Abschnitt 3

Der Oderbruch und seine Umgebung


Buckow


Wir nehmen nun unsern Stand und haben vielleicht das schönste Landschaftsbild vor uns, das die »Märkische Schweiz« oder doch der »Kanton Buckow« aufzuweisen vermag. Links und rechts, in gleicher Höhe mit uns, die Raps- und Saatfelder des Plateaus, unmittelbar unter uns der blaue, leis gekräuselte Schermützel-See, drüben am andern Ufer, in den Schluchten verschwindend und wieder zum Vorschein kommend, die Stadt und endlich hinter derselben eine bis hoch hinauf mit jungen frischgrünen Kiefern und dunklen Schwarztannen besetzte Berglehne. Die Nachmittagssonne fällt auf die Stadt, die mit ihren roten Dächern und weißen Giebeln wie ein Bild auf dem dunklen Hintergrunde der Tannen steht, das Auge aber, wohin es auch durch die Mannigfaltigkeit des Bildes gelockt werden möge, kehrt immer wieder auf den rätselvollen See zurück, der in genau zu verfolgenden Linien unter uns liegt.

Auf den rätselvollen See. Noch wissen wir es nicht, aber wir ahnen es, daß er unter andern Schätzen auch einen Sagenschatz umschließen muß, und unser Führer, ein Buckower Fischer, der uns bis hierher schweigend geleitet, hebt jetzt an: »Dort unten liegt die alte Stadt. Drüben am andern Ufer, wo Sie die spiegelglatte Stelle sehen, dort hat Alt-Buckow gestanden. Wir kennen die Stelle ganz genau. Von dem Eck dort, wo die Binsen hundert Schritt weit in den See hineingehen, bis hier gradüber von uns, wo die Weiden ins Wasser hängen – so weit ging die Stadt. Ich spreche nicht von Glocken, die bei Sonnenuntergang klingen, Alt-Buckow hatte schwerlich Glocken, aber das müssen Sie schon glauben, daß wir an klaren Tagen zehn Fuß tief unterm Spiegel allerhand Pfahlwerk stehen sehn, Blockhäuser vielleicht, jedenfalls Zaun und Steg, und mancher unter uns hat etwas von dem Pfahlwerk herausgeholt und ihm einen guten Platz im Hausflur gegeben. Wir denken, es ist ein Segen dabei.« Der Erzählende machte hier eine Pause, während deren er mich scharf ansah. Dann fuhr er fort: »Drüben, wo die Stadt stand, ist der See flach, wenigstens eine kurze Strecke; hier unter uns aber ist er tief, an hundert Fuß und darüber; hier wimmelt es auch von Fischen, aber wir haben wenig davon. Wenn wir hier Netze ziehn, so gehen die Fische tiefer, und wollen wir ihnen nach, so kommen wir in den alten Eichwald, der hier unten steht. Die Maschen zerreißen dann, die Fische schlüpfen durch, und ein paar abgebrochene Zacken sind alles, was wir mit nach oben bringen. Ja, so hat sich’s geändert. Einst war alles Berg hier, und Stadt und Wald standen zwischen hüben und drüben, wie wir beide jetzt auf dieser Höhe stehn. In einer Nacht aber war alles vorbei. Der Berg ging nach unten, und der See kam herauf.«

Eine kühle Luft wehte über das Feld, und ein leises Unbehagen lief mir über den Rücken. Indessen, ich wußte doch nun, was es war, daß mich der Schermützel so ganz anders angeblickt hatte wie manch andrer See, und ich warf mich nieder und streckte den Kopf über den Abgrund hinaus, wenigstens den Wunsch im Herzen, unten ein Eichenskelett bis an den Wasserspiegel heraufragen und die Fische durch seine Zackenkronen hindurchhuschen zu sehn. Ich sah es auch wirklich, aber mit dem Bewußtsein, daß es Täuschung sei.

Wir traten nun den Rückweg an und plauderten über dies und das. Des Sees Sagen verließen mich nicht und begleiteten mich bis schließlich wieder daheim, wo ich in Büchern nachzuschlagen und nach der Vorgeschichte des »großen Schermützel« zu suchen begann. Was ich fand, ist das. Viele unsrer märkischen Seen und seeartigen Vertiefungen sollen durch sogenannte Erdfälle entstanden sein. Man hat keine andre Erklärung. Plötzlich und unvermittelt inmitten eines Plateaus auftretend, wie dies namentlich beim Schermützel-See der Fall ist, ist es nicht möglich, von hereinbrechenden Wasserfluten, von Flußbett oder Strömungen zu sprechen. Es ist nichts von außen Herantretendes, was die Erklärung geben kann, es muß vielmehr ein innerlicher Vorgang, ein eminent lokaler sein. Man denkt sich die Sache so. Das Innere der Erde hat Höhlen, deren Wände und Deckengewölbe die Hand der Natur mit Kalk oder Gipsmassen umkleidet hat. Solche natürlichen Tunnel sind entweder völlig hohl und leer oder aber mehr oder weniger mit Wasser gefüllt. Über solchem gewölbten Riesentunnel liegt Erdreich, wieviel, ist gleichgültig, und auf dem Erdreich steht eine Stadt oder wächst ein Wald. So geht es durch ein Jahrtausend. Da plötzlich, sei es durch einen Ruck von unten oder durch sickernde Wasser von oben her, bricht das Tunnelgewölbe ein, und wie ein Haus, das seine Balkenlage verliert, in den Keller stürzt, so fährt nun das Erdreich mit allem, was darauf wuchs und stand, in die plötzlich geöffnete Tiefe herab. War der Tunnel leer, so zeigt sich nunmehr einfach eine Vertiefung, wo sonst eine Fläche war, war der Tunnel aber umgekehrt ein riesiges übermauertes Wasserreservoir, so schlagen nun die frei gewordenen Wasser über allem, was niedergefahren ist, zusammen, und – ein See steht ruhig über Stadt und Wald.

Eine geognostische Autorität hat die hübsche Wendung gebraucht: »daß die Natur bei der Bildung von Erdfällen nur erst selten auf frischer Tat ertappt worden sei«, ein Umstand, zu dem wir uns, so lehrreich das Gegenteil auch sein würde, im ganzen genommen zu gratulieren haben. Wär es anders, wären wir in der Lage, diese »Erdfälle«, wie Sternschnuppenfälle im August, regelmäßig beobachten zu können, so würde das mit Vulkanen übersäete Zentralamerika ein vergleichungsweise bequemer Aufenthalt sein. Denn was sind schließlich » Erdbeben« gegen solche » Erdfälle«, wo die Erde gleichsam sich selbst zu verschlingen beginnt. Sind übrigens die Annahmen über die Bildung mehrerer unsrer größten und schönsten Seen nur halbwegs richtig, so haben die Vorbewohner der Mark von diesen »interessanten Naturerscheinungen« mehr denn zur Genüge gehabt. Der Kressinsche See nicht weit von Saarmund, der Gohlitz-See im Amt Lehnin, der Gudelack-See bei Lindow und der große Paarsteiner See bei Kloster Chorin sollen durch solche Erdfälle entstanden sein, der zahlreichen, überall vorkommenden Teufelsseen ganz zu geschweigen. Wo zwischen zwei abschüssigen Hügelwänden sich plötzlich ein trichterförmiger See einklemmt, der weder Zu- noch Abfluß, wohl aber eine bedeutende Tiefe hat, da liegt immer Grund vor, einen früher oder später erfolgten »Erdfall« zu vermuten. Erzählt aber gar die Sage von untergegangenen Dörfern und Städten, so ist es gut, dem Volksmunde zu glauben und die Zweifel zu Haus zu lassen. Ob die Glocken dann abends in der Tiefe klingen oder nicht – der ist nicht beneidenswert, der sie schlechterdings nicht zu hören vermag.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 2. Teil