehung von 200 Millionen Dollar könnte demnach durch eine Minderung der Kredite in Höhe von 1.000 Millionen Dollar noch nicht ausgeglichen werden. In diesen Depositenabhebungen liegen daher die Hauptwurzeln für die Kreditkrisis, die im Gefolge einer Geldkrisis sich entwickelt. Im Jahre 1893, als die Vereinigten Staaten noch nicht als vollgültiges Mitglied der Gemeinschaft der Goldwährungsländer die Hilfe des Auslandes wirksam in Anspruch zu nehmen vermochten, hat diese Kreditkrisis einen bedenklichen Umfang angenommen; in wenigen Monaten minderten die Nationalbanken ihre Kreditgewährungen um 818 Millionen Dollar oder etwa 15% allein in der Zeit vom 14. Juli bis 3. Oktober 1893 um 177 Millionen Dollar oder 8,7%. Im Jahre 1907, als man infolge der Währungsreform von 1900 nicht mehr ausschließlich auf inländische Hilfe sich angewiesen sah, brauchten die Nationalbanken in der kritischen Zeit vom 22. August bis 3. Dezember Krediteinschränkungen nur in Höhe von 93 Millionen Dollar oder nur 2% vorzunehmen. Dem entspricht auch die Konkursstatistik der Banken. Sie verzeichnet für 1893 598, für 1907 dagegen nur 89 Zusammenbrüche von Banken, weniger als in fünf dazwischenliegenden Jahren; und wenn das Kapital der zusammengebrochenen Banken 1898 nur 170, 1907 dagegen 203 Millionen Dollar ausmacht, so erklärt sich das ausschließlich durch den in der letzten Krisis zuerst hervorgetretenen neuen eigenartigen Bankentypus der Trustgesellschaften, von denen 17 mit einem Kapital von 118 Millionen Dollar an jener größeren Ziffer beteiligt sind.

Deutlicher als in diesen Zahlen kommt das bei den Barmitteln herrschende große Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage zum Ausdruck in der außerordentlichen Steigerung der Zinssätze. Der Zins für tägliches Geld betrug in New York durchschnittlich im Oktober 22%, im November 11,18%, und im Dezember 12,86%; es stieg im Tagesdurchschnitt bis auf 75 % und erklomm in einzelnen Abschlüssen die Höhe von 125%.

Waren somit die Folgen des „Hoarding“ auch anscheinend nicht so vernichtend, wie nach seinem Umfang und nach früheren Erfahrungen vielleicht zu erwarten war, so zeigten doch die bedenklich hohen Zinssatze, daß eine Reform geboten war. Sie müsste sich natürlich in erster Linie gegen den Mangel an Elastizität im amerikanischen Banknotenwesen und gegen das Reservesystem der Banken richten. Es fehlt natürlich auch nicht an Vorschlägen. Doch scheint es heute schon sicher zu sein, daß man, wie so oft in Amerika, von an die Wurzeln des Übels greifenden Veränderungen prinzipieller Art absieht. Man scheint sich mit den Gesetzesvorschlägen des Senators Aldrich begnügen zu wollen, die im wesentlichen darauf hinauslaufen, Nationalbanken, die bestimmte Bedingungen erfüllen, insbesondere für mindestens 50% ihres Aktienkapitals Noten bereits ausgegeben haben and eine Reserve von 20% aufweisen können, die Ausgabe von Notstands-Banknoten, entweder unter Verzicht auf eine Spezialdeckung oder doch unter ihrer Schwächung, indem man auch andere Wertpapiere als Staatsschuldverschreibungen zur Deckung zulässt, zu gestatten; solche zusätzliche Banknoten sollen in ihrem Gesamtbetrage kontingentiert und für jede einzelne Bank durch Aktienkapital und Reserven begrenzt sein; sie sollen außerdem, um ihre Zurückziehung, wenn sie nicht mehr nötig sind, zu erzwingen, besteuert werden, etwa mit ½% monatlich. Man scheint sich also hier mit einem Kurieren von Symptomen begnügen zu wollen.

Fast größere Beachtung als dieses Hauptreformproblem, das man im allgemeinen mit einer gewissen Scheu und Zaghaftigkeit behandelt, findet die Frage, wie dem bedrohlichen „Hoarding“ begegnet werden könnte. Schon während der Krisis ist der Präsident selbst mit kräftigen Mahnworten ihm entgegengetreten, und es fehlt nicht an einer ganzen Reihe von Reformvorschlägen, die diese ergiebige Quelle des Unheils dauernd verstopfen möchten. Hier mangelt es auch nicht an durchgreifender Energie. Allen Ernstes wird nämlich ein Vorschlag erörtert, der uns in Europa ebenso merkwürdig anmutet, wie er für das heutige Amerika charakteristisch ist. Er besteht einfach darin, der Staat müsse alle Depositen garantieren. Der jüngste Staat der Nordamerikanischen Union, Oklahoma, hat diesen Vorschlag auch bereits im weitesten Sinne zum Gesetz erhoben. Wichtiger ist, daß auch der langjährige Vorsitzende des Banking and Currency Committee im amerikanischen Repräsentantenhaus, Charles N. Fowler, ihn als wichtigen Bestandteil in seinen Gesetzentwurf, der jetzt mit der Aldrich-Bill des Senates den Kongress beschäftigt, aufgenommen hat. Dass er im Kongress durchdringt, dürfte trotz einflussreicher Befürworter ausgeschlossen sein. Vielleicht gelangt man im Laufe der Zeit auf diesem merkwürdigen Umweg zu dem bescheidenen Ziel einer Reform der Deckungsvorschriften für das Depositengeschäft

Zwei Wohlstandsmomente sind es also, welche die herbstliche Geldversteifung im Jahre 1907 zur Geldkrisis sich steigern ließen: infolge der hohen Preise für die wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse war der Barbedarf für die Erntefinanzierung besonders groß, und gleichzeitig war infolge der gewaltig angewachsenen Depositen die Verfügbarkeit über die im Lande vorhandenen Barmittel für die Banken im Osten gemindert.

„A rich man's crisis“ ist diese letzte Krisis mit Recht genannt worden. Der Reichtum, der im großen Erntewert und in den hohen Depositen, aber auch im starken Goldumlauf des Landes und in den beträchtlichen Barmitteln des Schatzamtes sich spiegelt, unterscheidet diese letzte Krisis scharf von ihrer Vorgängerin im Jahre 1893.

Zu den objektiven Momenten, die die Lage verschärften, kommen, weiter verschärfend, subjektive Momente hinzu, die stets in Wirtschaftskrisen eine Rolle spielen.

Es war nicht sehr schwer, eine Wirtschaftskrisis für den Herbst in den Vereinigten Staaten vorauszusehen. Eine starke Geldverteuerung war sicher zu erwarten. Viel Zündstoff hatte außerdem sich angesammelt, Eine große Reihe von Untersuchungen und Prozessen — gegen die Lebensversicherungsgesellschaften, die Standard Oil Company, den Tabaktrust, die Harriman-Bahnen, die New Yorker Stadtbahnen — hatten Methoden amerikanischer Wirtschaftsführung und Finanzierung enthüllt, die das Vertrauen allgemein mindern mußten. Präsident Roosevelt selbst hatte mit der ganzen vorbildlich-amerikanischen Kraft seiner unerschrockenen Energie sich an die Spitze der Antitrust-Bewegung gestellt; nicht müde wurde er im Kampfe gegen die „Banditen, die schlimmer als Sozialisten und Anarchisten die Eigentumsrechte bedrohen“. Wirkt jede bevorstehende Präsidentenwahl lähmend, so ganz besonders dieses Mal die Ungewissheit, ob die kraftvoll eingeschlagene Politik Fortsetzung finden solle oder nicht Es fehlte somit nicht an Anlässen zur Beunruhigung und Vorsicht. Die Spannung war groß. Jeder Anstoß konnte eine Entladung herbeiführen.

Diesen Anstoß gab am 15. Oktober der Zusammenbruch des Kupfer-Corners von Heinze & Co. Er hätte an sich wohl genügt Aber er gewann noch allgemeinere Bedeutung. Denn zwischen den Kupferspekulanten und den Banken bestanden enge Verbindungen. F. Augustus Heinze war Präsident der Merkantilen Nationalbank in New York und besaß im wesentlichen die State Bank of Montana in Butte. Ebenso spielten seine Hauptgenossen eine Rolle im Bankwesen. Charles W. Morse war an 6 Banken stark beteiligt, die zusammen ein Kapital von etwa 7 Millionen Dollar und Depositen in angeblicher Höhe von etwa 80 Millionen Dollar besaßen, und die (Gebrüder Thomas waren an 4 Banken erheblich interessiert, die bei einem eigenen Kapital von 2,9 Millionen Dollar etwa 20 Millionen Dollar Depositen hatten. Die Befürchtung war nun nicht unbegründet, daß die zusammengebrochenen Spekulationen mit den Mitteln dieser Banken ins Werk gesetzt worden waren. Denn die Kontrolle von Banken war bereits längst ein wichtiges Finanzierungsmittel geworden. Sie ermöglichte es, in doppelter Weise sich Mittel zu verschaffen. Erstens konnte man die Aktien, auf denen die Kontrolle beruhte, lombardieren, und zweitens konnte man die angesammelten Depositen der Banken nutzen. War das auch mit einigen rechtlichen Schwierigkeiten verbunden, sie ließen sich überwinden, wenn man sich geschickt in die Hand arbeitete und Erfolg hatte. Am Zusammenarbeiten und am Erfolg fehlte es jedoch. Kein Wunder, daß auf dem Hintergrund der nervös-erregten allgemeinen Stimmung der Kupferkrach, noch ehe am 26. Oktober der Bankausweis den ersten Fehlbetrag in der vorgeschriebenen Barreserve zeigte, einen Anlass bot, Depositengelder von den Banken zurückzuziehen, das „Hoarding“ zu beginnen. Als dann unter aufsehenerregenden Umständen der Präsident der großen und vornehmen Knickerbocker Trust Co. sein Amt niederlegte und gleichzeitig verlautete, daß er mit Charles W. Morse und seinem Schwager Whitney, den gerade die Untersuchungen über die New Yorker Straßenbahnschwindeleien besonders bloßgestellt hatten, in enger Verbindung gestanden habe, da steigerte sich die Bewegung zum stürmischen „Run“. Hinzu kam, daß infolge der Kapitalkrisis Bargeld sich besonders günstig verwenden ließ. Man konnte es nicht nur vielfach zu Vorzugsbedingungen, die weit hinausgingen über das, was die Depositenbanken zahlten, ausleihen, sondern der ungewöhnlich niedrige Kursstand aller Wertpapiere musste Kapitalisten auch als der richtige Augenblick erscheinen, bisher hinterlegte Beträge zu dauernder Anlage zu verwenden.

Solchen Abhebungen von Depositengeldern, von denen oben in anderem Zusammenhang ausführlich bereits die Rede war, konnten die Banken nicht ruhig zusehen, zumal da sie gerade in die Zeit besonders großer Nachfrage nach Barmitteln fielen. Sie suchten zunächst durch Zureden zu wirken. Als das nicht half, griff man zu drastischeren Mitteln: man beschränkte einfach die Barzahlungen. In dreifacher Art ist das geschehen. Fast allgemein wurde von der Schecksumme ein Abzug gemacht, bis zu 4% in New York, bis zu 5% beispielsweise in Pittsburg; das heißt also: ein Bargeldagio wurde eingeführt. Vielfach — im mittleren Westen — weigerten sich auch die Banken, mehr als 25 Dollar wöchentlich an ein und denselben Kunden auszuzahlen. Vereinzelt — im fernen Westen, z. B. in Kalifornien — wurden für die kritische Zeit einfach dadurch alle Barzahlungen aufgehoben, daß man durch die einzelstaatliche Gesetzgebung nach Bedarf „legal holidays“ einführte, an denen die Banken ihre Türen überhaupt zu schließen hatten. So ist das vielbewunderte Scheckwesen im ganzen weiten Bereich des amerikanischen Wirtschaftslebens, ebenso wie bei ähnlichen früheren Gelegenheiten, vollständig zusammengebrochen, was diejenigen beherzigen sollten, die bei uns auf der vermeintlichen Grundlage englisch-amerikanischer Erführungen die alte Lehre verkünden, daß das Scheckwesen gegenüber dem Banknotenwesen eine höhere Stufe der Entwicklung darstelle. Wahrend die Schecks in den Vereinigten Staaten als Zahlungsmittel versagten, behielten die Banknoten diese Eigenschaft in solchem Maße bei, daß sie sogar ebenso wie Münzgeld zum Gegenstand des „Hoarding“ gemacht wurden. Ob mit einer solchen Gleichstellung von Metallgeld und Banknoten auch in der Zukunft zu rechnen sein wird, erscheint allerdings zweifelhaft, weil die vielerörterte Reform des Banknotenwesens, wie schon angedeutet wurde, sich darauf beschränken zu wollen scheint, auf Kosten der Sicherheit eine Vermehrbarkeit der umlaufenden Banknoten herbeizuführen.

Der Zusammenbruch des Scheckverkehrs, der im hohen Goldagio am deutlichsten in die Erscheinung trat, hat natürlich auf den internationalen Goldverkehr den größten Einfluss ausgeübt. Das Goldagio schaltete gewissermaßen den Wechselkurs als Regulator der Goldbewegungen und Gradmesser für den Stand der Zahlungsbilanz aus. Es machte eine Goldeinfuhr nach Amerika auch dann möglich, wenn die Wechselkurse sie nicht gerechtfertigt erscheinen ließen, ja umgekehrt sogar energisch für Goldausfuhr aus den Vereinigten Staaten sprachen. Selbst als cable transfers auf London 4,93 Dollar notierten, fand nicht Goldausfuhr, sondern Goldeinfuhr in den Vereinigten Staaten statt.

Ganz ähnliche Stimmungen des Misstrauens und der Vorsicht, wie sie in den Vereinigten Staaten zum „Hoarding“ führten, waren aber auch in Europa vorhanden. Man verhielt sich daher Amerika gegenüber zurückhaltend. Das zeigte sich vor allem im Geldverkehr.

Im europäisch-amerikanischen Geldverkehr spielen neuerdings die sog. Finanzwechsel eine große Rolle. Ihr Name deutet schon an, daß sie mit dem Warenverkehr nicht in unmittelbarer Verbindung stehen. Doch eilen sie vielfach amerikanischen Baumwoll- und Weizenverschiffungen nur voraus und verteilen damit die Zahlungen gleichmäßiger über das Jahr, als es bei den Warensendungen, des unabänderlichen Naturfaktors der Ernte wegen, möglich ist. Sie finden so zum großen Teil eine Sicherung in der Zukunft, der sich eine Gegenwartssicherung in der Form hinterlegter amerikanischer Wertpapiere regelmäßig noch hinzugesellt. Solche Finanzwechsel, die teils von amerikanischen, teils — und zwar bisweilen gegen Provision — von europäischen Bankhäusern akzeptiert sind, sind in den letzten Jahren in wachsenden Mengen in Europa zur Diskontierung angeboten worden, und insbesondere London hat sie, um seinen Ruf als freier Goldmarkt für alle Welt zu wahren, bereitwillig diskontiert, zumal damit oft ein verlockender Gewinn gemacht werden konnte. Im Jahre 1906 sollen noch für 400 Millionen Dollar solche Finanzwechsel diskontiert worden sein. Aber bereits damals fing die Bank von England an, einen gewissen Unwillen ihnen gegenüber zu zeigen, indem sie an ihrem veröffentlichten Diskontsatze von 4% nur ihren Kunden gegenüber festhielt und sonst 4 ½% verlangte.

Ganz anders aber waren die Schwierigkeiten im Jahre 1907. Man hatte in englischen Finanzkreisen eingesehen, daß der Ruhm voller Freiheit des Geldmarktes mit schweren Opfern insbesondere in der Form ungewöhnlich hoher Diskontsätze — worauf ich noch zurückkomme — zu bezahlen sei. Der Stolz war durch praktisch -reale Momente, für die der Engländer noch stets ein großes Verständnis gezeigt hat, stark gedämpft worden. Vor allem aber wandte das Amerika gegenüber überhaupt erwachte Misstrauen sich gegen diese Finanzwechsel, weil oft dieselben amerikanischen Banken hinter ihnen standen, die mit den großen, so vielfach bloßgestellten Gründern und Spekulanten eng liiert waren, und weil andererseits ihre Sicherheit oft vom Kurs amerikanischer Effekten, zu dessen Stabilität man das Zutrauen verloren hatte, abhing. So stießen diese Finanzwechsel im Sommer 1907 in London auf immer größere Schwierigkeiten, und im August weigerten sich die Londoner Banken — einen alten Nationalstolz den veränderten Verhältnissen völlig preisgebend — sie weiter überhaupt hereinzunehmen. Um das Risiko zu mindern, verzichtete man damit zum großen Teil darauf die Zahlungen gleichmäßiger als die Warensendungen über das Jahr im englisch-amerikanischen Verkehr zu verteilen.

Das war um so wichtiger, als auch bei den Warensendungen eine Art Zurückhaltung vorhanden war. Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ging das allerdings auf sachliche Momente in den Vereinigten Staaten zurück. Es waren nämlich im Jahre 1907 wegen ungünstiger Witterungsverhältnisse die Ernten in Nordamerika nicht unerheblich später als gewöhnlich; die erwähnten Schwierigkeiten in der Finanzierung der Ernte brachten weitere Verzögerungen; was den wichtigsten amerikanischen Ausfuhrartikel, die Baumwolle, anlangt, so waren die erstarkten Pflanzer-Vereinigungen anfangs besonders energisch bestrebt, die Ernte in ihren neuen Lagerhäusern, von denen sie allein in Texas in Jahresfrist etwa 150 errichtet hatten, zurückzuhalten. Man hatte sich aber auch, wenigstens in England, vorgesehen und größere Baumwollvorräte angesammelt, um nicht im Herbst unter allen Umständen kaufen zu brauchen. Alle diese Momente kamen zusammen, um in den Monaten Juli bis September die Ausfuhr der Vereinigten Staaten an Baumwolle von 861.000 Ballen in 1906 auf 582.000 in 1907 und die von Weizen von 21.178.000 Bushel in 1906 auf 17.563.000 in 1907 zu mindern. Je geringer aber die Ausfuhr ist und je weniger es gelingt, Finanzwechsel zu platzieren, um so schwächer muss der Zufluss von Gold nach Amerika sein. Er betrug in den Monaten September und Oktober 1906 58 ½ Millionen, 1907 nicht ganz 6 Millionen Dollar, und in den ersten zehn Monaten hatten die Vereinigten Staaten 1906 einen Einfuhrüberschuss an Gold in Höhe von fast 100 Millionen Dollar, 1907 dagegen einen Ausfuhrüberschuss von 18 Millionen Dollar aufzuweisen.

Es kam also dreierlei zusammen:

1. Eine ungewöhnlich große Nachfrage nach Barbeträgen aus den Erntegebieten im Westen und Süden.

2. Eine ungewöhnliche Minderung der verfügbaren Barbestände der Banken einerseits durch „Hoarding“, andererseits durch die gesetzlich vorgeschriebenen Reserven im Depositengeschäft.

3. Ein ungewöhnlich verringerter Zufluss von Gold aus Europa. Das alles spitzte die Situation außerordentlich zu; das alles war aber nicht von Dauer; das alles kann sich aber wiederholen in der Zukunft.

Denn wie dem Winter der Sommer, so folgt in den Vereinigten Staaten der Geldklemme des Herbstes (autumn stringency) die Geldfalle des Frühjahrs (spring boom). Sobald nämlich die Ernte finanziert ist, schrumpft die Nachfrage nach Zahlungsmitteln so zusammen, daß sie geringer wird als das Angebot, das ja unverändert bestehen bleibt. Dieses Überangebot drückt natürlich den Zins herab, oft bis auf 2% und 1 ½%, und da ein solcher niedriger Zins für längere Frist einzutreten pflegt, kommt er regelmäßig auch in steigenden Kursen der höher verzinslichen Wertpapiere zum Ausdruck. Diese steigenden Kurse in Verbindung mit der Billigkeit des Geldes üben erfahrungsgemäß einen starken, vielfach bedenklichen Anreiz zu Spekulationen aus.

Dass solcher Umschwung eintritt ist sicher; wann er eintritt, ist von dem Tempo der Erntebewegung vor allen Dingen abhängig. Einen gewissen Anhaltepunkt aber gewinnt man, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Bank von England 1907 am 17. Januar, 1908 am 16. Januar, in der Lage war, nach mehrmonatlichen Ausnahmesätzen zu einem 5% Diskontsatz wieder überzugehen. Es liegt also in den Verhältnissen die Notwendigkeit eines nicht fernen Endes der Geldkrisis, ebenso aber auch die Wahrscheinlichkeit ihrer Wiederkehr mit der Erntezeit begründet.

Ein derartiger Wechsel in den Geldmarktverhältnissen von einem Extrem zum anderen erscheint uns unerträglich, da die geographische Lage und der verhältnismäßig geringe Reichtum unseres Landes an Naturschätzen uns gelehrt haben, unser Wirtschaftsleben so sparsam und rationell wie möglich zu organisieren. Anders in den Vereinigten Staaten. In einem jungen Kolonisationslande wird vieles, was ein altes Kulturland als schweren Missstand empfindet, nicht nur als etwas Entschuldbares, sondern als etwas Natürliches und Selbstverständliches betrachtet, und der Reichtum des weiten Landes weckt nicht Sparsinn, sondern regste Spekulationslust. Im scharfen Gegensatz zu uns kann man sagen, daß — so manche individuellen Ausnahmen auch vorhanden sind — nicht Sparsamkeit, sondern Verschwendung — Verschwendung mit Rohstoffen, mit Kapital und mit Menschenleben — die Signatur des amerikanischen Wirtschaftslebens ist. Und wenn auch die Vereinigten Staaten heute, zum großen Teil unter der Einwirkung einer kraftvollen Persönlichkeit wie Roosevelt — aus der ersten Periode roher Erschließung herauswachsen und Gründerinteressen hinter Organisationsinteressen mehr zurückzutreten haben, — der Spekulationsgeist ist noch immer vorherrschend. Spekulation und Produktion haben aber ein durchaus verschiedenes Interesse an der Preisbildung: die Produktion ist interessiert an der Stabilität, die Spekulation am Wechsel der Preise.

Das Produktionsinteresse gewinnt bei amerikanischen Großkapitalisten die Vorherrschaft regelmäßig nur dann, wenn es dadurch auch einen gewissen spekulativen Charakter erhält, daß es sich um die zum mindesten teilweise Monopolisierung eines Marktes, wie z. B. beim Petroleum oder Tabak, handelt. Ist solche auch nur teilweise Monopolisierung wirtschaftlich oder politisch nicht möglich oder auch nur nicht ratsam, so dominiert, wie z. B. beim Kupfer, das Spekulationsinteresse, das stets darin besteht, billig zu kaufen und teuer zu verkaufen. Beides ermöglichen aber gerade die starken Schwankungen des Geldmarktes: im Frühjahr, wenn das billige Geld und die allgemeine Aufwärtsbewegung der Kurse die Kauflust in weiten Schichten der Bevölkerung reizen, werden die Wertpapiere zu hohen Kursen abgesetzt; im Herbst kauft man sie zurück, wenn alles nach Bargeld lechzt und die Kurse stark gedrückt sind. So ergibt sich eine Art Kreislauf, der regelmäßig und gewinnbringend sich vollzieht wie der Kreislauf der Jahreszeiten. Niemals waren die Chancen billigen Einkaufs so günstig wie im November und Dezember 1907, als Bargeld überhaupt nicht zu erlangen war, die Widerstandskraft so vielfach gelähmt war, die Kurse so tief standen wie nicht seit 1893. Die großen amerikanischen Kapitalmagnaten wären keine Amerikaner und keine Geschäftsmänner, wenn sie diese Gelegenheit nicht genutzt hätten. Nur einzelne Tatsachen können bisher festgestellt werden, wie die wichtige Verschmelzung der Tennessee Iron and Coal Company mit dem amerikanischen Stahltrust, wie die langerstrebte Vernichtung des hartnäckigsten und gefährlichsten Feindes des Amalgamated Copper Company, F. Augustus Heinze, wie die Beseitigung von Charles W. Morse, dessen Consolidated Steamship Company dem amerikanischen Schifffahrtstrust die so wichtige Ausdehnung an den Küsten Nordamerikas erschwerte. Aber die Lage lässt sich noch nicht klar genug übersehen, um genauer darauf einzugehen.

Zu dem bisher betrachteten Mangel in der Organisation des amerikanischen Zahlungswesens, dem folgenschweren Mangel an Elastizität, gesellt sich ein zweiter, der nicht minder bedeutsam ist: es fehlt in den Vereinigten Staaten der richtige Regulator des Zahlungswesens, den wir in der Diskontpolitik haben. Eine solche muss, um wirksam zu sein, von einer Zentralinstanz ausgehen. Wir besitzen sie in unserer Reichsbank. In den Vereinigten Staaten existiert sie — wie schon erwähnt wurde — nicht. Wohl hat eine Zentralnotenbank in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zweimal bestanden, aber beide Male ist sie an Spekulationen und politischen Schwierigkeiten zugrunde gegangen. Die schlechten Erfahrungen wirken noch nach. Auch verbietet die heftige Antitrustbewegung, zumal angesichts der Stimmungen der landwirtschaftlichen Kreise des Westens gegenüber dem kapitalkräftigen Osten, jede Zentralisierung des Bankwesens, die als eine Vertrustung gedeutet werden könnte. Solche Zentralisierung ist aber auch gesetzlich einstweilen ausgeschlossen. Denn die Verfassung der Vereinigten Staaten hat das Bankwesen, als Entschädigung für die Übertragung des Geldwesens auf die Union, den Einzelstaaten überlassen und außerdem ist die Errichtung von Filialen allen Banken gesetzlich verboten. So kommt es, daß das Land, das in seiner Industrie eine Zentralisation aufzuweisen hat wie kein anderes, ein Bankwesen besitzt, das in einem solchen Maße dezentralisiert ist, daß wir es uns kaum vorzustellen vermögen. Die Gesamtheit aller Banken — Nationalbanken, Einzelstaatbanken, Privatbanken, Trustgesellschaften und Sparkassen — wird, wie bereits erwähnt wurde, auf rund 24.000 angegeben. Allein an Noten ausgebenden Nationalbanken, die uns hier nur interessieren, waren am 1. September 1907 6.582 vorhanden, und alle stehen vollständig gleichberechtigt nebeneinander. In diesem bunten Wirrsal von Banken fehlt jede Einheit; das ist auch ein Grund, weswegen der Geldmarkt der Vereinigten Staaten, im Vergleich zu dem anderer Länder, so wenig übersichtlich ist; die macht aber vor allem jede zielbewusste Beeinflussung des Geldmarktes, insbesondere der Ein- und Ausfuhr von Gold unmöglich. Somit fehlt in der Organisation des amerikanischen Geldwesens eine hohe neutrale Warte, wie sie die Voraussetzung ist für jede wirksame Diskontpolitik. Es fehlt aber auch, wie wir schon wissen, eine noch elementarere Voraussetzung. Es gibt in den Vereinigten Staaten ans den dargelegten Gründen kein Diskontgeschäft wie bei uns. Ohne ein ähnliches Diskontgeschäft ist auch eine vergleichbare Diskontpolitik natürlich ausgeschlossen.

Wenn es aber in den Vereinigten Staaten kein dem unserigen vergleichbares Diskontgeschäft gibt, wie erhält man denn dort Geld für kurzfristige Anlagen? Die Börse ist es, welche wieder an die Stelle der Bank tritt und zwar ist es das Report- und Deportgeschäft der Börse, das in erster Linie einen Ersatz bietet für das Diskontgeschäft. Das verhält sich wie folgt.

Die größte Spekulationsbörse der Welt besitzt ja bekanntlich, wie wir in Deutschland immer wieder vergessen, kein Termingeschäft. In der Fondsbörse von Wallstreet gibt es nichts als Kassageschäfte. Aber natürlich kommen dort ebenso, wie bei anderen Börsen, nicht nur Spekulationen von einem Tag auf den anderen, sondern auch auf längere Frist vor. Solche Spekulationen auf längere Frist sind im Kassamarkt natürlich nur möglich durch Prolongationen; das Report- und Deportgeschäft spielt daher in Wallstreet eine große Rolle; viele tägliche Begulierungen während der Dauer der Spekulation treten an die Stelle einer Regulierung am Ende der Spekulation, etwa am Ultimo.

Solche tägliche Regulierungen bedeuten zunächst eine Minderung des Risikos; aber dieser Schutz, den sie gewähren, läßt sich auch im Terminmarkt durch ein gut ausgebildetes Einschußsssystem schaffen und ist dort auch tatsächlich fast allgemein in den Vereinigten Staaten geschaffen worden. Weit wichtiger ist heute, daß solche tägliche Regulierungen, der Eigenart des Amerikaners entsprechend, den spekulativen Charakter des Geschäfts ganz außerordentlich verstärken. Denn im Terminmarkt ist der Erfolg der Spekulation abhängig nur von der Preisgestaltung am Ende der Spekulation; die Preisveränderungen, die zwischen dem Abschluß und der Erfüllung des Geschäftes liegen, sind ohne Bedeutung. Bei einer Spekulation auf längere Frist im Kassamarkt ist dagegen die Spekulation abhängig von der Preisgestaltung während der ganzen Zeit vom Geschäftsabschluß bis zur Geschäftserfüllung. Doch auch dieser Effekt läßt im Terminmarkt durch das Einschusssystem sich erreichen.

Wenn das Kassageschäft in seiner Alleinherrschaft in Wallstreet so hartnäckig sich behauptet, so beruht das keineswegs allein auf seinen besonderen Eigenschaften. Eine äußere Macht ist ihm zu Hilfe gekommen. Der Gesetzgeber ist es in erster Linie, der den Kassamarkt aufrecht erhält, allerdings wohl unbeabsichtigt. Er hat nämlich im Staate Neuyork, in dem die Börse von Wallstreet ja gelegen ist, zum Schutz von Treu und Redlichkeit ein Wuchergesetz erlassen. Dieses Wuchergesetz bezieht sich auf alle befristete Darlehen, alles Geld ,,on time“. Für solche befristeten Darlehen verbietet es mehr als 6% Zinsen. Zu ihnen gehören aber nicht die Darlehen, die auf der Börse für Prolongationen von einem Tag zum anderen in der Form des Report- oder Deportgeschäftes gegeben werden. Das ist nicht „Geld auf Zeit“ (money on time), sondern ,,Geld auf Ruf“ (call money). Im „call money market“ von Wallstreet finden daher die Bestimmungen des Wuchergesetzes keine Anwendung. Hier ist bei der Zinsgestaltung dem Spiel der freien Kräfte kein Ziel gesetzt; die Grenze von 6% ist hier bedeutungslos; ungehemmt kann der Zins sich entwickeln; bis zu 125% ist er bekanntlich im Winter 1907/8 emporgestiegen. Diese wertvolle Freiheit der Entwicklung wird Wallstreet gewährt durch das Kassageschäft. Sie übt eine große Anziehungskraft auf alle für kurze Frist verfügbaren Kapitalien.

Der „call money market“ von Wallstreet ist es somit, auf dem Geld für kurzfristige Anlagen regelmäßig zu erhalten und anzulegen ist. Hier können die jederzeit fälligen Gelder der Banken liquide untergebracht werden. Insbesondere die Reservebeträge, die die Landbanken in Höhe von 3/5, die Stadtbanken der 40 Reservestädte in Höhe von ½ zu Hinterlegungen bei anderen Banken, wie dargelegt wurde, verwenden dürfen, werden regelmäßig zu solchen Börsenanlagen benutzt. Etwa 45% aller Anlagen der New Yorker Banken pflegen auf sie zu entfallen. So kann man sagen, daß hier im „call money market“ von Wallstreet alle für kurze Frist verfügbaren Barbestände nicht nur New Yorks, sondern zu einem nicht ganz geringen Teile des Landes zusammenströmen. Schmelzen sie zusammen, hier spürt man es zuerst und am stärksten; ziehen die Landbanken ihre deponierten Reservebeträge ein, so empfinden das nicht nur die östlichen Banken, sondern ebenso auch Wallstreet; wenn in Wallstreet die Kurse der Effekten stark sinken oder fallen, so übt das den weitgehendsten Einfluß alsbald auf das tägliche Geschäft der Banken aus, da die Effekten ja die Grundlage bilden für alle Gelder, die Wallstreet gewährt oder gewahrt erhält; und ist in Wallstreet kein Geld zu erhalten, so gerät das reguläre Bankgeschäft im Lande zu einem erheblichen Teil ins Stocken. So ist Wallstreet zur empfindlichsten Stelle im ganzen amerikanisohen Wirtschafteleben geworden und so kann man in gewisser Weise sagen, daß der Prolongationsmarkt von Wallstreet, als wichtigster Markt für kurzfristiges Leihkapital, an die Stelle unseres Diskontmarktes und der Zins für „call money“, als charakteristischster Ausdruck der Wirtschaftslage und Zukunftsaussicht, an die Stelle des Diskontsatzes tritt. So erklären sich auch die alten immer wiederholten Klagen, daß die Banken, zumal die Nationalbanken, mehr der Börsenspekulation, als der Produktion in Gewerbe und Landwirtschaft dienen. Weniger in der Organisation der Börse, als in der Organisation des Zahlungs- und Bankwesens ist es also begründet, dass die Börse so weit tiefer als bei uns in das Bankwesen und damit in das ganze Geschäftsleben des Landes eingreift; wer auf Kredit angewiesen ist, verfolgt bei uns in erster Linie den Status der Reichsbank, in den Vereinigten Staaten den Börsenbericht vom „call money market“ in Wallstreet; da die Börse aber in Amerika eine Herrschaftsstellung von weit tiefergehendem Einfluß besitzt, so hat sie auch, der Grund-Charakteranlage des Amerikaners entsprechend, den nervös-erregten, zu Übertreibungen geneigten und vor keinem Mittel zuruckscheuenden Börsengeist eine Verbreitung gewinnen lassen, wie sonst in keinem anderen Volke.

Auch hier an der Börse, wie beim Depositengeschäft, setzen deshalb begreiflicherweise die Reformbestrebungen, die die Geldkrisis hervorgerufen hat, ein. Der Präsident hat in seiner Botschaft vom 81. Januar 1908 eine scharfe Regelung des Börsenverkehrs besonders dringlich gefordert und seitdem auch durch besonderen Erlaß die große neue Enquête-Behörde, das Bureau of Corporations, beauftragt, eine eingehende Untersuchung über die Tätigkeit der Börse in Wallstreet zu veranstalten. Auch hat ein Vertrauensmann des Präsidenten, das Mitglied des Repräsentantenhauses, Hepburn, der bereits der scharf eingreifenden neuen Eisenbahngesetzgebung seinen Namen gegeben hat, einen Gesetzentwurf eingebracht, der alle Geschäfte an Fondsbörsen mit 50 c für jede Aktie im Nennwerte von 100 Dollar besteuern will. Wird diese Vorlage auch nicht Gesetz werden, sie ist charakteristisch für die Reformstimmung, und diese wird nicht, so bald wieder vorübergehen. Denn je mehr die gewerbliche Produktion sich entwickelt und aus der ersten Gründerperiode herauswächst, um so dringender wird die Aufgabe, ihr Ruhe zur Ausreifung dadurch zu gewähren, daß man sie von der Spekulation emanzipiert und ihr vor dieser den Vorrang sichert

Wir haben dargelegt, daß, wie Liquidität im amerikanischen Bankwesen, so Elastizität und das wichtige Regulierungsmittel der Diskontpolitik im amerikanischen Zahlungswesen fehlen. Nirgends aber sind Elastizität, Liquidität und Geldmarktsregulierung so wichtig, ja unentbehrlich, wie im leicht erregbaren, spekulationslustigen amerikanischen Volk mit dem stetigen starken Auf und Ab seines Wirtschaftslebens.

Für das, was die Organisation nicht bietet, muss daher künstlich und nachträglich Ersatz geschaffen werden. Man muss einerseits durch äußere Eingriffe die Barmittel im Inland besser flüssig machen und dadurch zugleich die Liquidität der Banken vergrößern, und man muß andererseits Barmittel aus dem Ausland beschaffen.

Man sucht im Inland zunächst von privater Seite Abhilfe zu schaffen, und zwar auf doppelte Art, Erstens durch die lokalen Organisationen der Banken. Überall, wo ein Clearing House existiert, ist eine solche Organisation dauernden Charakters vorhanden. Die wichtigste ist die Clearing House Association von New York, die allerdings, wie wir schon wissen, nicht alle New Yorker Banken umfasst Nach ihrem Vorbild sind ähnliche Vereinigungen in fast allen größeren und mittleren Städten der Vereinigten Staaten geschaffen worden, und wo das nicht der Fall ist, sind vielfach während der Krisis Organisationen vorübergehender Art zum besonderen Zweck ins Leben gerufen worden.

Alle diese Banken - Organisationen haben nun zu helfen gesucht durch Ausstellung sogenannter „Clearing House Loan Certificates“. Das sind von der Clearing House Association den ihr angehörigen Banken ausgestellte Zahlungsmittel privater Art, die vom Empfänger verzinst werden müssen — in Neuyork mit dem höchsten, für längere Fristen zulässigen Zins von 6% — damit sie zurückgegeben werden, sobald sie entbehrt werden können. Solche „Zertifikate“ stellt die Banken -Organisation unter ihrer Garantie einer Bank nur aus, wenn ihr genügend Sicherheit geboten wird. Sie verlangt deshalb zunächst äußerlich die Hinterlegung ausreichender „securities“. Das können Effekten, aber auch Wechsel sein; darüber, was „ausreichend“ ist, entscheidet in jedem einzelnen Fall die Vereinigung oder vielmehr die von ihr eingesetzte Kommission. Die Ausstellung der „Zertifikate“ erfolgt regelmäßig zu 75% des Kurswertes der „securities“. Die Maßregel stellt sich also dar als eine künstliche Mobilisierung illiquider Anlagen.

Die Clearing House Association begnügt sich aber keineswegs mit solcher äußeren Sicherung. Sie verlangt auch den Nachweis, daß die Aktiva die Passiva übersteigen und nur ein Mangel an flüssigen Barmitteln vorhanden ist, also daß höchstens Zahlungseinstellung, nicht Zahlungsunfähigkeit vorliegt Auch hierüber hat nur sie zu entscheiden. Aber sie braucht sich nicht zu begnügen mit der Gegenwart, sondern kann noch weitere Garantie für die Zukunft verlangen. Sie kann z. B. die Ausstellung solcher „Zertifikate“, die vielleicht für die Existenz der Bank entscheidend ist, abhängig machen von der Entlassung eines Direktors, zu dem sie kein Vertrauen hat. Das ist in New York z. B. bei den Banken von F. Augustus Heinze, Charles W. Morse und den Gebrüdern Thomas geschehen. Es ist also eine große Macht in den Händen der Banken-Organisation vereinigt. Wird sie in der Weise genutzt, daß der finanzielle Gesundungsprozeß, der sonst in der Form von Zusammenbrüchen sich vollziehen müßte, gewissermaßen nur gemildert wird, so wird sie genutzt — gleichsam in Vertretung des Schicksals — zum Heile der Gesamtheit. Daß eine Nutzung auch im persönlichen Interesse Einzelner geschehen kann, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Inwieweit das eine oder das andere der Fall ist, hängt ganz von den jeweilig leitenden Persönlichkeiten ab; Garantien sind in der Organisation nicht vorhanden.

Solche „Zertifikate“, auf deren Ausstellung ein Recht also nicht geltend gemacht werden kann, schaffen eine doppelte Erleichterung. Sie dienen einmal im Verkehr der Banken untereinander als Zahlungsmittel und machen dadurch die gesetzlichen Zahlungsmittel, die bisher für diesen Bankenverkehr festgehalten wurden, für den allgemeinen Verkehr verfügbar. Indem sie so die Barmittel der Banken besser flüssig machen, erfüllen sie in gewissem Grade, was bei uns leichter und ergiebiger durch Rediskontierungen bei der Reichsbank erreicht wird. Indem sie alle Barzahlungen zwischen Banken beseitigen, erschweren sie es der einzelnen Bank aber auch, einen für ihre Verpflichtungen unzulänglichen Bestand an Barmitteln zu verstärken; sie treiben damit zur Einstellung der Barzahlungen auch dem Publikum gegenüber.

Die Hauptbedeutung dieser „Zertifikate“ liegt aber auf psychologischem Gebiet. Sie sind Beruhigungsdokumente wichtigster Art. Denn die Bank, die Zertifikate ausgestellt erhält, ist von berufenster Seite auf Grund sorgfaltiger Prüfung als kreditwürdg anerkannt worden. Da es für sie festgestellt ist, daß sie ihren Verpflichtungen, wenn auch vielleicht nicht im Augenblick, so doch im Laufe der Zeit wird genügen können, so fällt der wichtigste Anlaß zum „Run“ fort und wird eine Schließung der Kassen eher als Schutzmaßregel, denn als Vorzeichen des Zusammenbruchs aufgefaßt

Solche „Clearing House Loan Certificates“ sind nun nichts neues. 1860 sind sie zuerst aufgekommen. Seitdem sind sie achtmal in New York ausgestellt worden, und auch in anderen Städten waren sie nicht unbekannt Aber ihre Verwendung in der letzten Geldkrisis hat Besonderheiten aufzuweisen. In früheren Fällen war sie noch beschränkt geblieben. Jetzt nimmt sie eine Ausdehnung an, wie nie zuvor. In New York waren 1873 für 26 1/2, 1893 für 41 ½ Millionen Dollar solche „Zertifikaten“ ausgestellt worden; jetzt wird die Genehmigung für die Ausgabe von 97 Millionen Dollar erteilt, von der allerdings nicht in vollem Umfang Gebrauch gemacht wird. 1893 blieb diese Maßnahme noch auf neun Städte beschränkt und überstieg der Gesamtbetrag aller ausstehenden „Zertifikate“ nicht 63 Millionen Dollar; dieses Mal sind in fast allen Städten von irgendwelcher Bedeutung — angeblich über 100 an der Zahl — solche „Zertifikate“ zur Ausstellung gelangt; für das ganze Land haben sie zum erstenmal Bedeutung gewonnen; von einer lokalen sind sie zu einer nationalen Maßregel geworden.

Gleichzeitig sind die alten sachlichen Grenzen der Verwendung vielfach überschritten worden. In New York allerdings hat man die alte Beschränkung auf den Verkehr der Banken untereinander aufrecht erhalten; dort sind sie demgemäß auch nur ausgestellt worden für Beträge von mindestens 5.000 Dollar. Aber im Westen, z. B. in Chicago, hat man gleiche Schranken sich nicht auferlegt Auch in kleinen Stücken von 1 bis 5 Dollar sind sie dort in großen Mengen, wie früher schon ganz vereinzelt, ausgestellt und für das große Publikum verwendet worden; sind sie auch kein gesetzliches Zahlungsmittel und kann daher ihre Annahme auch nicht erzwungen werden, so gelten sie doch, weil die Gesamtheit der Banken hinter ihnen steht, als sicher und sind jedenfalls besser als private Schecks.

Unzweifelhaft ist auf diese Weise manche Abhilfe geschafft worden. Aber sie reichte nicht aus. Fanden sich solche „Zertifikat“ auch in allen Teilen des Landes, jedes einzelne von ihnen hatte doch nur lokale Bedeutung. Für interlokale Zahlungen, wie sie im weiten Lande, zumal zur Zeit der Ernte, so wichtig sind, waren sie nicht zu gebrauchen. Ein gegenseitiger Austausch von „Zertifikaten“ ist zwar von Banken im Innern in Vorschlag gebracht worden, doch scheint die New Yorker Organisation auf eine so weittragende Neuerung sich nicht eingelassen zu haben. Vor allem aber schufen diese „Zertifikate“ der Börse wenig Erleichterung; und doch war auf diesem Hauptmarkt für kurzfristige Kapitalleihe, wie wir schon wissen, die Nachfrage nach Bargeld am dringendsten, das Bedürfnis nach Hilfe am größten.

Noch drei Tage, ehe das New Yorker Clearing House zur Ausstellung von „Zertifikaten“ sich entschloß, suchte man helfend daher hier einzugreifen. J. Pierpont Morgan, der als größter Trustorganisator von allen Amerikanern wohl das stärkste und begründetste Interesse an der Kursgestaltung auf dem Effektenmarkte hatte, organisierte bekanntlich aus den führenden Finanzmännern New Yorks einen Rettungsausschuß. Dieser brachte alsbald aus seinen verfügbaren Barreserven 25 Mill. Dollar auf, wozu John D. Rockefeller 5 Millionen Dollar beitrug und weitere 5 Mill. Doll. für den Bedarfsfall zusagte. Es ist nun für das amerikanische Wirtschaftsleben sehr bezeichnend, daß diese ganze Hilfsaktion sich auf die Börse richtete. Die 25 Mill. Dollar wurden am 24. Oktober 1907 dem „call money market“ von Wallstreet zur Verfügung gestellt, natürlich nicht umsonst, sondern zu Zinssätzen, die zwischen 50% und 10% schwankten.

Das war die wirksamste Hilfe, die im Inland von privater Seite geschafft wurde. Vorübergehend war sie auch von Erfolg, hatte doch Wallstreet am Tage zuvor, nachdem die Bank von Montreal 200.000 Dollar zu 125% ohne Schwierigkeit untergebracht hatte, überhaupt kein Angebot von Bargeld mehr bekommen können. Aber eine Abhilfe von Dauer war auch das nicht.

Naturgemäß richtete sich der Blick für eine solche auf das Ausland. Vom Ausland, mit dem man ja im Zahlungswesen seit der Durchführung der Goldwährung im Jahre 1900 in ganz anderer Verbindung stand, als bisher, suchte man Barmittel heranzuziehen, um die im Inland hervorgetretene Lücke auszufüllen. Und nicht nur auf der atlantischen Seite von Europa her, sondern auch auf pazifischer Seite, insbesondere von Australien her, ist solche Goldbeschaffung in den Vereinigten Staaten möglich. Auch solche Goldeinfuhr an der pazifischen Küste ist für Europa nicht ohne Bedeutung, denn sie mindert die Zufuhren für den Londoner Goldmarkt. Sie scheint dieses Mal, im Vergleich mit dem Vorjahr, aber auffallend gering gewesen zu sein.

Ziffernmäßig wie sachlich interessiert uns daher in erster Linie die Goldbeschaffung aus Europa. Sie hat sich im letzten Winter keineswegs auf New York beschränkt, sondern auch von Chicago, St Louis und New Orleans, ja selbst Plätzen der pazifischen Küste, wie San Franzisko und Portland, stattgefunden. Sie erfolgte zum Teil in der Weise, daß Gold auf dem offenen Markt in London für amerikanische Rechnung gekauft wurde. Hier setzte die Nachfrage aus den Vereinigten Staaten plötzlich am 28. Oktober 1907 ein und trieb den Goldpreis von 77 s 9 d auf 78 s 0 d und hielt ihn auf dieser ungewöhnlichen Höhe, so lange sie dauerte, bis zum Schluß des Jahres fest. So wurde im November alles Gold, das aus den Goldproduktionsländern auf den Londoner Markt gebracht wurde — angeblich in Höhe von 2 ½ Mill. Pfd. Sterling — von amerikanischer Seite aufgekauft und auch das Gold, das gleichzeitig vom europäischen Kontinent, und zwar überwiegend von Deutschland nach London strömte, wurde zum Teil für Amerika mit Beschlag belegt, ehe es zur Bank von England gelangte. Natürlich wurde in der Höhe dieser direkten Ankäufe der Goldzufluß der englischen Zentralnotenbank gemindert, so daß also auch diese Art der amerikanischen Goldbeschaffung nicht ohne Einfluß auf den europäischen Geldmarkt blieb.

Doch die auf dem offenen Markt zu erlangenden Goldmengen genügten den Amerikanern nicht. Der Hauptbetrag mußte doch den Goldvorräten der englischen Banken, die bekanntlich bei der Bank von England größtenteils sich ansammeln, entnommen werden. Die Bank von England verzeichnete im November eine Goldausfuhr in der ungewöhnlichen Höhe von 10.215.000 Pfd. Sterling, wovon 5.289.000 Pfd. Sterling in Goldbarren, 3.873.090 Pfd. Sterling in amerikanischen Goldmünzen nach den Vereinigten Staaten flossen. Ein sehr großer Teil dieser Goldausfuhr nach Amerika drängte sich in die Woche vom 6. bis 13. November 1907 zusammen, in der Goldbewegungen vorkamen, wie niemals zuvor in einer Woche.

Diese Goldbeschaffung aus dem freien Verkehr und aus den Bankvorräten kleidet sich in mannigfache geschäftliche Formen. Sie kann als selbständige Forderung allein für sich auftreten; sie kann aber auch als finanzielle Konsequenz anderer internationaler Wirtschaftsvorgänge, als Glied eines größeren Ganzen, sich darstellen. Ist ein solcher Zusammenhang mit anderweitig entstandenen Goldforderungen nicht vorhanden, so muß der Goldausfuhr einst ein Rückfluß des Goldes nach Europa entsprechen. Das ist neben dem Nachlassen der Nachfrage nach Zahlungsmitteln nach Finanzierung der Ernte der Grund, weswegen im Sommer mit dem Zurückströmen des Geldes aus dem Westen und Süden regelmäßig eine Ausfuhr von Gold aus den Vereinigten Staaten einsetzt; im Juni und Juli 1907 belief sie sich auf 31.340.506 Dollar. Solches Hin- und Herfluten des Goldes über den Atlantischen Ozean liegt zwar, infolge der mangelhaften Organisation ihres Zahlungswesens, im Interesse der Vereinigten Staaten; sie können nicht nur auch diese Art der Verschwendung sich gestatten, sondern sind geradezu darauf angewiesen. Europa aber hat das ausgesprochenste Interesse daran, auch im internationalen Zahlungswesen alle überflüssigen Bargeldtransporte zu ersparen, nicht nur wegen des Risikos und der Kosten, sondern vor allem wegen der Störungen, die dadurch im nationalen Zahlungswesen hervorgerufen werden. Wenn im letzten Jahre der Akzeptkredit von europäischen Bankhäusern den Amerikanern erschwert wurde, so liegt der letzte Grund in diesen weltwirtschaftlich überflüssigen Goldsendungen; es ist ein zum größten Teil unbewußtes Reagieren gegen die mit ihnen verbundenen Störungen. Jede Goldbeschaffung nur vorübergehender Art, der ein baldiges Rückströmen des Goldes entspricht, kann als ein Zeichen, daß im Zahlungs- oder Kreditwesen etwas nicht ist, wie es sein sollte, bezeichnet werden.

Eine Goldbeschaffung dauernden Charakters ist dann gegeben, wenn sie auf anderweitig entstandene Forderungen sich stützt. Diese können mannigfacher Art sein. Sie können aus der Vergangenheit überkommen sein: Guthaben werden eingezogen, mit dem eingeführten Gold bezahlt Sie können aus gleichzeitigen Verkäufen entstehen, sei es von Waren, die zur Volksernährung oder Güterproduktion nicht entbehrt werden können, sei es von Effekten, deren niedriger Kursstand ausländische Käufer anlockt. Sie können sich aber auch auf die Zukunft beziehen, indem der Kaufpreis für später erfolgende Warensendungen vorweggenommen wird. Noch im Jahre 1906 spielten solche den Warenverkäufen oder wenigstens den Warensendungen vorauseilende Wechsel die vielleicht entscheidende Rolle. Aus den früher dargelegten Gründen traten sie 1907 stark zurück. Auch dürfte das allgemeine Mißtrauen, wenigstens zu Anfang der Geldkrisis, den Verkauf amerikanischer Effekten trotz ihres außerordentlich niedrigen Kursstandes in engeren Grenzen gehalten haben. So traten dieses Mal die Einziehung älterer Guthaben und die Forcierung gleichzeitiger Warensendungen, zum mindesten anfangs, in den Vordergrund. Was die Warenausfuhr, für die allein zuverlässige Zahlen vorliegen, anlangt, so zeigt sich das am stärksten beim Weizen. In den drei Monaten Juli bis September 1907 war seine Ausfuhr um 3 ½ Mill. Bushel hinter 1906 zurückgeblieben; im Oktober und November übertraf sie das Vorjahr, trotz erheblich geringerer Ernte, um 8 ½ Mill. Bushel oder dem Werte nach um mindestens 12 Mill. Dollar.

Die Bezahlung amerikanischer Waren und Effekten, sowie die Rückzahlung amerikanischer Guthaben stieß Ende 1907 aber auf besondere Schwierigkeiten. Denn in New York hatte die Einstellung der Barzahlungen auch den Wechselverkehr zum Stillstand gebracht; Notierungen sämtlicher Auslandswechsel, selbst des Gable-Transfer-Kurses auf London, sind tagelang überhaupt nicht zustande gekommen, und in London rächte sich jetzt gewissermaßen die ablehnende Haltung, die man in den voraufgehenden Monaten den amerikanischen Finanzwechseln gegenüber eingenommen hatte; es fehlte an Wechselmaterial für Amerika. Deshalb blieb nichts anderes übrig, als die Zahlungen in Gold zu leisten. Teilweise wurden auch Einkäufer mit erheblichen Barmitteln nach den Vereinigten Staaten entsandt — z. B. im Tabakgeschäft — um an Ort und Stelle möglichst günstige Ankäufe zu machen.

So wirkten schon von privater Seite eine Reihe von Umständen zusammen, um einen starken amerikanischen Ansturm auf die Goldvorräte Europas und in erster Linie Englands entstehen zu lassen.

Alle bisher beleuchteten Abhilfeversuche privater Art nämlich, ob sie von den Bankenvereinigungen ausgingen oder auf die Börse sich bezogen oder auf das Ausland sich erstreckten, hatten sich als nicht ausreichend erwiesen. Es mußte daher schließlich rettend als Deus ex machina im Lande der self-made-men erscheinen — die Regierung. Sie griff in einer Weise und in einem Maße, wie kein anderes Land Ähnliches kennt, ein. Ist die Tatsache solchen Eingreifens schon erstaunlich, so noch mehr die Art, wie es aufgenommen wurde. Man sah in ihm in breiten Kreisen des Volkes nicht einmal etwas Außerordentliches, erblickte darin vielmehr im wesentlichen nur die Erfüllung staatlicher Pflichten und rechnete damit in weitgehendem Maße. Nichts hat deutlicher vielleicht dargetan, wie stark sich die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren vom alten individualistischen Grundsatz der Nichteinmischung des Staats in das Wirtschaftsleben entfernt und staatssozialistische Bahnen beschritten haben.

Das Rettungsmittel, mit dem der Staat erschien, heißt: temporary deposits of the Treasury. Es besteht also darin, daß der Staat seine Barmittel den privaten Banken dadurch zur Verfügung stellt, daß er sie bei ihnen, zum Teil zu den bei Privatleuten üblichen Bedingungen, d. h. vor allem gegen eine Verzinsung von 2%, zum Teil aber auch in für die Banken noch vorteilhafterer Weise hinterlegt.

Das ist prinzipiell nichts Neues. Solche zeitweise Hinterlegungen hat die Regierung seit langer Zeit vornehmen können. Aber bisher standen ihr zu diesem Zweck nur die Einnahmen aus den Steuern, nicht auch die aus den Zöllen zur Verfügung. Bisher wurden ferner die Regierungsgelder nur den Banken überwiesen gegen Hinterlegung von Bonds der Vereinigten Staaten, was kaum als eine Hilfe anzusehen war, da diese Bonds ja schwer zu bekommen waren und auch zur Ausgabe von Banknoten hätten benutzt werden können. Endlich hatte man bisher die Reservevorschriften für Depositen auch auf hinterlegte Regierungsgelder erstreckt. Das alles ist anders geworden in jüngster Zeit.

Die erste Änderung ist vom amerikanischen Schatzsekretär Leslie Shaw vorgenommen worden. Nicht ohne einige Eigenmächtigkeit streifte er eine Reihe von hemmenden Fesseln ab. Obwohl es kaum zweifelhaft war, daß mit der gesetzlichen Vorschrift, die Regierungsdepositen müßten „by the deposit of United States bonds and otherwise“ gesichert sein, eine Zusatzsicherung neben Bonds gemeint war, ließ Shaw — das „und“ gleich „oder“ deutend — auch andere als bundesstaatliche Schuldverschreibungen zur Sicherung zu. Auch wurden durch ihn die Vorschriften über Barreserven als nicht anwendbar auf Regierungsdepositen erklärt. Erst dadurch hatte der Schatzsekretär sich freie Hand zu helfenden Eingriffen geschaffen. Jetzt konnte er die verfügbaren Barmittel der Regierung zu den für Depositen allgemein üblichen Bedingungen den Banken zur Verfügung stellen. Er tat das z. B. im Herbst 1906 mit 26 Mill. Dollar, und zwar wurden von dieser Gesamtsumme je 2 Millionen New York und Chicago, je 2 Millionen Boston, Philadelphia, St Louis und New Orleans, je 1 Million Baltimore, Louisville, Kansas City, Cleveland und Cincinnati, je etwa ½ Million 15 anderen Städten überwiesen. Weit wichtiger aber war, wie der Schatzsekretär sodann seine Macht zweimal nutzte, um auf die internationale Goldbewegung einen tiefgreifenden Einfluß auszuüben. Vor allem im Herbst 1906 stellte er seine Mittel den New Yorker Banken unter Vorzugsbedingungen zu dem ausdrücklichen Zweck der Goldeinfuhr zur Verfügung, und es gelang ihm, 50 Mill. Dollar Gold aus dem Ausland, ohne Kosten für die Regierung, zu beschaffen. Dieses Vorgehen war so erfolgreich, daß Shaw in seinem amtlichen Bericht, fast triumphierend, sagen konnte: No Central or Government Bank in the World can so readily influence financial conditions throughout the World as can the Secretary of the Treasury under the authority with which he is now clothed.

Waren durch Shaw auch die wichtigsten Hindernisse hinweggeräumt worden, eines war doch geblieben. Es durften bisher nicht alle Einnahmen der Regierung zu solcher Hilfsaktion verwendet werden. Die Einkünfte ans den Zöllen waren davon, wie bereits erwähnt wurde, ausgenommen. Sie waren aber regelmäßig größer als die aus den inneren Steuern; 1907 betrugen jene z. B. 312 Mill. Dollar, diese 266 Mill. Dollar. Wer ein helfendes Eingreifen der Regierung für berechtigt und wünschenswert hielt, mußte solche Beschränkung zu beseitigen trachten. Das konnte aber nicht im Verwaltungswege, sondern nur durch Gesetz geschehen. Diese letzte noch vorhandene Schranke zu beseitigen, war denn auch das Hauptbestreben der alsbald einsetzenden Reformgesetzgebung. Das Aldrich-Gesetz vom 4. März 1907 machte für die Regierungshinterlegungen bei den Banken auch die Zolleinkünfte verfügbar.

So war im Jahre 1907 zum erstenmal die ganze Finanzkraft der Regierung nutzbar. Mit vorausschauender Vorsicht beschloß Shaws Nachfolger, Corteljou, bereits am 23. August, zur Erleichterung der Ernte allwöchentlich regelmäßige Hinterlegungen von Regierungsgeldern in den Banken vor allem der Erntegebiete vorzunehmen. Es wurden demnach, zunächst bedächtig und allmählich, 26 Mill. Dollar verteilt. Als dann aber doch die Krisis ausbrach, wurden in vier Tagen nicht weniger als 35 Mill. Dollar den Banken zur Verfügung gestellt Am 11. November waren im ganzen Lande 226.836.237 Dollar der Bundesregierung hinterlegt bei den Banken. Ist auch nicht, wie im Vorjahr, amtlich mitgeteilt worden, daß die Regierungsgelder großenteils zur Erleichterung der Goldeinfuhr den Banken gegeben waren, so stand doch tatsächlich nichts im Wege, einen Teil der Regierungsgelder zu diesem Zweck wieder zu verwenden.

Aber auch die Überweisung aller Barmittel der Regierung reichte noch nicht aus, der Krisis Halt zu gebieten. Es wurde deshalb am 18. November, ohne vorherige Befragung des Kongresses, verkündet, es sollten auf Grund des Gesetzes über den Bau des Panamakanals, obwohl dieser einen Anlass dazu kaum bot, 50 Mill. Dollar 2% Panamakanal-Bonds und auf Grund eines nie angewandten, verschollenen, doch noch nicht aufgehobenen Gesetzes aus dem Kriege mit Spanien 100 Mill. Dollar 3% kurzfristige Schatzanweisungen auf ein Jahr ausgegeben werden. Damit verfolgte man einen mehrfachen Zweck. Man wollte einmal durch dieses Anbieten von Staatspapieren bisher versteckt gehaltenes Geld zu sicherer Anlage wieder hervorlocken, wie ein gleichzeitig veröffentlichter Brief des Präsidenten Roosevelt gegen das „Hoarding“ deutlich zeigte. Man wollte sodann einen Druck auf den Kurs der Bonds ausüben und es ermöglichen, die nötigen Unterlagen für eine Vergrößerung des Notenumlaufs zu annehmbaren Bedingungen zu erlangen. Auch wollte man wohl neue Barmittel für weitere Hinterlegungen und vielleicht zum Teil auch für eigene Ausgaben sich beschaffen. Es wird außerdem noch behauptet, das Schatzamt habe bei der Ausgabe dieser Bonds, insbesondere der kurzfristigen Schuldverschreibungen, auch an die Bank von Frankreich gedacht, die gewillt war, nur gegen volle Sicherung durch den Staat Gold in größeren Beträgen herzugeben.

Mag die Absicht auf das eine oder das andere oder auf alles zugleich gerichtet gewesen sein, sie ist jedenfalls nicht erreicht worden. Die Bank von Frankreich dachte nicht daran, die neue amerikanische Emission zu übernehmen, und im Inland erhob sich gegen sie alsbald eine starke Opposition. Denn eine Unterbringung der neuen Staatspapiere im Inland konnte nur den Erfolg haben, den Notenumlauf zu vergrößern. Daß aber einer solchen starken Vermehrung der Zahlungsmittel in der Zeit der sommerlichen Geldfalle eine mindestens gleiche Verminderung entspreche, war wenig wahrscheinlich. Geschah das aber nicht, dann mußte die Gefahr entstehen, daß im Sommer das Greshamsche Gesetz in Kraft trete, wonach schlechtes Geld besseres Geld, in diesem Fall papiernes metallnes, verdränge. Die sommerliche Goldausfuhr mußte dann also wachsen und die herbstliche Geldklemme entsprechend der Verringerung des Goldvorrats sich steigern, zumal da die 100 Mill. Dollar kurzfristige Schatzanweisungen zum 20. November 1908 zurückgezogen werden sollten.

Aus solchen nicht unberechtigten Gründen wuchs die Opposition so stark, daß der neue Plan nicht voll zur Durchführung gelangte. Von den Panama-Bonds wurden nur 24.631.000 Dollar, von den kurzfristigen Schatzanweisungen nur 15.436.000 Dollar untergebracht Die weitere Emission stellte die Regierung dann ein. Wenn auch das Vollbringen das Wollen nicht erreichte, die bemerkenswerte Tatsache bleibt doch bestehen, daß die amerikanische Bundesregierung nicht nur die Barmittel der Privatbanken durch Hinterlegungen in der Höhe von fast einer Milliarde Mark verstärkt hat, sondern außerdem auch noch durch Ausgabe von Staatsschuldverschreibungen in Höhe von reichlich 600 Mill. Mark ihnen helfend beizuspringen bereit war. Die geplante Hilfsaktion der Regierung bezifferte sich also auf mehr als 1 ½ Milliarde Mark.

Die Mitwirkung der Regierung steigerte den Ansturm auf die europäischen Goldvorräte. Bisher stand hinter ihm nur das amerikanische Privatkapital, jetzt die Finanzkraft des ganzen Landes, bisher nur das in den Zielen wechselnde Gewinnstreben Einzelner, jetzt der konsequente nationale Wille des organisierten Volkes. Hatte das Vorgehen schon bisher etwas Gewaltsames und Unberechenbares, weil es zurückging auf Kapitalmächte von einer geschlossenen Konzentration und rücksichtslosen Energie, wie man zuvor nicht gekannt hatte, so wird dieser Charakter des Willkürlichen durch das Eingreifen der Begierung nur noch gesteigert. Denn die ganze staatliche Hilfsaktion, die an sich schon zu den in Europa durchgeführten Grundsätzen in bezug auf das Verhältnis zwischen Regierungsfinanzen und privaten Bankgeschäften in so mannigfachem Gegensatz steht, ist abhängig vom subjektiven Ermessen eines Mannes: der jeweilige Schatzsekretär der Vereinigten Staaten bestimmt ihren Umfang und ihre Art der Ausführung im Einzelnen, welche Städte und welche Banken berücksichtigt, welche Papiere als ausreichende Sicherheit betrachtet, welche sonstigen Bedingungen gestellt und Vergünstigungen eingeräumt werden sollen. Im Zahlungswesen keines anderen Kulturlandes ist solche Macht in der Hand eines Mannes vereinigt, und nirgends ist solche übergroße Macht vielleicht so gefahrlich wie in den Vereinigten Staaten. Ist das bedenkliche Experiment dieses Mal auch anscheinend gelungen, so sagt das noch nicht viel für die Zukunft; es spricht mehr für die Person, als für die Einrichtung. In einem demokratischen Staate, in dem alle leitenden Personen in den kurzen Fristen weniger Jahre wechseln, fehlt es an jeder Garantie, daß immer so zuverlässige und einsichtsvolle Männer diesen einflußreichsten Posten im amerikanischen Zahlungswesen einnehmen. Ein unberechenbares Moment bleibt so in der Geldpolitik der Vereinigten Staaten. Schon das hat etwas Beunruhigendes für Europa. Es macht den Ansturm unabhängig von jedem Stande der Wechselkurse und trägt viel dazu bei, ihm die charakteristische Plötzlichkeit und Gewaltsamkeit zu verleihen.

Dies ist aber vom europäischen Standpunkt aus um so bedenklicher, als natürliche Schranken für diese Art der Goldbeschaffung überhaupt kaum vorhanden sind. Das gilt schon fast von ihrem Umfang, wenn man bedenkt, daß die vom Staate im ganzen angebotenen Mittel größer waren, als der gleichzeitige Goldbestand der Bank von England und der deutschen Reichsbank zusammen, ungefähr viermal so groß, wie die tatsächliche Goldausfuhr aus Europa. Das gilt aber vor allem von den Diskontsätzen; für ihre Steigerung sind Grenzen kaum zu erkennen, weil das hohe Bargeldagio und die bis zu 125% ansteigenden Zinssätze für tägliches Geld in New York eine Verwertung des beschafiften Geldes zu höheren Sätzen, als in Europa zu zahlen sind, regelmäßig noch ermöglichen.

Daß die Hilfsmaßregeln der amerikanischen Regierung somit leicht Unheil in Europa stiften können, hat Schatzsekretär Shaw selbst, zur Vorsicht mahnend, deutlich ausgesprochen (lest, while protecting cur own interests, we cause distress elsewhere). Aber selbst wenn solche angeratene Vorsicht, wie es 1907 die ernste Absicht gewesen zu sein scheint, geübt wird, es werden doch die europäischen Zentralnotenbanken, voran diejenigen der beiden Länder, mit denen die Vereinigten Staaten im regsten Verkehr stehen, infolge der Mängel in der Organisation des amerikanischen Zahlungswesens und infolge der zu ihrer Milderung ergriffenen privaten und staatlichen Maßnahmen in eine höchst missliche Lage gebracht

Die Bank von England sah z. B. in der letzten Oktober- und ersten Novemberwoche 1907 ihre Reserve von 24.019.000 Pfd. Sterling auf 17.695.000 Pfd. Sterling, ihren Barvorrat von 34.773.000 Pfd. Sterling auf 28.725.000 Pfd. Sterling, ihre Deckung von 47 ¼% auf 35 ¼% herabsinken. Das war natürlich auch für unsere Reichsbank von größter Bedeutung, zumal da sie bereits aus inländischen Gründen zum Quartalswechsel, mit einem Notenumlauf von 1825 Mill. Mark und 609 Mill. Mark sonstigen täglich fälligen Verbindlichkeiten gegenüber einem Metallbestand von nur 737 Mill. Mark, Spannungsverhältnisse ganz ungewöhnlicher Art aufzuweisen hatte. Trat bei der Reichsbank auch nicht eine entsprechende unmittelbare Einwirkung hervor, so mußte doch die Einwirkung auf die Bank von England auch auf sie zurückwirken. Es ist deshalb begreiflich, daß die europäischen Zentralnotenbanken, die Bank von England und die Reichsbank voran, dem amerikanischen Ansturm gegenüber sich zur Wehr setzen, um ihre Goldvorräte und das auf sie aufgebaute Kreditsystem des Landes zu schützen. Sie tun das bekanntlich in erster Linie, indem sie ihre Diskontsätze erhöhen.

Schon im Jahre 1906 wurde das nötig. Am 18. Oktober 1906 setzte bekanntlich die Deutsche Beichsbank ihren Diskont auf 7% fest, eine Höhe, wie sie zuerst Ende des Jahres 1899 erreicht worden war.

Tags darauf folgte die Bank von England mit einer Diskonterhöhung auf 6%, wie sie nur sechsmal seit 1874 vorgekommen und selbst während des Burenkrieges nicht überschritten worden ist. Ganz anders aber noch der Ansturm im Herbst 1907. In den wenigen Tagen vom 31. Oktober bis 7. November 1907 mußte die Bank von England dreimal ihren Diskont erhöhen, und zwar von 4 ½% der von April an bestanden hatte, auf 7%, einen Satz, der überhaupt seit der schweren Krisis von 1873 nicht wieder vorgekommen war; und die Deutsche Reichsbank mußte am 8. November mit 7 ½% Diskontsatz einführen, wie wir ihn bisher überhaupt noch nicht erlebt haben.

Diese ungewöhnlich hohen Zinszahlen zeigen schon die Heftigkeit des Ansturms. Bedeutsamer als sie war aber noch die ungewöhnlich lange Dauer, die diese Diskontsätze bestanden; denn wenn sie schnell vorüberziehen, sind sie bloße Warnungssignale; je länger sie in Kraft bleiben, um so tiefer beeinflussen sie das ganze Wirtschaftsleben. Bisher war in England ein Diskontsatz von 6% am längsten im Winter 1889/90 mit 52 Tagen aufrecht erhalten worden; 1906 stand er 89 Tage ununterbrochen in Geltung und 1907 war er 73 Tage lang mindestens 6%, 55 Tage lang sogar 7% hoch. In Deutschland hat der Diskontsatz der Reichsbank sogar 1906 nicht weniger als 194 Tage mindestens 6%, davon 34 Tage 7% und 1907 129 Tage mindestens 6%, davon sogar 88 Tage mindestens 6 ½% und 66 Tage 7 ½% betragen. Diese längere Dauer der Ausnahmesätze bei uns erklärt sich nicht aus der Geldkrisis, sondern aus der Kapitalkrisis, die gleichzeitig Deutschland härter heimsuchte als England. Was die Geldkrisis allein anlangt, so wurde durch sie umgekehrt England stärker betroffen, was ziffernmäßig auch darin zum Ausdruck kommt, daß die Spannung im Diskontsatz zwischen London und Berlin 1907 im Durchschnitt des Jahres 22 ½% (4,9% zu 6%,), monatelang sogar 37 ½% (4% zu 5,5%) betrug, während der Geldkrisis aber in ganz ungewöhnlicher Weise auf 7% (7% zu 7 ½%) sich minderte.

Aber selbst die Diskontsätze von dieser außerordentlichen Höhe und Dauer hätten nicht ausgereicht, wenn nicht die Bank von Frankreich in beiden Jahren der hart bedrängten Londoner Schwester zu Hilfe gekommen wäre. Sie stellte 1907 in der Form von Diskontierungen erstklassiger Londoner Wechsel 75 Mill. Franks in amerikanischen Goldmünzen der Bank von England zur Verfügung. Die junge politische Freundschaft zwischen beiden Ländern mag dabei etwas mitgewirkt haben; in der Hauptsache war es aber richtig erkanntes eigenes Interesse, das das Pariser Institut bestimmte. Denn auch die Bank von Frankreich hatte den Diskontsatz von 3% den sie fünf Jahre nicht geändert hatte, nicht beibehalten können, sondern auf 4% heraufsetzen müssen; jede weitere Erhöhung suchte sie der französischen Geschäftswelt, die es nicht gelernt hat, mit Diskontschwankungen zu rechnen, zu ersparen; das war aber kaum möglich, wenn die Bank von England zu weiterer Diskonterhöhung sich genötigt sah.

Hand in Hand mit diesen Diskonterhöhungen — sie bedingend und durch sie beeinflußt — gingen Goldbewegungen ungewöhnlichster Art vor sich. Bereits 1906 war aus den dargelegten Gründen die englische Goldausfuhr nach den Vereinigten Staaten trotz der bedeutenden eigenen Produktion dieses Landes mit mehr als 14 Mill. Pfd. Sterling fast ebenso groß gewesen, wie die nach den drei nächstwichtigen Goldausfuhrländern Englands zusammen. Noch schärfer bildete sich das aus im folgenden Jahr. Nicht nur wuchs die Goldausfuhr bis auf 18 1/3 Mill. Pfd. Sterling an; charakteristischer noch war, daß sie sich in die kurze Frist weniger Wochen zusammendrängte.

Während Gold in den Vereinigten Staaten in den ersten zehn Monaten des Jahres 1907 für 18.221.385 Dollar mehr ausgeführt, als eingeführt wurde, hörte im November die Goldausfuhr fast auf und setzte statt dessen, obwohl der Stand der auswärtigen Wechselkurse das keineswegs rechtfertigte, eine Goldeinfuhr ein, wie sie bisher noch nie in einem Monat verzeichnet worden ist. Sie belief sich auf 63.574.871 Dollar im November (gegenüber einer Ausfuhr von nur 615.169 Dollar) und auf 44.448.515 Dollar im Dezember (gegenüber einer Ausfuhr von 1.004.441 Dollar). Dieser Goldabzug erfolgte fast ganz über London. Von dort sind im November fast 14, im Dezember 3 ½ Mill. Pfd. Sterling nach den Vereinigten Staaten ausgeführt worden, d. h. in zwei Monaten ungefähr so viel, wie die jährliche Goldproduktion Nordamerikas beträgt oder wie die Reserve der Bank von England am 6. November 1907 ausmachte.

Zu derartigen Leistungen in so kurzer Frist war die Bank von England nur in der Lage, weil das Jahr 1907 nicht nur in der Goldausfuhr, sondern auch in der Goldeinfuhr Englands ein „Rekordjahr“ darstellt. Übertraf die Goldausfuhr mit rund 51 Mill. Pfd. Sterling das Vorjahr um 8, das Jahr 1905 um 20 Mill. Pfd. Sterling, so die Gesamteinfuhr mit ihren rund 57 Mill. Pfd. Sterling das Vorjahr um 11, das Jahr 1905 um 18 Mill. Pfd. Sterling. Niemals sind Goldbewegungen solchen Umfangs bisher vorgekommen. Diese außerordentliche Goldeinfuhr, die England sogar einen Überschuß von mehr als 6 Mill. Pfd. Sterling ließ, stammte zum Teil aus den Goldproduktionsländern, insbesondere Südafrika, zum Teil aber auch vom europäischen Kontinent. Für nicht weniger als 14 ½ Mill. Pfd. Sterling haben Deutschland, Frankreich, Belgien und Holland 1907 Gold nach England gesandt. Besonders aus Deutschland entwickelte sich unter dem Einfluß der amerikanischen Nachfrage und der hohen englischen Diskontsätze eine starke Goldausfuhr nach England. Anfangs zögerten die deutschen Banken allerdings etwas und trieben dadurch die deutschen Devisenkurse bedauerlicherweise weit über den Goldpunkt — bis auf 20,58 für Scheck London (Goldpunkt etwa bei 20,52) — aber dann setzte natürlich doch eine bedeutende Goldausfuhr sowohl aus dem freien Verkehr als auch aus der Reichsbank ein. England erhielt aus Deutschland im November 4.600.000 Pfd. Sterling, im Dezember 2.800.000 Pfd. Sterling. Nach der deutschen Statistik belief sich die deutsche Mehrausfuhr an Gold im November auf nicht weniger als 115.539.000 Mark, was etwa 1/6 des gleichzeitigen Metallbestandes der Reichsbank entspricht. Die Deutsche Bank hat somit nicht Unrecht, wenn sie in ihrem Jahresbericht sagt, daß „annähernd die Hälfte“ der nach den Vereinigten Staaten ausgeführten Goldmengen auf Deutschland entfallen sei, obwohl die direkte deutsche Ausfuhr nach den Vereinigten Staaten 1907 nur 3,7 Mill. Mark betragen hat. Hinter Deutschland trat Frankreich, trotz des Vorgehens seiner Zentralnotenbank, mit einer Sendung von 3 ½ Mill. Pfd. Sterling in den genannten beiden Monaten um mehr als die Hälfte zurück.

So erklärt es sich, daß, während wir im Durchschnitt des Jahrzehnts 1897—1906 eine Mehreinfuhr von Gold von rund 166 Mill. Mark zu verzeichnen hatten, das Jahr 1907 mit einem Ausfuhrüberschuß von Gold in Höhe von 16.932.000 Mark abschloß. Es wird damit auch begreiflich, daß der Barvorrat der Reichsbank Ende 1907 80so niedrig sich stellte, wie noch nie seit 1885, mit alleiniger Ausnahme von 1906, und im Durchschnitt des Jahres um fast 48 Mill, Mark hinter 1906 und um fast 130 Mill. Mark hinter 1905 zurückblieb; und während die Metalldeckung der Reichsbank bisher im Durchschnitt des Jahres bei den Noten zwischen 71,77% (1900) und 96,82% (1888) und bei allen Verbindlichkeiten zwischen 49,48% (1900) und 68,71% (1888) geschwankt hat, sank sie im ersten Fall 1906 auf 64,23% 1907 auf 57,03% und im zweiten Fall 1906 auf 45,39% und 1907 auf 40,98%.

Keine Zahlen zeigen deutlicher, als diese, daß die Barbestände unserer Zentralnotenbank einer Verstärkung bedürfen. Aber gerade die gefährlichen Schwierigkeiten, die unsere Reichsbank in der Hauptsache glücklich überwunden hat, zeigen auch, daß die prinzipiellen Grundlagen der Organisation unseres Zahlungs-, inbesondere unseres Banknotenwesens nicht zu ändern, sondern nur zu kräftigen sind. Soweit sie gefährlich sind, sind diese Schwierigkeiten, mit denen alle europäischen Zentralnotenbanken, und die Englands noch mehr als die unsrige, zu rechnen haben, ausländischen Ursprungs. Die Organisation in Europa, zumal bei uns in Deutschland, reicht aus, soweit es sich darum handelt, dem Zahlungswesen des eigenen Landes die nötige Elastizität zu verleihen. Jetzt wird dieselbe Organisation aber in Anspruch genommen, diese wichtige Eigenschaft auch noch dem Zahlungswesen eines großen, schnell wachsenden und unberechenbaren fremden Wirtschaftskörpers mitzuteilen. Darauf ist sie natürlich nicht berechnet und eingerichtet, und dazu ist sie heute nicht ohne bedenkliche Störungen in der Lage. Solcher fremde Anspruch wird sich aber in der Zukunft wiederholen, da eine wirklich durchgreifende Reform des amerikanischen Zahlungswesens einstweilen wenig wahrscheinlich ist. Europa, insbesondere Deutschland und England, werden sich der Aufgabe daher kaum entziehen können, ihre finanzielle Widerstandskraft so zu vergrößern, daß nicht, wie in den Jahren 1906 und 1907, die zeitweise Entziehung von Summen, die doch immerhin nicht sehr erheblich sind im Vergleich zur Gesamtheit aller internationalen Zahlungen, im Vergleich zum Gesamtgoldvorrat, ja auch nur im Vergleich zur Gesamtgoldproduktion eines Jahres, nicht unter Begleiterscheinungen vor sich geht, die für die weitesten Kreise des europäischen Wirtschaftslebens einen schweren Druck bedeuten. Einmal kann ein im Kern gesundes Wirtschaftsleben, wie das Deutschlands und Englands, solche schweren Belastungen ohne bleibenden Schaden überwinden; bei mehrfacher Wiederholung kann nur eine verhängnisvolle dauernde Schwächung der Wirtschaftskräfte die Folge sein.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwirtschaftliche Studien Vorträge und Aufsätze