Vorwort - Fortsetzung ...

Doch seit einiger Zeit mehren sich glücklicherweise die Stimmen derjenigen, welche die Philosophie, sofern sie nur die richtige ist, nicht mehr verachten, eine würdige Verbindung derselben mit den Naturwissenschaften für segensreich halten, und die rein mechanistische Auffassung letzterer für unhaltbar erklären.

Allerdings müssen wir heutzutage an eine Philosophie ganz andere Ansprüche machen, als früher. Wir verlangen vor allem, dass sie sich nicht über die Kenntnisse hinwegsetzt, welche wir durch nüchterne Beobachtung mit unseren Sinnen erworben haben, sondern dass sie dieselben sogar zu ihrer Grundlage macht, von ihnen ausgeht.


Wir verlangen ferner nicht Gedankenreichtum in erster Reihe, sondern eine maßvolle Mischung von Reflexion und nüchternem Urteile.

Dann soll unsere Philosophie aber auch, nicht in letzter Linie, ein Gegengewicht bilden gegen jenes epidemisch gewordene, handwerksmäßige Spezialistentum, das heute nicht nur in der Wissenschaft, sondern fast überall in der gebildeten Welt vorherrscht. Sie soll vor allem vielseitig sein, im Gegensatz zur unphilosophischen Halbheit der Gegenwart; sie soll uns lehren, wieder unsern Blick aufs Ganze zu richten, das Ganze aus seinen Teilen, alle Teile aus dem Ganzen zu verstehen; sie soll unser Denken und Empfinden zu harmonischer Einheit führen; sie soll unsere Individualität mit dem Weltganzen und das Weltganze mit unserer Person verknüpfen; und alles dieses soll sie leisten und wird sie leisten, wenn wir nicht nur unsere gesamte geistige Erkenntnis, sondern auch unser Fühlen — sämtliche Resultate unserer selbstbewussten und unbewussten Gehirntätigkeit — zu ihrer Grundlage gemacht haben werden.

Man darf nie vergessen: die Naturwissenschaften fördern stets nur Erkenntnismaterial; es sind einzelne lose Bausteine, die sie uns liefern. Was unser Geist aus ihnen aufbaut, das ist es erst, was des Menschen würdig ist, und diesen Aufbau leistete von jeher nur die Philosophie. Deshalb sind auch die meisten wahrhaften und großen Naturforscher Philosophen gewesen; und wenn ein großer Naturforscher ausnahmsweise kein Philosoph war, so ist sein Werk als bloßes Erkenntnismaterial zu betrachten, und wird erst wahrhaft befruchtet und für die Menschheit nutzbar gemacht durch die philosophische Fassung, die es von anderen erhält. —

Vorerst zu den Quellen unserer Erkenntnis. Hierüber sind meine Ansichten von denen der Überexakten auch ein wenig abweichend. Bekanntlich beginnen unsere Kenntnisse schon mit der ersten Entwickelung, und zwar werden die meisten derselben in unbewusster Weise erworben, durch unbewusste Gedächtnisarbeit, ja durch unbewusste Urteilsbildung. Auch kann ich aus diesem Grunde nicht zugeben, dass es Methoden der Forschung giebt, welche allein zur Erkenntnis führten; deshalb gibt es auch keine Zunft von Alleinwissenden, die Wahrheit ist vielmehr keinem verschlossen, welcher mit gesunden Sinnen zahlreiche und richtige Beobachtungen zu machen versteht, deren Gesamtheit ihm ein möglichst treues Bild des Weltganzen gibt

Ein absolut treues Bild könnte natürlich nur in einem Hirne entstehen, welches (wenn wir die „anatomische“ Hypothese unserer Vorstellung vom Denken zugrunde legen) unendlich viele Hirnzellen besäße, da ja erforderlich ...




Es fehlen die Seiten 6 und 7 des Originals.




... philosophische, zusammenhängende Erkennen seine Nahrung ziehen. Und auf diese Weise soll in harmonischer Wechselwirkung von Geben und Nehmen, im ewig geschlossenen Kreise der Ursachen, Erkennen und Fühlen aus kleinsten Anfängen heraus sich zur Weltweisheit entspinnen.

Wenn ich nun nach diesen einleitenden Worten auf mein Thema übergehe, so darf ich es nicht, ohne vorher den Leser zu bitten, seine Erwartungen recht bedeutend herabzusetzen; denn den erwähnten hohen Zielen einer Philosophie der Medizin entspricht mein schwacher Versuch natürlich nur in sehr unvollkommener Weise. —

Jeder Arzt, der nach der Jugendperiode des Autoritäts- und Schulglaubens zum Selbstdenken herangereift ist, und sich nun die Fragen vorlegt: Wodurch und wie entsteht eine Krankheit? Was ist Krankheit? Wodurch wird sie verhütet? Wie kommt sie zur Heilung? Wie versuchen wir zu heilen? wird mit Verwunderung gewahr werden, dass seine Studien auf der Universität ihm nur geringe Aufklärung gerade über diese Fragen gebracht haben, welche doch für die Heilkunst von grundlegender Bedeutung sind.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Was ist Krankheit, und wie heilen wir?