Abschnitt 8

Der Oderbruch und seine Umgebung


Schloß Friedersdorf


Alexander von der Marwitz


Am 1. Januar ging es über den Rhein. Die Gefechte bei Brienne und La Rothière eröffneten den Kampf auf französischem Boden; der Sieg schien bei den Fahnen der Verbündeten bleiben zu sollen. Da kamen die Unglückstage von Champaubert und Montmirail. Der Kaiser warf sich auf das russische Corps unter General Sacken und war im Begriff, es zu vernichten, als Sacken selbst, der leichtsinnig dieses Unheil heraufbeschworen hatte, an das zunächststehende Yorcksche Corps die dringende Bitte stellte, den Feind in der linken Flanke zu fassen. An Sieg war nicht zu denken, aber die Rettung der Russen mußte wenigstens versucht werden. Die erste (Pirchsche) Brigade, bei der Marwitz stand, erhielt Befehl zum Angriff. General Pirch selbst setzte sich an die Spitze der ost- und westpreußischen Grenadiere, zwei Landwehrbataillone folgten als Soutien. So drang man im Sturmschritt gegen das Gehölz von Bailly vor. Aber der Angriff scheiterte. Die Führer der Bataillone fielen. General Pirch wurde verwundet, und Marwitz sank tödlich getroffen.

Es scheint, daß eine Flintenkugel ihn in die Schläfe traf. Sein Tod – »der Tod unseres hoffnungsvollen und sehr geliebten Marwitz«, so schreibt Schack in seinem Tagebuche – galt für ein Ereignis selbst in jenen Tagen, wo jede Stunde die Besten als Opfer forderte. Seine Leiche wurde nicht gefunden, und dieser Umstand gab Veranlassung, daß man geraume Zeit hindurch glaubte, er sei abermals, schwer verwundet, dem Feinde in die Hände gefallen. Auch Rahel teilte diesen Glauben. Noch am 26. April schrieb sie von Prag aus: »Nun fehlt nur noch Marwitz. Aber ich hoffe. Der kommt wieder, ganz durchlöchert an Körper und Wäsche.« Aber er kam nicht. Er lag, eingescharrt mit hundert andern, auf dem Sandplateau von Montmirail. »Jeder seiner Freunde fühlte seinen Tod nach Maßgabe des eigenen Wertes«, so schrieb Rahel im Juni, als sein Tod nicht länger zweifelhaft sein konnte, und Marwitz’ älterer Bruder schrieb die Worte nieder: »Die Welt erlitt an ihm einen großen Verlust. Er war ein außerordentlicher Mensch im Wissen wie im Handeln. Er würde das Höchste geleistet haben, wenn er erst zur inneren Beruhigung gelangt wäre.«

Vielleicht war er dieser »inneren Beruhigung« näher, als der Bruder vermutete. Die Unruhe, die Kämpfe, die Leidenschaften, die ihn bis zu jener vorgeschilderten Epoche (im Sommer 1811) verzehrt haben mochten, hatten seitdem ruhigeren Anschauungen Platz gemacht, Anschauungen, die freilich dem älteren Bruder zu großem Teil ein Geheimnis geblieben waren. Sie sahen sich damals zu selten, als daß es sich für den letztren ermöglicht hätte, solche Wandlungen zu beobachten. Alexander von der Marwitz hatte bis zu jener Zeit ganz und gar den genialischen Leuten unserer politischen Sturm-und-Drang-Periode angehört; aber gegen das krankhafte Übermaß in Hoffen und Wollen war endlich seitens seiner angeborenen guten und gesunden Natur eine Reaktion eingetreten, und die Handelweise seiner letzten Lebensjahre würde uns darüber aufklären können, wenn es nicht direkte Worte täten. »Fernab sind mir jetzt alle Träume von Heldengröße und äußerer Bedeutsamkeit. Führt mich das Schicksal dahin, wo ich in großen Kreisen zu wirken habe, so will ich auch das können, aber meine Hoffnungen, meine Plane sind nicht länger darauf gestellt.« So hatte er an Rahel geschrieben, und diese schon oben zitierten Worte bezeichneten in Wahrheit einen Wendepunkt in seinem Leben, den ersten Moment der Genesung. Der ältere Bruder kannte weder diese Worte noch die Wandlung des Gemüts, der sie Ausdruck liehen. Marwitz, als ihn der Tod ereilte, hatte den Hang und Drang nach dem Unerreichbaren aufgegeben, er stand nicht mehr kritisch und ironisch außerhalb des Kreises, sondern mitschaffend und mitgestaltend innerhalb desselben. Was er wollte, war ein Erreichbares geworden. Ob die Wege, die Preußen einschlug, nachdem die Gefahr von außen her beseitigt und die Triebkraft der Nation auf Dezennien hin verzehrt war, ihm gefallen hätten, muß freilich billig bezweifelt werden, und in diesem Sinne, aber auch nur in diesem, stehen wir nicht an, die Worte des älteren Bruders zu den unsrigen zu machen: »Es war ein Glück zu nennen, daß Gott ihm verlieh, in seinem siebenundzwanzigsten Jahre für das Vaterland zu sterben.« Auf dem Friedhofe zu Friedersdorf hat die Liebe des Bruders auch ihm, neben dem bei Aspern gefallenen Eberhard von der Marwitz, einen Denkstein errichtet, der die Inschrift trägt:

»Christian Gustav Alexander von der Marwitz, geboren den 4. Oktober 1787. Lebte für die Wissenschaften. Erstieg deren Gipfel. Redete sieben Sprachen. Wahrete dieses Vatergutes 1806 und 1807, wie der Bruder zu Felde lag. Von Freiheitsliebe ergriffen, focht er 1809 in Österreich bei Wagram und Znaim. Diente 1813 dem Vaterlande. Schwer verwundet und gefangen, befreite er sich selbst. Wieder genesen, focht er in Frankreich und fiel dort bei Montmirail den 11. Februar 1814. Sein Vater war Behrend Friedrich August von der Marwitz, seine Mutter Susanne Sophie Marie Luise von Dorville. Hier stand er hoch, dort höher. Seinem Andenken gesetzt von seinem Bruder.«

Es erübrigt uns noch, ehe wir Abschied nehmen von Friedersdorf, ein Umblick in den Räumen des Schlosses selbst.

Auch hier heißt es: Die Schale bildet sich nach dem Kern. Die hohe, schwere Eichentreppe hinauf, treten wir, am Ausgang eines Korridors, in das Wohn- und Arbeitszimmer August Ludwigs von der Marwitz. Es ist ein großer luftiger Raum, den aneinandergereihte verhältnismäßig niedrige Wandschränke, nach Art einer Birkenmaserpaneelierung, umziehen. Hier entstanden jene Arbeiten, die, nach der Seite des Wissens und Talentes hin hervorragend, in noch höherem Maße sich auszeichnen durch ihren Mut und ihre Selbständigkeit und der Mittelpunkt der Bestrebungen geworden sind, die sich, um es zu wiederholen, seitdem längst das Recht der Existenz erobert haben.

Unsere Aufmerksamkeit gehört aber nicht länger der Tätigkeit des Mannes, sondern nur dem Orte, an dem er tätig war. Die Wandschränke bergen in ihrer Tiefe den besten Teil jener mehrerwähnten Bibliothek, die der Hubertsburg-Marwitz dem Quintus Icilius bändeweis im Spiel abgewonnen, während die vielen Türfelder die Rahmen für ebenso viele Kupferstiche bilden. Diese Benutzung macht einen eigentümlichen und sehr gefälligen Eindruck, der unter der Wahrnehmung wächst, daß die Auswahl der Bilder mehr nach kleinen Liebhabereien als nach irgendwelchem Kunstprinzip erfolgte. Neben den Abenteuern des Don Quixote begegnen wir ernsten und heitern Szenen aus der Zeit der Befreiungskriege; alte französische Stiche und moderne Gravierungen lösen sich ab. Interessanter noch als diese Schränke selbst erscheinen die Gegenstände, die sich oberhalb derselben aufgestellt befinden: alte Portraits aus dem Hause Holstein-Beck, ein Brustbild Friedrich von Derfflingers, Sohnes des Feldmarschalls, Büsten und Vasen und endlich ein Reitercasquet und ein sonderbar geformter schwarzer Wachstuchhut, dessen nach hinten zu herabhängende Krempe an die Helgoländer Schifferhüte erinnert. Das Casquet ist Eberhards von der Marwitz Chevau-légers-Helm aus der Schlacht von Groß-Aspern, und den schwarzen Wachstuchhut trug August Ludwig von der Marwitz am Tage von Auerstedt. Die vordere, hochstehende Krempe ist von Kugeln durchlöchert.

Den Tag selbst aber hat er in seinen hinterlassenen Schriften mit jener Klarheit und mutigen Unparteilichkeit geschildert, denen wir in der Gesamtheit seiner historischen Aufzeichnungen begegnen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil