Abschnitt 1

Die Wenden
und die Kolonisation der Mark
durch die Zisterzienser


Die Wenden in der Mark


3. Charakter. Begabung. Kultusgabung. Kultus


            In trotzigem Mut
            Gastfrei und gut,
            Haben für ihre Götter und Sitten
            Sie wie die Märtyrer gelitten.

Nachdem wir bis hierher die äußere Erscheinung betont und die Frage zu beantworten gesucht haben: Wie sahen die alten Wenden aus? wie wohnten sie? wie beschäftigten und wie kleideten sie sich?, wenden wir uns in folgendem mehr ihrem geistigen Leben zu, der Frage: Wie war ihr Charakter, ihre geistige Begabung, ihr Rechtssinn, ihre Religiosität?
Die Wenden haben uns leider kein einziges Schriftstück hinterlassen, das uns dazu dienen könnte, die Schilderungen, die uns ihre bittern Feinde, die Deutschen, von ihnen entworfen haben, nötigenfalls zu korrigieren. Wir hören eben nur eine Partei sprechen, dennoch sind auch diese Schilderungen ihrer Gegner nicht dazu angetan, uns mit Abneigung gegen den Charakter der Wenden zu erfüllen. Wir begegnen mehr liebenswürdigen als häßlichen Zügen, und wo wir diese häßlichen Züge treffen, ist es gemeinhin unschwer zu erkennen, woraus sie hervorgingen. Meist waren es Repressalien, Regungen der Menschennatur überhaupt, nicht einer spezifisch bösen Menschennatur.
Zwei Tugenden werden den Wenden von allen deutschen Chronikenschreibern jener Epoche: Widukind, Thietmar, Adam von Bremen, zuerkannt: sie waren tapfer und gastfrei. Ihre Tapferkeit spricht aus der ganzen Geschichte jener Epoche, und der Umstand, daß sie, trotz Fehden und steter Zersplitterung ihrer Kräfte, dennoch den Kampf gegen das übermächtige Deutschtum zwei Jahrhunderte lang fortsetzen konnten, läßt ihren Mut in allerglänzendstem Lichte erscheinen. Sie waren ausgezeichnete Krieger, zu deren angeborner Tapferkeit sich noch andere kriegerische Gaben, wie sie den Slawen eigentümlich sind, gesellten: Raschheit, Schlauheit, Zähigkeit. Hierin sind alle deutschen Chronisten einig. Ebenso einig sind sie, wie schon hervorgehoben, in Anerkennung der wendischen Gastfreundschaft. »Um Aufnahme zu bitten hatte der Fremde in der Regel nicht nötig; sie wurde ihm wetteifernd angeboten. Jedes Haus hatte seine Gastzimmer und immer offne Tafel. Freigebig wurde vertan, was durch Ackerbau, Fischfang, Jagd und in den größeren Städten auch wohl durch Handel und Gewerbe gewonnen worden war. Je freigebiger der Wende war, für desto vornehmer wurde er gehalten und für desto vornehmer hielt er sich selbst. Wurde – was übrigens äußerst selten vorkam – von diesem oder jenem ruchbar, daß er das Gastrecht versagt habe, so verfiel er allgemeiner Verachtung, und Haus und Hof durften in Brand gesteckt werden.«
Sie waren tapfer und gastfrei, aber sie waren falsch und untreu, so berichten die alten Chronisten weiter. Die alten Chronisten sind indessen ehrlich genug, hinzuzusetzen: »untreu gegen ihre Feinde«. Dieser Zusatz legt einem sofort die Frage nahe: Wie waren aber nun diese Feinde? Waren sie, ganz von aller ehrlichen Feindschaft, von offenem Kampfe abgesehen, waren diese Feinde ihrerseits von einer Treue, einem Worthalten, einer Zuverlässigkeit, die den Wenden ein Sporn hätte sein können, Treue mit Treue zu vergelten?
Die Erzählungen der Chronisten machen uns die Antwort auf die Frage leicht; in rühmlicher Unbefangenheit erzählen sie uns die endlosen Perfidien der Deutschen. Dies erklärt sich daraus, daß sie, von Parteigeist erfüllt und blind im Dienst einer großen Idee, die eigenen Perfidien vorweg als gerechtfertigt ansahen. Dagegen war wendischer Verrat einfach Verrat und stand da, ohne allen Glorienschein, in nackter, alltäglicher Häßlichkeit. Der Wende war ein »Hund«, ehrlos, rechtlos, und wenn er sich unerwartet aufrichtete und seinen Gegner biß, so war er untreu. Ein Hund darf nicht beißen, es geschehe ihm, was da wolle. Die Geschichte von Mistewoi haben wir gehört, sie zeigt die schwindelnde Höhe deutschen Undanks und deutscher Überhebung. In noch schlimmerem Lichte erscheint das Deutschtum in der Geschichte von Markgraf Gero. Dieser, wie in Balladen oft erzählt, ließ dreißig wendische Fürsten, also wahrscheinlich die Häupter fast aller Stämme zwischen Elbe und Oder, zu einem Gastmahl laden, machte die Erschienenen trunken und ließ sie dann ermorden. Das war 939. Nicht genug damit. Im selben Jahre vollführte er einen zweiten List- und Gewaltstreich. Den Tugumir, einen flüchtigen Fürsten der Heveller, den er durch Versprechungen auf seine Seite zu ziehen gewußt hatte, ließ er nach Brennabor zurückkehren, wo er Haß gegen die Deutschen heucheln und dadurch die alte Gunst seines Stammes sich wiedererobern mußte. Aber kaum im Besitz dieser Gunst, tötete Tugumir seinen Neffen, der in wirklicher Treue und Aufrichtigkeit an der Sache der Wenden hing, und öffnete dann dem Gero die Tore, dessen bloßes Werkzeug er gewesen war. Das waren die Taten, mit denen die Deutschen – freilich oft unter Hilfe und Zutun der Wenden selbst – voranschritten. Weder die Deutschen noch ihre Chronisten, zum Teil hochkirchliche Männer, ließen sich diese Verfahrungsweise anfechten, klagten aber Mal auf Mal über die »Falschheit der götzendienerischen Wenden«.
Die Wenden waren tapfer und gastfrei und, wie wir uns überzeugt halten, um kein Haar falscher und untreuer als ihre Besieger, die Deutschen; aber in einem waren sie ihnen allerdings unebenbürtig, in jener gestaltenden, große Ziele von Generation zu Generation unerschütterlich im Auge behaltenden Kraft, die zu allen Zeiten der Grundzug der germanischen Race gewesen und noch jetzt die Bürgschaft ihres Lebens ist. Die Wenden von damals waren wie die Polen von heut. Ausgerüstet mit liebenswürdigen und blendenden Eigenschaften, an Ritterlichkeit ihren Gegnern mindestens gleich, an Leidenschaft, an Opfermut ihnen vielleicht überlegen, gingen sie dennoch zugrunde, weil sie jener gestaltenden Kraft entbehrten. Immer voll Neigung, ihre Kräfte nach außen hin schweifen zu lassen, statt sie im Zentrum zu einen, fehlte ihnen das Konzentrische, während sie exzentrisch waren in jedem Sinne. Dazu die individuelle Freiheit höher achtend als die staatliche Festigung – wer erkennte in diesem allem nicht polnisch-nationale Züge?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 3. Teil