Die freistehenden Glockentürme.

Das Interessanteste an dem genannten Bau ist der freistehende Glockenturm, der einzige, der in seiner ursprünglichen Gestalt erhalten ist. — Alle Warschauer gotischen Kirchen hatten freistehende Glockentürme, von denen die meisten , nämlich die an der Johann-, Bernhardiner- und Augustianerkirche, erhalten sind, wenn auch mehrmals umgebaut und restauriert. Die freistehenden Glockentürme sind für die gotische Kirchenbaukunst des 15. Jahrhunderts im nordöstlichen Gebiete Polens, und besonders in Masovien, typisch. Die Bauweise der nicht mit der Kirche verbundenen Türme kann an italienische Einflüsse denken lassen, in Wirklichkeit ist sie jedoch durch die Überlieferung der heimischen Holzbaukunst und vor allem als Folge der Bodenbeschaffenheit, zu erklären. Masovien ist bekanntlich sandig. Die Erhöhungen bilden vorwiegend Sandhügel von zweifelhafter Bodenfestigkeit, was für eine allzu starke Gewichtsbelastung mit Einsturzgefahr gleichbedeutend ist. Wenn in Italien für die Entwicklung der freistehenden Campanile die Einsturzgefahr, bei den immer wiederkehrenden Erdbeben, maßgebend sein konnte, so würden die freistehenden Türme in Polen ihren Grund in den unvorteilhaften Bodenverhältnissen gehabt haben. Anderseits ist es nicht ganz ausgeschlossen, dass hier Einwirkungen von Osten her mitgespielt haben. Turmlose Kirchen findet man übrigens auch in Norddeutschland, wo der Boden ebenfalls sandig ist.

Die Isolierung des Turmes übt insofern auf die Bauart der Kirche Einfluss aus, als nun die turmlose Fassade eine viel einfachere, sogar ärmliche Gestaltung erlaubt, wenn nicht bedingt, zumal bei Backsteinbauten, die vom plastischen Schmuck absehen müssen. Diese einfachen Lösungen konnten auf die Dauer nicht genügen, besonders nicht, seitdem Warschau zur Haupt- und Residenzstadt eines ausgedehnten Staates erhoben wurde und der Stil des Barocks seine herrische Prachtliebe entfaltete. Damit ist an sich der ausreichende Grund für die späteren Umbauten gegeben, ganz abgesehen von den Restaurationsnotwendigkeiten, die die schwedischen Kriege mit sich brachten.


Abb. 7. Freistehender Glockenturm der Marienkirche.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Warschau
Warschau 007 Freistehender Glockenturm der Marienkirche

Warschau 007 Freistehender Glockenturm der Marienkirche

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