Abschnitt 5

Der Oderbruch und seine Umgebung


Schloß Friedersdorf


Alexander von der Marwitz


»Ich bin bis jetzt hier geblieben, teure Rahel, und hatte vor, noch einen Monat hier zu bleiben, weil, ungeachtet der Gespenster, die in meinem Innern herumwandeln, doch eigentlich der Körper durch Landluft gedeiht und ich jene durch Tätigkeit zu verscheuchen hoffte. Aber ich traue nicht mehr, denn gesunder bin ich zwar, aber nicht weniger reizbar. Ein einziger Moment kann mich dahin zurückwerfen, wo ich war, und was am Ende aus dem finstern Brüten werden kann, übersehe ich nicht. Nun sehe ich zwei Auswege. Der eine ist, mit Ihnen nach Teplitz zu gehen (unbeschreiblich reizend), der andere ist eine Reise nach England und von dort aus weiter nach Spanien, wo ich Dienste nehmen kann. Wäre es so unrecht, die Kraft der südlichen Sonne an mir zu prüfen?«

Diese Bruchstücke zeigen zur Genüge, daß er unmittelbar vor seinem Abgange aus Berlin einen Entschluß gefaßt hatte. Er will den Anblick fliehen, der so viele Gefahren in sich birgt; darum dehnt er auch den Aufenthalt in Friedersdorf aus. Er will nicht nach Berlin zurück, denn »er traut sich selbst nicht und fürchtet, daß er dahin zurückgeworfen werden könne, wo er war«. Er bangt vor der Möglichkeit neuen Brütens, neu aufsteigender Gespenster, und er will fort, weit fort – nach Spanien. Er will Dienste nehmen und das Notwendige und Nützliche zugleich erfüllen, notwendig ihm allein, aber nützlich der Allgemeinheit, der guten Sache.

Rahels Antworten indessen halten ihn in der Heimat fest und führen ihn endlich aus seiner Friedersdorfer Verbannung wieder in die Welt zurück. »Sie dürfen nicht vereinsamen. In Friedersdorf ist keine Gesellschaft für Sie, und die müssen Sie haben, lebendigen, alles anregenden Umgang. Sie gehen da in Ihren eigenen Stimmungen wie in einem Zauberwald umher und werden bald nichts mehr vernehmen können.«

Zuletzt hat er überwunden, und er schreibt, frühere Briefworte Rahels in seiner Antwort wiederholend: »›Leben, lieben, studieren, fleißig sein, heiraten, wenn’s so kommt, jede Kleinigkeit recht und lebendig machen, dies ist immer gelebt, und dies wehrt niemand‹;... Ja, Sie haben recht, liebe Rahel. Ja, ich weiß das jetzt. Fernab sind mir jetzt alle Träume von Heldengröße und äußerer Bedeutsamkeit; führt mich das Schicksal dahin, wo ich in großen Kreisen zu wirken habe, so will ich auch das können, aber meine Hoffnungen, meine Pläne sind nicht darauf gestellt. Ich klage auch nicht länger über die Zeit; ganz dumm ist, wer das tut. Wem das Herrliche im Gemüt gegeben ist, dem wird alle Zeit herrlich.«

Beinahe gleichzeitig mit diesem Briefe sehen wir Marwitz nach Berlin zurückkehren, und ein neues, klareres Leben beginnt. Es ist plötzlich, als habe der Most ausgegoren. Viele Ideale sind hin, aber das Schillersche Trostwort: »Beschäftigung, die nie ermattet«, wird auch ein Trostwort für ihn. Ernst, Arbeit nehmen von ihm Besitz, das wirkliche Leben, wie es ist, wohl oder übel, ist plötzlich für ihn da, er stellt sich zu demselben und tritt, mitwirkend, mitstrebend an dem Nächstliegenden, in dieses wirkliche Leben ein.

Er übersiedelte nach Potsdam, um bei der dortigen Regierung als Hülfsarbeiter einzutreten. Zugleich beschäftigten ihn Vorarbeiten zu einem juristischen oder kameralistischen Examen, das er noch zu absolvieren hatte. Es heißt, als er einige Monate später wirklich an die Absolvierung desselben ging, hätten die Examinatoren offen erklärt, »daß es sich bei dem glänzenden und vielseitigen Wissen des zu Examinierenden nur um die Erfüllung einer Form handeln könne, deren Innehaltung ihnen Verlegenheit bereite«.

Marwitz blieb in Potsdam etwa anderthalb Jahre, vom Sommer 1811 bis zum Schluß des Jahres 1812. Wir können diesen Zeitraum, wie auch das Jahr 1813, das er draußen im Felde zubrachte, besser überblicken als irgendeine andere Epoche seines Lebens und haben den Eindruck einer nicht länger ins Weite schweifenden Existenz. Die Richtung auf das »Immense« ist aufgegeben, und das Bestreben wird sichtbar, von einem bestimmten Punkt aus, nach der ihm gewordenen Kraft zu wirken und zu gestalten. Er hat nicht das Glück, aber doch Bescheidung und Ergebung gefunden; die Leidenschaften sind gezähmt. Eine gerade in dieser Zeit besonders lebhafte Korrespondenz zwischen ihm und Rahel läßt uns Einblick in wenigstens eine Seite seines Tuns und Treibens gewinnen. Politische Dinge werden wenig berührt, oder doch nur in philosophisch abstrakter Weise. Persönlichstes aber kommt ausführlich zur Sprache, und ästhetische Fragen werden mit Vorliebe behandelt. »Antworten Sie gleich, Ihre Briefe sind mir unentbehrlich«, schreibt Marwitz und fährt an einer anderen Stelle fort: »O wüßten Sie, wie ich Ihre Briefe empfange! Ich lese sie drei-, viermal hintereinander, und dann laufe ich im Zimmer umher und lasse den Inhalt Ihrer Zeilen in mir nachklingen.« Tagebuchartig werden die Briefe geführt, was der Tag bringt und verweigert, wird besprochen. »Mit welchem Herzensanteil verfolg ich Ihre Spaziergänge in Sanssouci, wie gerne nähme ich teil daran!« schreibt Rahel, und Marwitz antwortet: »Auf Sanssouci war ich lange nicht, es ist jetzt dort stürmisch und öde; öfters ging ich im Neuen Garten, wo der flutende See und die vielen dichten Tannengebüsche es lebendiger machen und die Marmorhalle vor dem Hause mir ernste, rührende und schwermütige Gedanken erweckt.« Immer wird von Berlin aus zur Arbeit ermutigt. »Nur ans Werk, wir warten hier auf Ihre Arbeit über die Propyläen und über die ›Politik‹ des Aristoteles.« Daran schließen sich die Vorkommnisse der großen Stadt; Reflexionen ranken sich um Großes und Kleines. »Gern hätte ich Ihnen gestern schon geschrieben, wenn mich nicht die Nachricht von Heinrich Kleists Tod völlig eingenommen hätte. Ich kenne nicht die näheren Umstände seines Todes; aber es ist und bleibt ein Mut. Wer bangte nicht vor jenen ›dunkeln Möglichkeiten‹? Forsche ein jeder selbst, ob es viele oder wenige sind.« So schreibt Rahel, wohl in Vergessenheit, daß sie die Antwort auf diesen Brief vorweg empfangen hatte, als ihr Marwitz von Friedersdorf aus die schon zitierten Worte schrieb: »Mir ist der Selbstmord immer wie eine verruchte Roheit vorgekommen.«

So läuft das briefliche Geplauder zwischen den Befreundeten, einmal heiter, einmal paradox, einmal tief, wie Stimmung und Ereignis das Wort gestalten. Jeden Abend schrieb er; aber der Tag gehörte den Studien. Die Marwitzsche Familie ist noch im Besitz umfangreicher Essays, kritischer Abhandlungen und Gutachten, die jener reifen Zeit ihre Entstehung verdanken. Alle diese Memoires teilen sich in zwei Gruppen, in politische und staatswissenschaftliche. In den Charakter und die Eigenart Napoleons einzudringen, schien er sich zu einer besondern Aufgabe gemacht zu haben, und man erstaunt billig über die Reichhaltigkeit der zu diesem Zweck unternommenen Studien. Alles, was erschien, wurde gelesen und exzerpiert und unter der Überschrift »Bonapartiana« zusammengestellt. Dazu gesellten sich mündliche Mitteilungen und Auszüge aus Briefen. Was der Tag brachte, ward in bunter Reihenfolge registriert, und Oberst Spiegel, Gentz, Brinkman, Fürst Liechtenstein, Oberst Bentheim, Itzenplitz, Müffling, General Krusemarck fanden sich hier auf denselben Blättern zusammen. »Chassez moi cette canaille là!«, so erzählt Oberst Spiegel, donnerte Bonaparte einem seiner Kammerherrn zu, als er bei einer großen Cour jene dreizehn Kardinäle erblickte, die sich in der Scheidungs- und Wiedervermählungsfrage gegen ihn erklärt hatten. Und wenige Tage später – so fährt derselbe Oberst Spiegel fort – spuckte der Kaiser, mit unverkennbarer Absicht, mitten in die Reihe der Könige hinein, die bei der großen Vermählungszeremonie mit Marie Louise unmittelbar hinter ihm standen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil