Abschnitt 2

Auf dem Plateau


Gentzrode


3. Die Turmknopf-Urkunde


Der alte Graf Zieten auf Wustrau


Etwa eine Woche später war das Begräbnis, und mit einer Gentzschen Schilderung desselben möcht ich diese Graf-Zieten-Skizze schließen.

»An Beteiligung war kein Mangel, ja, es waren mehr Personen zugegen, als eigentlich Anspruch darauf hatten. Zunächst fehlte kein Edelmann und Rittergutsbesitzer aus dem ganzen Ruppiner Kreise; das war selbstverständlich. Aber auch das Bürgertum, das ›Volk‹, machte sich auf den Weg, und die nach Wustrau führende große Straße war schon in aller Frühe von schwarzgekleideten Trauergästen belebt. Wer keinen Wagen hatte, ging zu Fuß, und so sah ich Ruppiner Damen aus den oberen Ständen, die nur zur Befriedigung ihrer Neugier die kleine Fußreise (fünfviertel Meilen) machten. Endlich erschien auch die Ruppiner Schützengilde mit Epauletts und Tressen und goldgesticktem Kragen. Jeder sah aus wie ein Major. Überhaupt war, wenn ich von den angeschimmelten Kasimirhosen einiger Landstandsmitglieder absehe, kein Mangel an glänzenden Uniformen, besonders an Husarenuniformen, unter denen eine von altertümlichem Schnitt (wahrscheinlich aus der Zeit unmittelbar vor 1806) am meisten Bewunderung fand. Es war ein alter weißköpfiger von Bredow, der sie trug.

Alles versammelte sich zunächst vor dem Schloß und hatte, bei der besonders starken Hitze, die herrschte, durchaus kein Verlangen, in das Schloß hinein und in die Nähe des Toten zu kommen. Aber endlich war es nicht länger hinauszuschieben, und da standen wir nun – auch die ›Honoratioren‹ hatten Zutritt – am Sarge, zu dessen Häupten die von Tassaerts Meisterhand herrührende Portraitbüste seines Vaters, des alten, berühmten Zieten, aufragte. Daneben stand der Prediger und hob seinen Sermon an, und wer nicht wußte, daß es der Sohn sei, der hätte glauben müssen, es sei der Vater. Der Sohn aber, wenn er hätte sprechen können, hätte mit seiner scharfen Stimme gerufen: ›Du lügst‹, denn wie schwach es mit des alten Grafen Tugenden auch stehn mochte, von einer Sünde war er frei, von der der Heuchelei. Ganz ein Kind des vorigen Jahrhunderts, in dessen Aufklärungsjahrzehnte seine Jugend fiel, war er voll Haß gegen die Kirche und voll Spott gegen ihre Diener. Das letzte der ganzen Szene war ein Akt des Heroismus: die Wustrauer Bauern nämlich, ohne sich mit der vom Mittelalter überkommenen Zitrone bewehrt zu haben, traten heran, luden den Sarg auf ihre Schultern und trugen ihn bis zu der Begräbnisstätte, die der Alte sich sorglich vorher bereitet hatte.

Gesang und Gebet. Dann aber war alles beflissen – denn jeder sehnte sich nach Imbiß und Stärkung –, vom Kirchhofe wieder nach dem Schlosse zurückzukehren, in dessen mit den Portraits der ehemaligen Offiziere des Zietenschen Husarenregiments geschmücktem großen Saal man mittlerweile Tische gestellt und die Tafel gedeckt hatte, gedeckt mit einem Gefühl für Repräsentation, ja mit einer Opulenz, die diese Räume seit länger als einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen hatten. Dieser Opulenz entsprach denn auch der Bravourangriff auf die Flaschenbatterie, der einige der Jüngeren, bei der eminenten und fortgesetzten Energie des Angriffs, zu erliegen drohten.

Und jetzt war es denn auch, daß von unten her der Ruf in den Saal drang: ›Wir haben auch Hunger‹, ein immer lauter werdender Schrei, der von den vielen Hunderten ausging, die nicht eigentlich zu den Geladenen zählten, inzwischen aber auf dem Rasenplatz vor dem Schloß und besonders auf der Rampe desselben Aufstellung genommen hatten. Es wurden aufrichtig gemeinte Versuche gemacht das von außen her um Brot schreiende Volk zu befriedigen, aber die besten Anstrengungen erlahmten an der Menge derer, die forderten, und so kam es denn, daß, eh es möglich war, es zu hindern (auch fehlte wohl, weil man kein Ärgernis geben wollte, der Wille dazu), die draußen versammelte Menge von der Rampe her in das Schloß einbrach und durch einen feinen Instinkt, vielleicht auch durch die Lokalkenntnis eines einzelnen geleitet, ihren Weg in den über Erwarten leidlich ausgestatteten Weinkeller nahm. Nun war dieser Keller sicherlich nicht die Stätte nennenswerter Château-Weine, das lange Lagern indes, zu dem die wirtschaftlichen Normen des Alten die reichste Gelegenheit geboten hatten, hatte zur Aufbesserung wenigstens das möglichste getan und immerhin etwas Trinkbares hergestellt. Was nicht an Ort und Stelle ausgetrunken wurde, nahm man in Park und Garten mit hinauf, und als die letzte Flasche leer war, begann ein Singen und allgemeines Verlangen nach den Dorfmusikanten, die glücklicherweise nicht kamen und den Begräbnistag des letzten Wustrauer Zieten davor bewahrten, in einem bal champêtre sein Ende zu finden. Endlich erschienen aus der Stadt herbeigerufene Polizeisergeanten und räumten den Park, denselben Park, den der Alte (die beste Tat seines Lebens) mit soviel Liebenswürdigkeit durch zwei Menschenalter hin zur Verfügung des Ruppiner Volks gestellt hatte. Mit Kraftliedern und Zechgelagen war ihm heute der ›Dank des Volkes‹ dafür abgestattet worden.«

So der Teil des A. Gentzschen Manuskripts, der sich mit den Personen und Zuständen einer um mehr als dreißig Jahre zurückliegenden Epoche beschäftigt.

Alle, die genannt wurden, sind längst vom Schauplatz abgetreten, vielfach auch schon wieder ihre Kinder. Trotzdem wird es nicht ausbleiben, daß sich einzelne durch gegen den Vater oder Großvater gerichtete Spöttereien unangenehm berührt fühlen. Auch das über den alten Grafen Zieten Gesagte wird einer Beanstandung in einzelnen Gesellschaftskreisen nicht entgehn. Allen aber möcht ich aus einer langen literarischen Erfahrung zurufen dürfen: Wer solche Quellen aus Familienrücksichten absperren will, der steht nicht bloß der historischen Forschung (zu deren vorzüglichsten Objekten auch das Studium des Kleinlebens gehört), sondern vor allem auch sich selbst und den Seinen im Lichte. Das protestantische Volk verlangt keine Heiligen, eher das Gegenteil; es verlangt Menschen 5) , und alle seine Lieblingsfiguren: Friedrich Wilhelm I., der große König, Seydlitz, Blücher, Yorck, Wrangel, Prinz Friedrich Karl, Bismarck, sind nach einer bestimmten Seite hin, und oft nach mehr als einer Seite hin, sehr angreifbar gewesen. Der Hinweis auf ihre schwachen Punkte hat aber noch keinem von ihnen geschadet. Gestalten wie Moltke bilden ganz und gar die Ausnahme, weshalb auch die Moltke-Begrüßung vorwiegend eine Moltke-Bewunderung ist und mehr aus dem Kopf als aus dem Herzen stammt.




5) Wir lieben nur das Individuelle«, schreibt der in allem recht behaltende Goethe. »Daher« (so fährt er fort) »unsere große Freude an Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten abgeschiedener, selbst unbedeutender Menschen.« Und er hätte hinzusetzen können, auch solcher »of a questionable shape«.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil