Abschnitt 7

Der Oderbruch und seine Umgebung


Schloß Friedersdorf


Friedrich August Ludwig von der Marwitz


Die Schilderung des Marwitzschen Lebensganges war zugleich eine Schilderung seines Charakters. Über diesen letztren aber mögen noch einige Bemerkungen hier Platz finden. Ich knöpfe zu diesem Behuf an die Vorgänge des Jahres 1811 an. Das Auftreten Marwitz’ in jener Epoche, wenn man ihm irgendwie gerecht werden will, muß von zwei Gesichtspunkten, vom juristischen und politischen aus, betrachtet werden. Das Urteil über dieselben Vorgänge wird sich danach sehr verschieden gestalten.

Was zunächst die juristische Seite angeht, so hatte Hardenberg selbst das Recht der Stände anerkannt und mehr denn einmal der patriotischen Haltung derselben die königliche Anerkennung ausgesprochen. Nichts konnte deshalb falscher und begriffsverwirrender sein, als das Eintreten für ein derartig anerkanntes Recht auf Rebellion zu deuten. Daß es dennoch geschah, mag, wo nicht politische Berechnung und reformatorischer Eifer ein richtigeres Urteil trübten, als Beweis dienen für den Servilismus und die Indolenz jener Zeit.

Noch einmal, das Recht war unbestreitbar auf seiten der Stände, und dieses ständische Recht war verletzt. Gegen diese Verletzung hatte Marwitz protestiert. Der Protest war mutig und ehrenhaft. Aber freilich, wenn er, außer dem persönlichen Zugeständnis, mutig und ehrenhaft gehandelt zu haben, auch noch Sympathien für die Sache wecken wollte, so mußte sich das Festhalten am Prinzip über den Verdacht einer Donquixoterie, einer bloßen Rechtsmarotte erheben. Auch das beste Recht, wenn es sich sträubt, einem neuen Platz zu machen, muß den Beweis erbringen, daß es mehr ist als ein toter Buchstabe, als eine Last und ein Hemmnis. Es bleibt »Recht« auch ohne diesen Beweis, aber ein Recht, dem jeder wünscht, daß es dem formellen Unrecht unterliegen möge. Das fühlte Marwitz sehr wohl. Er verteidigte also das Ständische als ein äußerlich ererbtes Gut, aber er hielt es auch aufrecht im vollen Glauben an die innerliche Berechtigung desselben. Dies führt mich von der einfachen Rechtsfrage auf das politische Gebiet.

Mußte der alte ständische Bau fallen oder nicht? Millionen sagten ja, Marwitz sagte nein. Für ihn handelte sich alles um Wiederbelebung; nicht Tod, nur Lähmung war über den alten, kräftigen Organismus des Landes gekommen; es galt, einen Bann, eine Krankheit von ihm zu nehmen, und alles war wieder gut. Nicht die Paragraphen und Institutionen, die Herzen der Menschen wollt er ändern; an die Stelle kleiner Gesinnung sollte hohe Liebe und idealer Schwung, an die Stelle philiströser Beschränktheit eine opferfreudige Begeisterung treten – so wollt er reformieren. Vortrefflich. Aber wie? wodurch? Um die Weckung oder Mehrung dieser Dinge hat es sich immer gehandelt. Wie wollte Marwitz an die Herzen heran, wie wollt er das Wunder vollziehen? Die Antwort auf diese Frage ist er schuldig geblieben. Er zeigte das Ziel, aber nicht den Weg. Die bloße Bußpredigt und ein langes Sündenregister haben noch nie geholfen. Hier liegt sein Fehler, sein politischer Fehler. Das Alte, ob mit Recht oder Unrecht, war jedem ein Greuel geworden; es war unmöglich, wenigstens damals unmöglich, eine Begeisterung dafür zu wecken; wenn diese geweckt werden sollte, so mußt es für etwas Neues sein, selbst auf die Gefahr hin, daß es sich als ein Falsches erweisen würde. Es handelte sich zunächst nicht um gesunde Nahrungs-, sondern viel, viel mehr um Belebungs- und Erweckungsmittel. Dies wußte Hardenberg, und in dem Sinne handelte er. Und dafür haben wir ihm zu danken.

Der alte ständische Staat hatte dem Sturm nicht widerstanden, und ein neues Haus mußte bezogen werden, wenigstens auf Probe. Möglich, daß der Zusammensturz nicht an der Schlechtigkeit des alten Baues, sondern an der Heftigkeit des Sturmes gelegen hatte, möglich das alles, aber die Verhältnisse gestatteten damals nicht, in die Diskussion solcher Fragen einzutreten. Rasche Hülfe war nötig. Dreißig Jahre später lagen die Dinge günstiger, und Friedrich Wilhelm IV. durfte bei seinem Regierungsantritte das Experiment wagen, den unterm Drang der Umstände kritiklos beiseite geworfenen ständischen Staat noch einmal auf seinen Wert und seine Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Das Jahr 1846 brachte den Vereinigten Landtag. Ob die Formen, unter denen dieser ins Leben trat, ob namentlich die rheinische Bourgeoisie und ihr großer Einfluß dem Marwitzschen Ideal entsprochen hätten, muß freilich dahingestellt bleiben.

Diese nur allzu begründeten Zweifel führen mich auf Marwitz’ angreifbarsten Punkt, auf sein Verhältnis zum Bürgerstand. Er ließ den »Bürgerstand« gelten, soweit er in die alte ständische Institution hineinpaßte, aber er haßte die »Gebildeten«. Und da die Bürgerlichen zu jener Zeit überwiegend die Träger dieser Bildung waren, so wurde daraus eine Verkleinerung, eine völlig schiefe Stellung zum Bürgertum überhaupt. Daß ihm das damalige, von Revolutionsideen erfüllte Bürgertum, das wenigstens hier und dort die Niederlage von Jena mit Befriedigung vernommen hatte, wenig sympathisch war, war ebenso begreiflich wie berechtigt, aber er verharrte in dieser Abneigung auch noch, als die Ereignisse des Jahres 1813, und zwar nicht nur die Erhebung des Volks, sondern ganz speziell die Begeisterung der »Gebildeten«, ihm den Beweis geliefert hatte, daß auch ein Bücherwurm und Wissenschaftler für eine gute Sache zu fechten und zu sterben verstehe. Er selbst gab diese Dinge im einzelnen zu, aber dem ganzen Stande gegenüber blieb ihm das aristokratische Vorurteil. Der Adel nahm in seinen Augen nicht nur politisch und gesellschaftlich, sondern auch moralisch eine überlegene Sonderstellung ein; seine Gesinnung war besser, ebenso seine Haltung, und soviel Wahrheit und partielle Berechtigung, namentlich angesichts unseres märkischen Spießbürgertums, in dieser Auffassung liegen mochte, so führte dieselbe doch gelegentlich zu den allerbedenklichsten Konsequenzen. Eine Anekdote mag dies zeigen.

Im Jahre 1806 traf unser Marwitz, wenige Tage vor der Jenaer Schlacht, im Schlosse zu Weimar mit Goethe zusammen. Wie schildert er nun diesen? »Er war ein großer, schöner Mann, der, stets im gestickten Hofkleide, gepudert, mit einem Haarbeutel und Galanteriedegen, durchaus nur den Minister sehen ließ und die Würde seines Ranges gut repräsentierte, wenngleich der natürlich freie Anstand des Vornehmen sich vermissen ließ.« Also auch Goethe konnte sich in Haltung und Erscheinung nicht bis zur Ebenbürtigkeit erheben. Er war ein anstandsvoller Minister und ein großer Poet, war der Freund seines Fürsten und der leuchtende Stern des Hofes, aber geboren als ein Bürgerssohn zu Frankfurt, ließ er doch den »freien Anstand des Vornehmen vermissen«. Es gebrach ein unaussprechliches Etwas, vielleicht die Hohe Schule des Regiments Gensdarmes.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil