Abschnitt 8

Der Oderbruch und seine Umgebung


Schloß Friedersdorf


Friedrich August Ludwig von der Marwitz


Und bei dieser Gelegenheit mög ein kleiner Exkurs gestattet sein. Es ist mit der Kunst des Anstands wie beispielsweise mit der Kunst des Reitenkönnens und vielleicht mit vielen andern Künsten. Jeder, Individuum wie Nationen, glaubt im Besitze des Rechten zu sein. Die englischen Gentlemen sagen zu deutschen Kavalieren: »Ihr seid die besten Reiteroffiziere, aber ihr könnt nicht reiten«, und die deutschen Kavaliere erwidern dem englischen Gentleman: »Ihr versteht euer fox-hunting und steeple-chase, aber enfin, ihr könnt nicht reiten.« Und ein stilles Bedenken mischt sich dabei von rechts und links her ein, daß dem diesseitigen perfekten Kavalier und dem jenseitigen perfekten Gentleman doch noch dies und das zu seiner Vollkommenheit fehle. Und wie mit der Kunst des Reitens, so mit der Kunst der feinen Sitte. Die Gesetze derselben sind überall verwandt, aber ihre Formen weichen voneinander ab. Da, wo noch an eine ausschließliche Form der Gesellschaft geglaubt wird, hat die Gesellschaft selbst ihre höchste Blüte noch nicht erreicht.

In Standesvorurteilen, wie sie das Urteil über Goethe zeigt, war und blieb Marwitz befangen; aber er verfuhr auch hierin nach Überzeugung und stumpfte dadurch den Stachel des persönlich Verletzenden. Zudem hielt es nicht schwer, die Wurzel seines Irrtums zu erkennen. Während er nämlich sich selbst als Repräsentanten des Adels nahm, nahm er den ersten besten Bürgerlichen als Repräsentanten des Bürgerstandes. Der Zufall wollte, daß er in sich selbst einen so vollkommenen Vertreter adeliger Gesinnung zur Hand hatte, daß, bei solchem Herausgreifen aufs Geratewohl, der Bürgerliche mit einer Art von Notwendigkeit zu kurz kommen mußte. Er vergaß eben, daß nicht jeder Adelige ein Marwitz war und daß viele Eigenschaften, die er an den »Gebildeten« haßte, nicht Sondereigenschaften des Bürgerstandes, sondern allgemeine Eigenschaften der ganzen Epoche waren. So geißelte er das Auftreten eines eitlen, leckern und gesinnungslosen Historikers, der damals in den Berliner Salons vergöttert wurde, mit verdientem Spott, aber andere bürgerliche Namen, die seines Beifalls würdig gewesen wären, hätten ihm ebenso nah oder vielleicht näher gelegen. Ich nenne nur Fichte. Statt dessen sah er mit Vorliebe auf die Kluft, die freilich zwischen seinem eigenen Empfinden und jener schnöden Niedrigkeit lag, die sich damals danach drängte, als »Bürgergardist« vor Marschall Victor Schildwache zu stehn.

Ängstliche Rücksichtnahme war nicht seine Sache, wo es die Wahrheit oder wenigstens das galt, was ihm als Wahrheit erschien. Durch Freund und Feind hin ging er seinen Weg. Die Furcht, anzustoßen, war nicht seine Furcht. Selbstbewußtsein durchdrang ihn und durft es, denn die Worte seines Testaments, »daß er die ihm auferlegten Pflichten treulich erfüllt und dabei sein eigenes irdisches Wohlsein für nichts erachtet habe«, waren Worte der Wahrheit. Verkannt, zurückgesetzt, verleumdet, hatten die Kränkungen, davon er genugsam erfahren, doch niemals schwerer in seinem Herzen gewogen als das Gefühl seiner Pflicht. Sooft es galt, war er da. Alles gab er auf, alles setzte er ein, sooft die großen Interessen des Vaterlandes auf dem Spiele standen. Das Einstehen für das Ganze war seinem Herzen Bedürfnis, und die höchsten Kräfte des Menschenherzens: Treue, Pietät und Opferfreudigkeit, waren in seiner Seele lebendig. Er war schroff nach außen, aber feinfühlig im Gemüt. Das Leben, ungehoben und unverklärt durch geistigen Gehalt, war ihm eine leere Schale; die Idee allein gab allem Wert, und im Kampfe für sie hat er sein Leben hingebracht. Möglich, daß er in diesem Kampfe geirrt; es würde nichts ändern an der Wertschätzung, die seinem Streben gebührt. Denn jedem selbstsuchtslos geführten geistigen Kampfe gelten unsere Sympathien, und erst aus Streben und Irren gebiert sich die Wahrheit. Auch der Kampf, den Marwitz kämpfte, hat uns dieser näher geführt.

»Er war«, so schließt ein Nekrolog, den befreundete Hand geschrieben, »ein Mann von altrömischem Charakter, eine kräftige, gediegene Natur, ein Edelmann im besten Sinne des Worts, der in seiner Nähe nichts Unwürdiges duldete, allem Schlechten entschieden in den Weg trat, Recht und Wahrheit verteidigte gegen jedermann, der die Furcht nicht kannte und immer in den Reihen der Edelsten und Besten zu finden war. Alles Versteckte, Unklare und Erheuchelte war ihm von Herzen zuwider. Wie er streng war gegen sich selbst, war er es auch gegen andere. In Fleiß und guter Wirtschaft, in Frömmigkeit und strenger Sittlichkeit, in einem rechtschaffenen Wandel strebte er, seiner Gemeinde ein Vorbild und Muster zu sein.«

An ernstem Streben, an Ringen nach der Wahrheit, an selbstsuchtsloser Vaterlandsliebe sei er Vorbild und Muster auch uns.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil