Abschnitt 4

Der Oderbruch und seine Umgebung


Schloß Friedersdorf


Alexander von der Marwitz


Das Kriegsleben war etwas, wie es zu Marwitz’ innerstem Wesen stimmte, aber das Garnisonsleben war wenig nach seinem Sinn. Alsbald fehlten die Anregungen, ohne die er, wenn der Krieg nicht seine Würfel warf, nicht leben konnte. Wie viele Leute gab es in Olmütz und Prag, die ihm ein Gespräch mit Johann von Müller, mit Niebuhr oder mit Rahel Levin hätten ersetzen können! Während des Waffenstillstandes, solange die Wiederaufnahme des Krieges noch eine Möglichkeit war, beschäftigten ihn militärische Gedanken, an deren Ausarbeitung er mit einer Raschheit und einem Scharfsinn ging, als habe irgendein Hauptquartier ihn großgezogen und nicht der Hörsaal oder der Salon. Er entwarf unter anderem ein Exposé, wie, bei Wiedereröffnung des Kampfes, die österreichische Armee zu operieren habe. Eine umfangreiche Arbeit. Über den strategischen Wert derselben schweig ich, sie entzieht sich der Kritik eines Laien, aber die Klarheit der Darstellung ist bewundernswert und fast mehr noch die kühne Selbständigkeit, die ihm die Idee eingab, durch eine weit ausholende Flankenbewegung der Napoleonischen Armee den Rücken abzugewinnen. Er drückte dies in folgenden Worten aus: »Eine veränderte Frontstellung muß unser strategisches Prinzip sein; Front gegen Osten oder Nordosten – so müssen wir den Angriff erwarten.«

Aber der Waffenstillstand führte zum Frieden, und mit dem Frieden schwand ihm, ganz abgesehen von jener Aufregung, die ihm Bedürfnis war, auch jene aufs Ganze und Große gerichtete Tätigkeit, deren er bedurfte. Das Einerlei des Dienstes fing an, ihn zu drücken. Eine Korrespondenz, darunter auch der Austausch einiger Briefe mit Rahel, war kein Ersatz für so vieles andere, was fehlte, und so nahm er denn den Abschied. Im Herbst 1810 war er wieder in Berlin.

Das alte Leben, das ihm so teuer war, nahm hier aufs neue seinen Anfang. Die Bücher, die Studien, der gesellige Verkehr, die Plauderei, die Friktion der Geister, das Blitzen der Gedanken – er hing an dieser Art der Existenz, und doch, wenn er sie hatte, genügte sie ihm nicht. Er kam zu keinem Glück, wenigstens damals nicht. Das Gegenwärtige immer klein findend, von der Zukunft und sich selbst das Höchste wollend, rang er einer Traumwelt nach und verlor die wirkliche Welt unter den Füßen. Er gehörte so recht zu denen, die den Genuß nicht genießen, weil sie selbst im Besitz des Höchsten und Liebsten die Vorstellung nicht aufgeben mögen, daß es noch ein Höheres und Lieberes gibt.

In diesem Sinne schreibt Rahel zu Anfang des Jahres 1811. »Und wie treiben’s unsere Besten? Ruhm wollen sie, wollen zehren, ohne beizutragen, und – nichts kriegen sie. Besseres noch, so denken sie, werden sie finden, und – nichts finden sie. Statt ihren wahren Freunden selbst Freund zu sein, statt ihnen etwas zu leisten und sich des Glückes zu freuen, das sie durch Opfer und Guttat geschaffen, vergeuden sie ihre beste Kraft in der Beschäftigung mit ihren Plänen, im Kampf mit Phantomen. Marwitz hab ich dies noch nie gesagt, weil ich ihn zu sehr liebe und es zu persönlich würde.«

So klagte Rahel über ihren »liebsten Freund« in einer Zeit, wo täglicher Verkehr und rückhaltloses Vertrauen ihr die beste Gelegenheit gab, einen Einblick in die Vorgänge seines Herzens zu gewinnen.

»Er war des Lebens früh überdrüssig und durchaus ermüdet vom täglichen Einerlei, wenn das Gewaltigste sich nicht von Tage zu Tage jagte.« So beschreibt ihn sein älterer Bruder. Er war ruhelos, unbefriedigt, unglücklich. Aber wir würden ihm Unrecht tun, wenn wir dieses Unbefriedigtsein, diesen Lebensüberdruß, Erscheinungen, die mitunter an die krankhaften Stimmungen Heinrich von Kleists erinnern, ausschließlich auf Rechnung eines überreizten Gemütes setzen wollten. Er war allerdings unstet und ruhelos, weil er einem »Phantom« nachjagte, das sich nicht erreichen und erringen ließ, aber er litt auch in aller Wahrheit und Wirklichkeit unter der Wucht schwerer Schläge. Wenn sich eigene Schuld mit einmischte, um so schlimmer. Er hatte ein Recht, ernster dreinzuschauen als mancher andere. Die Schmach des Vaterlandes, die Eisenhand des Unterdrückers, das alles waren sehr wirkliche Dinge, die damals manches Herz mit Schwermut oder Fanatismus erfüllten. Vor Marwitz aber stand noch ein anderes: sein Traum brachte ihm die Gestalt des polternden, zornroten und dann so still und blaß gewordenen Wirts, und wenn die Gestalt verschwand, so zog an ihrer Statt das Bild einer schönen Frau herauf, zu der er sich mit glühender, immer wachsender Leidenschaft hingezogen fühlte. Der Tag ist noch nicht da, über dieses Verhältnis ausführlicher zu sprechen; vielleicht wird die Pietät gegen einen unserer gefeiertsten Namen es für immer verbieten. Zorn und Liebe, Gewissensangst und Leidenschaft rangen auf und ab in Marwitzens Herzen, und es hätte des heißen Verlangens nach Ruhm und Auszeichnung, nach einem unbestimmten Höchsten nicht bedurft um jene Rastlosigkeit zu schaffen, die zugleich ein Verlangen nach Ruhe war.

Im Mai 1811 ging Marwitz auf kurze Zeit nach Friedersdorf. Die Veranlassung dazu war nicht angetan, ihm die Heiterkeit zurückzugeben, deren er so sehr bedurfte. Das Eintreten des älteren Bruders für das ständische Recht hatte zu seiner Verurteilung geführt, und während er nach Spandau ging, um daselbst seine Haft anzutreten, trat der jüngere Bruder für ihn ein, um, wie fünf Jahre früher, die Verwaltung des Guts zu übernehmen. Dieser nur kurze Aufenthalt in Friedersdorf scheint eine Krisis für ihn gewesen zu sein. Während ihn die zwischen ihm und der Rahel in dieser Zeit gewechselten Briefe zunächst noch auf einem Höhepunkte der Schwermut und Ratlosigkeit zeigen, klärt sich gegen das Ende hin alles auf. Das Gewitter scheint vorüber, und wir blicken wieder in klaren Himmel. Einzelne Briefbruchstücke aus jener Zeit mögen diesen Übergang vom Trübsinn bis zur neu erwachenden Hoffnung zeigen.

»Mit mir wird es besser. Zwar will mir das Herz noch zuweilen erkranken, aber ich gebiete ihm Ruhe. Wille und Tätigkeit bändigen es. Machen Sie sich meinetwegen keinen Kummer. Untergehen kann ich, aber mir zum Ekel, andern zur Last leben, das kann ich nicht. Und das ist doch noch sehr glücklich. Ich habe in dieser Zeit zuweilen an den Selbstmord gedacht, aber immer ist er mir vorgekommen wie eine versuchte Roheit.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil