Abschnitt 3

Auf dem Plateau


Ganzer


Auf dem Seitenfelde zur Rechten begegnen wir einer doppelten Grabschrift, und zwar der des letzten Jürgaß und seiner Gemahlin, der letzten Zieten aus dem Hause Wustrau. Jene lautet: »Franz Karl Wilhelm Rudolf von Wahlen-Jürgaß, Erbherr auf Ganzer und Triglitz, ward geboren den 14. September 1752 zu Ganzer und verstarb daselbst, im zweiundachtzigsten Jahre, den 26. Juni 1834, als das letzte Glied seiner Familie. Er war der treuste Freund seiner Freunde, und alle, die ihn näher kannten, schätzten ihn hoch.« (Dies ist der ältere Bruder, »de en beten streng wör«.) Die andere Inschrift lautet: »Frau Johanna Christiana Sophie von Wahlen-Jürgaß, geborne von Zieten aus dem Hause Wustrau, ward geboren den 23. Januar 1747 und ehelich verbunden am 23. Oktober 1776 mit Karl von Wahlen-Jürgaß, Erbherr auf Ganzer und Triglitz. Ein Muster weiblicher Tugenden und Größe, entschlief sie sanft den 7. Juni 1829.«

Diese Frau von Jürgaß, zugleich die letzte Zieten aus dem Hause Wustrau, hat uns vorzugsweise nach Ganzer geführt, und voll Erwartung, in dem Dorfe, darin sie so lange lebte, noch ihrem Andenken zu begegnen, treten wir jetzt von dem Kirchhof aus auf den Fahrdamm zurück und setzen unsere Wanderung bis zum alten Jürgaßschen Herrenhause fort. Ein Heckenzaun trennt das Haus von der Gasse, von rechts her lehnen sich Wirtschaftsgebäude, von links her hohe Parkbäume bis dicht an den Giebel und geben ein freundliches Bild, aber doch zugleich auch ein Bild äußerster Schlichtheit, und wären nicht ein paar Edeltannen und die Malven, die, hoch am Stock gezogen, ein Stück englischen Rasen umstellen, man würd eine kleine Pachterswohnung, aber keinen Edelhof hinter diesem Heckenzaune vermuten. Und eine Pachterswohnung ist es auch seit des letzten Jürgaß Tode. Wir treten ein und werden freundlich empfangen. Eine junge Frau kommt unsrer Neugier entgegen, zeigt uns Küch und Keller, auch das Zimmer, wo General Blücher geschlafen 3) , und führt uns endlich in den Park hinaus, auf dessen sonnigem Grün die Schatten der leise bewegten Zweige hin und her tanzen. Wir nehmen Platz unter einer breitblättrigen Platane, wo Tisch und Bank zum Plaudern einladen, und während allerhand Erfrischungen, und darunter, als die willkommenste, Milch und Blaubeeren, auf den Tisch gestellt werden, geselle sich uns eine Anverwandte des Hauses, eine schlanke, nicht mehr junge Dame mit dunklen Augen und feingeformtem Mund. Die Pachtersfrau, die bis dahin die Kosten der Unterhaltung mühsam bestritten, ist augenscheinlich froh über den eintreffenden Sukkurs, und mit einem kurzen »Tante Helene weiß alles« ihren Rückzug antretend, eilt sie wieder ins Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Und nun sind wir allein, und »Tante Helene« legt ihren breiten Sommerhut beiseite, entweder weil wir im Schatten sitzen oder vielleicht auch, um die Schönheit ihres schwarzen Haares zu zeigen, und während sie mit dem Band am Hute spielt, beginnen meine Fragen. Aber wir verirren uns immer wieder in unsrem Gespräche, sind bald in Wustrau bei den Zietens, bald in Trieplatz bei den Rohrs, bis sie mir die Hand über den Tisch reicht und mit gewinnender Freundlichkeit zuruft: »Es wird nichts; plaudern wir lieber, wie der Zufall es will. Ich erzähl Ihnen brieflich, was Sie wissen wollen. Und seien Sie sicher, ich halte Wort.«

Und sie hielt Wort, und nach kurzer Zeit schon empfing ich folgenden Brief: »Ich habe sie gut gekannt die Frau von Jürgaß, besser vielleicht als irgendwer. Sie nahm mich zu sich, als ich eine Waise geworden war, und so kam ich aus dem Pfarrhaus ins Herrenhaus hinüber. Meine Mutter hab ich nie gekannt, sie starb bei meiner Geburt; aber hätt ich sie auch gekannt, ich hätt ihre Liebe kaum vermissen können, so gut wie die gnädige Frau gegen mich war! Sie war sehr klein und sehr häßlich, und doch mußte man sich immer wieder fragen, ob sie denn wirklich so häßlich sei. Sie hatte kleine blaue Augen, eine wunderbare Nase und gelbe Löckchen, auf denen eine Turmhaube saß. Es ist wahr, sie sah sehr altfränkisch und beinah komisch aus, und doch lachte niemand über sie, dazu war sie zu gut und zu gescheit. Sie besaß aber auch zwei Schönheiten: perlenweiße Zähne, die sie bis zuletzt behielt, und kleine weiße Hände, die mit Ringen überdeckt waren. Ich fühlte mich immer geehrt, wenn ich eine dieser Hände küssen durfte. Sie litt es aber nur selten.

Außer der hohen Haube trug sie Hackenschuhe mit hohen Absätzen. Mitunter, wenn ich die Turmhaube und die hohen Absätze sah, zwischen denen sich die kleine Frau bewegte, kam sie mir noch kleiner vor, als sie wirklich war. Sie liebte ihren Mann und verehrte ihren Schwager, den alten General, und beide vergalten es ihr und trugen sie auf Händen. Es war ein Leben, wie ich es nie wieder gefunden habe, und ich habe doch viele Menschen und viele Häuser gesehen. In Winterzeit, wenn die Wege verschneit und die Freunde ausgeblieben waren, saßen wir oben im Ecksaal und spielten ›Gesellschaft‹. Frau von Jürgaß nahm dann Platz auf dem Sofa, die doppelarmigen Leuchter wurden angezündet und ich durfte nun neben ihr sitzen auf einem großen, alten Fußkissen, darauf der Alte Fritz gestickt war. War alles vorbereitet, so gab sie mir ein Zeichen oder klingelte; dann mußt ich aufspringen und den General von Jürgaß anmelden. Der alte General trat dann auch wirklich herein oder erhob sich von dem Stuhl, auf dem er bis dahin gesessen, und küßte der Gnädigen die Hand, fragte nach ihrem Befinden und nach ihres Bruders Befinden drüben in Wustrau, und eh zwei Minuten um waren, waren sie im lebhaftesten Gespräch über die alte Zeit. Alle Ereignisse, die sie seit fünfzig Jahren zusammen durchlebt hatten, wurden nun wieder durchgeplaudert wie etwas Neues, Fremdes, wovon man die Mitteilung wie eine Ehre anzusehen und deshalb mit Dank und Teilnahme entgegenzunehmen hat. Dann brachen sie plötzlich ab, lachten herzlich, schüttelten sich die Hände und holten das Dambrett herbei, um Schlagdame oder Toccadille zu spielen. Ich muß Ihnen gestehen, es ängstigte mich damals mitunter, die beiden alten Leute so zeremoniell miteinander verkehren zu sehn, und ich dachte dann wohl, sie wären tot und ihre Gespenster kämen zusammen, um an alter Stelle nach alter Weise zu sprechen. Aber ich habe später in andern Häusern oft denken müssen: ›Ach, wenn doch Mann und Frau hier, oder Schwager und Schwägerin, nur ähnliche Gesellschaftsspiele spielen wollten!‹ Und mir fiel dann immer das Wort ein, das Frau von Jürgaß einmal zu mir gesagt hatte: ›Gute Gewohnheiten wollen geübt sein; sie rosten sonst.‹ Dies zeremonielle Wesen schloß übrigens gesellschaftliche Freiheit nicht aus, ja, bedingte sie vielleicht und ich bewunderte Frau von J. jedesmal, wenn, sie, sobald Besuch von den Gütern oder gar aus der Hauptstadt eintraf, die Honneurs des Hauses machte. Den beiden alten Herren an Witz und Wissen sehr überlegen, hätte sie's leicht gehabt, auf ihre Kosten die geistreiche Wirtin zu machen, aber wenn abends beim Souper die alten Anekdoten von Hainau und Katzbach und Vater Blücher zum wer weiß wievielsten Mal erzählt wurden, hörte sie aufmerksam zu und suchte nur durch eine geschickte Wendung der alten Geschichte eine neue Pointe zu geben. Sie war ganz ihres Vaters Tochter: klein, unansehnlich und unschön, aber fromm und mutig und pflichttreu, und wie ihr Vater gestorben war, so starb auch sie, ruhig, hochbetagt und ohne die Bitterkeit des Todes zu fühlen. Sie schlief sanft hinüber. Einen der Ringe, mit denen ich als Kind spielen durfte, wenn ich neben ihr auf dem gestickten Kissen saß, hat sie mir vermacht, aber es hätte dieses Zeichens nicht bedurft um ihrer immer in Dankbarkeit zu gedenken.«

Am 7. Juni 1829 starb des alten Zieten Tochter, am 29. Juni 1854 starb des alten Zieten Sohn. Ein Feldstein ohne Spruch und Inschrift deckt das Grab des letzten Zieten aus der Linie Wustrau, das Monument aber, das zu Ehren des letzten Jürgaß und seines mit ihm ausgestorbenen Geschlechtes errichtet ist zeigt auf dem schmalen Eisenstreifen, der die vier Pfeiler der Nische trägt den schönen Spruch: »Der Herr hat sie zu einem beßren Leben berufen, wo sie sich der Herrlichkeit unsres Erlösers erfreuen.«




3) In der Nacht vom 25. auf 26. Oktober war Blücher mit seinem Corps, das später, nach tapfrem Widerstand, in Lübeck kapitulieren mußte, hier in Ganzer.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil