Was ist Krankheit, und wie heilen wir?

Aus dem ,,Ärztlichen Praktiker“ (Redakteur: Dr. A. Seidel zu Berlin), No. 15, 16 und 17 des Jahrganges 1894.
Autor: Bachmann, Franz Dr., Erscheinungsjahr: 1894
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Auszug aus dem Vorwort.

Auf Wunsch der Redaktion des „Ärztlichen Praktiker“ unternehme ich es, in möglichster Kürze einen Abriss meiner Anschauungen über Entstehung und Wesen von Krankheit, sowie über die Begriffe der Krankheitsverhütung und der Heilung zu geben, wie ich diese Fragen*) in meinem in der Fußnote bezeichneten Buche in ausführlicherer Weise behandelt habe, und seitdem stets bemüht bin, sie zur weiteren Klarheit zu fuhren.

Vorerst möchte ich aber die Gründe anführen, die mich bewogen, die vorgenannten Fragen entgegen der heutigen Mode (denn auch die Wissenschaft hat ihre Moden) in einer mehr philosophischen Weise zu behandeln. Ich weiß recht wohl, dass sich die herrschende Richtung der Wissenschaft nicht wenig darauf zu gute tut, die Philosophie aus ihrem Forum vertrieben zu haben. Doch habe ich mich mit dieser Auffassung nicht auf die Dauer befreunden können. Ich bin vielmehr zur Überzeugung gelangt, dass die Philosophie in kurzer Zeit wieder ihren alten Ehrenplatz in sämtlichen Wissenschaften einnehmen wird, und dass sogar die Heilkunde ebenso wie jede andere Wissenschaft, ihrer eigenen Philosophie bedürfe, die sie sich selbst, aus ihrem Innern heraus, bilden müsse.

*) Nach meinem gleichnamigen Buche, Berlin 1894, Verlag von H. Steinitz.

Vielleicht werde ich mich dem Verständnisse meiner Leser nähern, wenn ich darauf aufmerksam mache, dass bei dem Worte Philosophie heutzutage viele noch an die Oken’sche Naturphilosophie und verwandte Richtungen denken, welche in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts durch ihre blinde Spekulation und Vermengung der Metaphysik mit der Naturwissenschaft die Fortschritte letzterer in so hohem Grade lähmten. Die Zeiten dieser Gefühls-Naturwissenschaft, der Naturphilosophie, mussten aber notwendigerweise eine heftige Reaktion nach sich ziehen, die exakte Forschung, der wir so viel Licht und Klarheit in unserem naturwissenschaftlichen Erkennen verdanken. Und so kam es, dass man eine geraume Zeit lang sämtliche Philosophie für völlig überflüssig erklärte und sie besonders in den Naturwissenschaften nicht dulden wollte.

Doch jede Einseitigkeit richtet sich selbst. Die moderne exakte Schule hoffte die letzten Ziele der Erkenntnis allein auf dem Wege des selbstbewussten Denkens zu erreichen. Dass dieser Weg jedoch in vielen Dingen nicht der einzige zum Ziele führende sei, dass es sogar viele Dinge gebe, die nie und nimmer auf diesem Wege erkannt werden können, das liegt der heutigen wissenschaftlichen Forschung sehr fern. Und so führte sie, in ihrer einseitigen Übertreibung, teils zur Unfruchtbarkeit, teils gebar sie Irrtümer über Irrtümer. Statt vieler anderer Nachweise brauche ich hier wohl nur an die Wiener Schule des Nihilismus in der Therapie, sowie an die mechanistische Auffassung des Lebens zu erinnern, welche die Physiologie und Heilkunde bis in unsere Tage beherrschten.

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