Abschnitt 1

Die Wenden
und die Kolonisation der Mark
durch die Zisterzienser


Die Wenden in der Mark


4. Rethra. Arkona. »Was ward aus den Wenden?«


            Hier dient der Wende seinen Götzenbildern,
            Hier baut er seiner Städte festes Tor,
            Und drüber blinkt der Tempel Dach hervor:
            Julin, Vineta, Rethra, Brennabor.
                                                          Karl Seidel

Die zwei Haupttempelstätten im ganzen Wendenland waren, wie mehrfach hervorgehoben, Rethra und Arkona. Stettin und Brennabor, ihnen vielleicht am nächsten stehend, hatten doch überwiegend eine lokale Bedeutung.
Rethra und Arkona repräsentierten auch die Orakel, bei denen in den großen Landesfragen Rats geholt wurde, und ihr Ansehn war so groß, daß der Besitz dieser Tempel dem ganzen Stamme, dem sie zugehörten, ein gesteigertes Ansehen lieh; die Redarier und die Ranen nahmen eine bevorzugte Stellung ein. Später entspann sich zwischen beiden eine Rivalität, wie zwischen Delphi und Dodona.
Rethra war unter diesen beiden Orakelstätten die ältere, und wir beginnen mit Wiedergabe dessen, was Thietmar, Bischof von Merseburg, über diese sagt. Thietmar berichtet:
»So viele Kreise es im Lande der Liutizier gibt, so viele Tempel gibt es auch und so viele einzelne Götzenbilder werden verehrt; die Stadt Rethra aber behauptet einen ausgezeichneten Vorrang vor allen anderen. Nach Rethra schicken die Wendenfürsten, ehe sie in den Kampf eilen, und sorgfältig wird hier vermittelst der Lose und des Rosses nachgeforscht, welch ein Opfer den Göttern darzubringen sei.«
Stadt und Tempel von Rethra schildert Thietmar nun weiter: »Rethra liegt im Gau der Redarier, ein Ort von dreieckiger Gestalt, den von allen Seiten ein großer, von den Eingeborenen gepflegter und heiliggehaltener Hain umgibt. Der Ort hat drei Tore. Zwei dieser Tore stehen jedem offen; das dritte Tor aber, das kleinste, weist auf das Meer hin und gewährt einen furchtbaren Anblick. An diesem Tor steht nichts als ein künstlich aus Holz gebautes Heiligtum, dessen Dach auf den Hörnern verschiedener Tiere ruht die es wie Tragsteine emporhalten. Die Außenseiten dieses Heiligtums sind mit verschiedenen Bildern von Göttern und Göttinnen, die, soviel man sehen kann, mit bewundernswerter Kunst in das Holz hineingemeißelt sind, verziert; inwendig aber stehen von Menschenhand gemachte Götzenbilder, mit ihren Namen am Fußgestell, furchtbar anzuschauen. Der vornehmste derselben heißt Radegast oder Zuarasioi und wird von allen Heiden geehrt und angebetet. Hier befinden sich auch ihre Feldzeichen, welche nur, wenn es zum Kampfe geht, von hier fortgenommen und dann von Fußkämpfern getragen werden. Um dies alles sorgfältig zu hüten, sind von den Eingeborenen besondere Priester angestellt, welche, wenn die Leute zusammenkommen, um den Bildern zu opfern und ihren Zorn zu sühnen, allein sitzen bleiben, während die anderen stehen. Indem sie dann heimlich untereinander murmeln, graben sie voll Zornes in die Erde hinein, um vermittelst geworfener Lose nach Gewißheit über zweifelhafte Dinge zu forschen. Nachdem dies beendigt ist, bedecken sie die Lose mit grünem Rasen und führen ein Roß, das als heilig von ihnen verehrt wird, mit demütigem Flehen über die Spitzen zweier sich kreuzenden, in die Erde gesteckten Speere weg. Dies ist gleichsam der zweite Akt, zu dem man schreitet, um die Zukunft zu erforschen, und wenn beide Mittel: zuerst das Los, dann das heilige Pferd, auf ein gleiches Vorzeichen hindeuten, so handelt man darnach. Wo nicht, so wird von den betrübten Eingeborenen die ganze Angelegenheit aufgegeben.«
Als Bischof Thietmar diese Schilderung von Rethra entwarf, stand dasselbe noch in höchstem Ansehen bei der Gesamtheit des Wendenvolkes, aber schon wenige Jahre später ging sein Ruhm als erste Tempel- und Orakelstätte des Wendenreiches unter. Arkona auf Rügen trat an seine Stelle. Noch 1066 hatten die Wenden, nach einem siegreichen Rachezuge, den Bischof Johann von Mecklenburg nach Rethra geschleppt und dem Radegast das Haupt des Bischofs geopfert; aber dies Ereignis führte zugleich zu jener Niederlage Rethras, von der es sich nicht mehr ganz erholte. Im Winter 1067 auf 1068 erschien Bischof Burkhard von Halberstadt vor Rethra, stürzte das Götzenbild um und ritt auf dem weißen Rosse des Radegast heim. Dieser wohlberechnete Hohn blieb auf die Wendenstämme nicht ohne Einfluß, Eifersucht gegen die Redarier kam hinzu, und so wendeten sich die Wendenstämme von dem Radegast zu Rethra, der sich schwach erwiesen hatte, ab und dem Swantewit-Tempel in Arkona zu. Hundert Jahre lang, von jenem Tage der Niederlage ab, glänzte nun Arkona, wie vorher Rethra geglänzt hatte. Auch von Arkona und seinem Swantewit-Tempel besitzen wir eine Beschreibung. Es scheint, daß vier mächtige Holzpfeiler, die auf Tierhörnern ruhten, ihrerseits ein Dach trugen, dessen Inneres dunkelrot getüncht war. Der Raum zwischen den vier Pfeilern war durch Bretterwände ausgefüllt, die allerhand bunt bemaltes Schnitzwerk trugen. Dies alles aber war nur die Außenhülle, und vier mächtige Innenpfeiler, durch Vorhänge geschlossen, teilten den inneren Tempelraum wieder in zwei Hälften, in ein Heiligstes und Allerheiligstes. In dem letzteren erst stand das Bild Swantewits. Arkona hatte besondere Tempeldiener, und mehr und mehr bildete sich hier eine Priesterkaste aus. Sie unterschieden sich schon durch Tracht und Kleidung von dem Rest der Nation und trugen Bart und Haar lang herabwallend, während die übrigen Ranen Bart und Haar geschoren trugen. Sie gehörten zu den Edlen des Landes; kriegerische und priesterliche Tätigkeit galt überhaupt den Wenden als wohl vereinbar.
Auch hier in Arkona diente das »weiße Pferd« zur Zeichendeuterei. Alle Poesie knüpfte sich an dasselbe. Nicht seiten fand man es des Morgens mit Schaum und Schmutz bedeckt in seinem Stall; dann hieß es, Swantewit selber habe das Pferd geritten und es im Streit gegen seine Feinde getummelt. Die Formen, unter denen das Orakel erteilt oder die Frage »Krieg oder Friede« entschieden wurde, waren denen in Rethra nah verwandt, aber doch nicht voll dieselben. Drei Paar gekreuzte Lanzen wurden in den Boden gesteckt und das Pferd herangeführt. Schritt es nun mit dem rechten Fuß zuerst über die Speere, so war das Zeichen glücklich, unglücklich, wenn das Tier den linken Fuß zuerst aufhob. Entschiedenes Heil aber versprach das Orakel nur, wenn das weiße Pferd über alle drei Lanzenpaare mit dem rechten Fuße hingeschritten war.
Der Swantewit-Tempel auf Arkona war das letzte Bollwerk des Heidentums. Es fiel endlich, wie schon hervorgehoben, in den Dänenkämpfen, im Kriege mit »Waldemar dem Sieger«, nachdem es nicht nur den Radegast-Tempel Rethras, wenigstens den Ruhm desselben, um ein Jahrhundert, sondern auch den uns in gewissem Sinne näher angehenden Triglaw-Tempel zu Brennabor um zwanzig und einige Jahre überlebt hatte.
Dieser Triglaw-Tempel, wenn auch für die Gesamtheit der Wenden nur ein Tempel zweiten Ranges, erheischt noch ein kurzes Verweilen.
Triglaw war eine ursprünglich pommersche Gottheit und wurde, wie es scheint, erst in späterer Zeit, sei es aus Eifersucht oder sei es aus Mißtrauen gegen den Radegast (in Rethra), von Pommern her in die Havelgegenden eingeführt. In Kürze haben wir ihn schon an anderer Stelle beschrieben. Er hatte drei Köpfe, weil er Herr im Himmel, auf Erden und in der Unterwelt war, und sein Gesicht war verhüllt, zum Zeichen, daß er die Sünden der Menschen übersah und verzieh. In seinen Händen hielt er einen gehörnten Mond, ein Symbol, über dessen Bedeutung nur Vermutungen existieren. Seinen Haupttempel hatte er in Stettin, der, den Schilderungen nach, die wir davon besitzen, den aus Holz aufgeführten, mit Bildwerk und Schnitzereien ausgeschmückten Tempeln in Rethra und Arkona sehr verwandt gewesen sein muß. Auch der Triglaw- Dienst war dem Dienst des Radegast oder Swantewit mehr oder weniger verwandt. Die Zeichen wurden in ähnlicher Weise gedeutet, das Roß schritt über die gekreuzten Lanzenspitzen hin, und das Berühren dieser oder jener Lanze, mit dem einen oder andern Fuß – alles hatte seine Bedeutung zum Heil oder Unheil. Nur das Roß selbst war nicht weiß, sondern schwarz, vielleicht weil Triglaw selbst mehr den finstern als den lichten Göttern zugehörte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 3. Teil