Abschnitt 1

Auf dem Plateau


Ganzer


Noch einmal:

Frau von Jürgaß, geborene von Zieten


Zehn Jahre nachdem das vorstehende Kapitel geschrieben und eine Charakterskizze der alten Frau von Jürgaß versucht wurde, ging mir durch Frau von Romberg, geborne Gräfin von Dönhoff († 1879) eine zweite, denselben Gegenstand behandelnde Schilderung zu, der ich nachstehendes entnehme.

»Als ich im Jahre 1818, eben verheiratet, nach dem Rombergschen Gute Brunn, in der Grafschaft Ruppin, zog, lernte ich Frau von Jürgaß, die Tochter des berühmten ›alten Zieten‹, auf ihrem benachbarten Gute Ganzer kennen. Sie war schon hochbetagt, und ich kann also von dem, was zurücklag, wenig oder nichts berichten. Ich weiß weder das Jahr ihrer Geburt, noch wo und wie sie ihre Kindheit und Jugendjahre verbrachte, nicht einmal, an welchem der Berliner Höfe sie als Hofdame fungierte, bevor sie sich (nicht mehr in der ersten Jugendblüte) mit ihrem fünf Jahre jüngeren Manne, dem damals sehr schönen und von ihr mit schwärmerischer Liebe geliebten Karl von Jürgaß, vermählte, mit dem sie dann auf sein nicht großes, aber hübsches und einträgliches Landgut Ganzer zog. Oft erzählte sie mir später von der Verlegenheit, mit der sie sich – ein verwöhntes und jeder häuslichen Sorge völlig überhobenes Hoffräulein – plötzlich an der Spitze einer großen Landwirtschaft befunden habe, deren ganzer Betrieb ihr fremd gewesen sei. Schnell aber war ihr Entschluß gefaßt, sich unbefangen in die Lehre einer tüchtigen Haushälterin zu geben, um nun, gleichsam von der Pike an, bis zur Hausfrau hinaufzudienen. Keine Arbeit war ihr dabei so niedrig oder so schwer, daß sie sie nicht mit eigenen Händen angegriffen hätte, jedem Dienstboten lernte sie die Kunstgriffe seines besonderen Amtes ab und gelangte so sehr bald dazu, sich sowohl den klaren Überblick über das Ganze wie die genaue Kenntnis aller Einzelnheiten zu verschaffen. Ich denke, es war nach Jahresfrist, daß sie sich selbst das Zeugnis ausstellen konnte, Herrin der Situation geworden zu sein. Und nun folgte der zweite energische Schritt: die gesamte Dienerschaft, von der obersten bis zur letzten Stufe, wurde mit einem Schlage entlassen und durch eine ganz neue und fremde Schicht ersetzt. Denn keiner im Hause sollte die Herrin als Schülerin gekannt haben, vielmehr sollte der alleinigen Autorität ebendieser durch Kenntnis des Voraufgegangenen kein Abbruch geschehen. Sofort ging es jetzt ans Befehlen und Selbstregieren, und kein Feldherr hat wohl je seinen Kommandostab sicherer geführt als diese echte Soldatentochter. Bald war ihr Haushalt als der Musterhaushalt der Gegend bekannt, und alle jungen Frauen auf den Rittergütern erholten sich Rat bei ihrer unbestrittenen Autorität. Dabei war ihr Haus bald das gastlichste in der durch ihre Gastlichkeit berühmten Gegend und hielt doch gleichzeitig den einfachen Charakter der Zeit sowohl in der Ausstattung der Zimmer als auch im Hinblick auf die zwar stets überreichliche, aber nie künstlich verfeinerte Bewirtung fest. Zu Tisch ward man per carte auf eine ›freundschaftliche Suppe‹ geladen, die sich dann freilich zu einer Masse von Gängen und Schüsseln erweiterte; aber immer nur treffliche Hausmannskost. Ein einziger alter Diener (Christoph) war das Faktotum des Hauses, und gebrach es an bedienenden Händen, so griffen die Hausmädchen zu. Mit patriarchalischer Naivetät benachrichtigte die treffliche Frau ihre Nachbarn und Nachbarinnen von den bevorstehenden Wasch- und Schlachttagen, um in diesen ganz von ihr geleiteten ›großen Aktionen‹ durch keine Besuche gestört zu werden. Ja, dem Wurstmachen räumte sie sogar ihre sehr einfach ausgestatteten Wohnstuben ein.

Als ich die treffliche Frau kennenlernte (die auch mir später eine mütterliche Ratgeberin wurde), muß sie schon hoch in den Siebzigern gewesen sein, aber sie zeigte sich noch in voller, rüstiger Lebenskraft, alle Jüngeren durch ihre Tätigkeit beschämend. Sie war immer die erste, die im Hause erwachte, ging umher, um alle Dienstboten aus dem Schlafe zu wecken, und erst wenn das tägliche Uhrwerk im Gange war, legte sie sich noch einmal auf ein Stündchen zur Ruh.

Sie war von kleiner, kräftiger, untersetzter Gestalt, dem ›alten Zieten‹ auf dem Wilhelmsplatze wie aus den Augen geschnitten. Der Ausdruck von Klugheit und Energie, der ihr eignete, war durch den einer großen Freundlichkeit und Herzensgüte gemildert, wie ich denn auch nie gehört habe, daß sie ihre Autorität im Hause durch Strenge oder gar Härte unterstützt hätte. Sie regierte vielmehr ausschließlich durch Ernst und Konsequenz, vor allem aber durch ihr Beispiel, und war von ihren Untergebenen, wie von allen Nachbarn und Freunden, ebenso geliebt als verehrt. Von ihrer Frömmigkeit, dem schönen Erbteil ihres gottseligen Vaters, machte sie keine Worte, und alle Liebeswerke wurden in der Stille geübt.

Bei aller häuslichen Tätigkeit vernachlässigte sie nicht die Bildung ihres Geistes und ging stets mit der fortschreitenden Zeit, deren Erscheinungen sie mit dem lebendigsten Interesse verfolgte. Walter Scotts Romane zählten zu ihrer Lieblingsunterhaltung, und oft erinnerte sie mich selbst an einzelne poetische Gestalten darin, besonders wenn sie mit einem wahren Feuereifer von dem Besuche Friedrich Wilhelms III. und der reizenden Königin Luise in Ganzer erzählte, als wär es ein Vorgang von gestern gewesen. Eine lila Flachsstaude im Garten, die die Königin Luise für ihre Lieblingsblume erklärt hatte, wurde, fast ein halbes Jahrhundert hindurch und von einem eisernen Korbgeflecht umfangen, sorgsam gepflegt und jedem Besucher gezeigt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil