Leitender Artikel. Vorlesungen über Geschichte, Inhalt, Stellung und Beruf des Judentums. ,Erste Vorlesung, gehalten am 22. Dezember. (Fortsetzung.)

Werfen wir nun einen übersichtlichen Blick auf das Leben des Judentums, so sehen wir in ihm vier große Epochen erstanden: der Mosaismus, der Prophetismus, der Talmudismus und das Judentum in der Neuzeit. Gestatten Sie mir, verehrteste Anwesende, jetzt diese vier Epochen kurz zu skizzieren; es können freilich nur Andeutungen sein, die sich in der ausführlichen Darstellung klarer machen und begründen werden. — Inmitten des schon vielseitig entwickelten Heidentums, und der durch dieses zerfallenen Sittlichkeit des Menschengeschlechtes und des durch dasselbe entstellten Staates tritt als völliger Gegensatz und als eine vollkommene Einheit der Mosaismus auf. Der Mosaismus ist die Grundlage des Judentums, auf welcher nicht allein das ganze geschichtliche Gebäude des Judentums sich aufrichtete, sondern die zugleich auch der Kern aller folgenden Entwicklungsstufen bis heute geblieben ist. Der Mosaismus geht von der Einheit des religiösen und sozialen Menschen, von der Einheit der Lehre und des Lebens aus; er erkennt keinen Unterschied der Idee und der Wirklichkeit an; Letztere ist ihm daher nur das in die Erscheinung Treten der Idee, die Verkörperung der Idee. Wie in jedem Naturgeschöpfe der Gedanke seiner Organisation von der Organisation selbst nicht verschieden ist, so dass es eben ganz ist, was eS sein soll: also sollen im Mosaismus das Leben und die Idee ganz einerlei, ganz sich deckend sein. Daher tritt im Mosaismus die Lehre nicht für sich, sondern sofort als Gesetz, als Leben auf; daher überwältigt der Mosaismus das ganze Leben, und macht es, nicht zum Spiegel, nicht zum Abbild, sondern zur Lehre selbst; daher hält der Mosaismus Seele und Leib, geistiges und leibliches Leben nicht auseinander, sondern sein Gesetz des geistigen Lebens macht er auch zum Gesetz des leiblichen Lebens, auch hier den Menschen als Einheit erfassend.

So wie aber der Mosaismus hingestellt war, sofort eröffnete sich der Kampf dieser Idee mit der Wirklichkeit. Seine Wirklichkeit war — das Volk, dem er übergeben worden. Inwiefern dieses den Mosaismus zur Ausführung bringe, dies war die Frage. Aber nach kurzen Perioden der Höhe ging das jüdische Volk, wie jedes Volk, abwärts. Einerseits gab es den Inhalt des Mosaismus Preis und versenkte sich in den Gegensatz des selben, in das Heidentum, andrerseits griff es die Form, den Kultus, den Opferdienst, auf, und machte ihn zur inhaltslosen Werkheiligkeit. Da erstand der Prophetismus. Seine Richtung ist: das Drängen auf Ausführung des wahrhaften Mosaismus. Aber schon konnte er das Leben nicht mehr retten, und sein Bestreben ging daher dahin, die Idee zu retten. Der Prophetismus selbst spaltete daher schon die Idee vom Leben, die Lehre vom Gesetz, die im Mosaismus die höchste Einheit waren. Der Prophetismus griff nur die Lehre auf, und schweigt über das Gesetz. Daher ist der Prophetismus eine Entwicklung des Mosaismus, aber nur eines Teiles desselben, nämlich der Lehre von Gott und der allgemeinen Sittlichkeit. Götzendienst und moralische Verbrechen, das sind seine Feinde. Von der einheitlichen Verwirklichung der Lehre durch das Leben, und insbesondere vom sozialen Menschen handelt er unter den Stürmen der Zeiten, und unter den gegebenen Verhältnissen gar nicht.


Gerade die entgegengesetzte Richtung schlug die dritte Phase des Judentums ein: der Talmudismus. Das Volk war in die Verbannung nach Assyrien und Babel gegangen; ein Teil kehrte zurück. Dieser Teil war aber, vom Standpunkt des Mosaismus, der Kern des Volkes, diesem treu zugewandt. Das Unglück, die Schwäche erhöhte diese Treue. Aber die Natur, das urkräftige Lebenselement des Volkes war geschwunden; es war ein zweites Leben, kein unmittelbares, ursprüngliches, naturwüchsiges. Der Geist war schwach in ihm, wenn auch nicht der Wille. Dies beweisen die wenigen Schriften aus dieser Zeit, dies beweiset das Stillschweigen über ganze Jahrhunderte, die somit aus der Geschichte des jüdischen Volkes geschwunden sind, und wo erst mit der Makkabäer Zeit, also fast vier Jahrhunderte später, neues Leben erwachte. Auch hier machte sich die Spaltung zwischen Idee und Leben geltend, aber diesmal erlag die Idee, die man an sich stehen ließ, und der Rigor wandte sich nur dem Leben zu. Man fasste daher den Mosaismus gerade am andern Ende wie der Prophetismus. Man entwickelte das Gesetz als eine absolute Norm des Lebens, nicht aber als Verwirklichung der Idee. Das Gesetz gilt. Warum und wozu? sind nicht gestattete Fragen. So hob man öfters geradezu oder durch Umgehung den Kerngedanken eines mosaischen Gesetzes auf, z. B. den Erlass der Schulden im siebenten Jahre, während man aufs Sorgfältigste die Früchte bestimmte, die in diesem Jahre benutzt werden dürfen. Unterdes endigte auch die zweite Lebensperiode der Judenheit, das Volk ging in die Zerstreuung, aber die empfangene Richtung nahm es mit sich. Aus diesen Elementen erstand der Talmudismus. Er hatte einen dreifachen Gegenstand: die unbedingte Autorität des mosaischen Gesetzes, die Volkssitte, wie sie sich traditionell ausgebildet und überliefert hatte, und die Hindernisse, welche die Entfernung des Volkes aus Palästina der Ausführung des jüdischen Lebens darbot. Mit eigentümlicher, in seiner Art einzigen Kraft des Geistes verarbeitete der Talmudismus diese drei Momente, und sein Inhalt ist demnächst: erstens die Ausarbeitung des mosaischen Gesetzes vom formalen Standpunkte bis in die äußerste Folgerung und kasuistische Konsequenz; zweitens das Hineinarbeiten dessen, was das Volksleben selbstständig als Sitte hervorgebracht hatte, in den Buchstaben des mosaischen Gesetzes, um sie durch diesen zu decken; drittens die Überwindung der, durch die Entfernung des Volkes aus Palästina bereiteten Hindernisse durch Analogie mit dem mosaische Gesetze. Der Talmudismus reicht weit über den Abschluss des Talmuds hinaus, indem der Rabbinismus sein teilweiser Fortbildner ward.

Dies sind die drei großen abgeschlossenen Epochen des Judentums. Allerdings war auch das Leben des Judentums auf diese drei überwiegenden Gestaltungen nicht beschränkt. Neben dem Prophetismus stehen die s. g. Hagiographen als eigentümliches Lebensprodukt, neben dem Talmudismus der Midrasch und die Kabbala, Neben dem Rabbinismus die aristotelisch-arabisch-jüdische Philosophie. — An diese drei Epochen schließt sich nun das Judentum in der Neuzeit an. Sie werden schon aus dieser Bezeichnung entnehmen, dass es demselben noch an einer wesenhaften Benennung fehlt, was hinwiederum auf den Mangel eines schon bestimmten Charakters schließen ließe. Aber es ist weit davon entfernt, dass ihm dies ein Vorwurf sein kann. Wir haben hier allerdings erst ein Werdendes, ein sich Herausarbeitendes, was im Voraus abzuschließen und zu beschränken einseitig wäre. Dass aber ein Neues, ein Anderes im Judentume wird: dafür liegt der Beweis offen dar. Wir sehen einerseits, dass der Rabbinismus nichts mehr produziert, völlig abgeschlossen ist, und dennoch im Gebiete des Judentums ein sehr reges Leben vorhanden ist. Wir sehen andrerseits, dass eine sehr große Zahl der Juden, mit vollem Bewusstsein Juden zu sein und Juden zu bleiben, sich außerhalb des talmudischen Gesetzes gestellt haben; ja wir sehen, dass diese Juden von denen, welche den talmudisch-rabbinischen Standpunkt streng behaupten, völlig als Juden anerkannt sind, so dass z. B. Verheiratung, Teilnahme an den Kultushandlungen durchaus nicht gestört wird — was den wirklichen Bestand eines Andern, eines Neuen faktisch erweiset. Aber auch ohne diesen faktischen Beweis geht das Vorhandensein einer neuen Epoche des Judentums aus den vorhandenen Ursachen hervor. Mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts begannen die Juden aus der geistigen Abgeschiedenheit, in der sie seit einem halben Jahrtausend mit geringen Ausnahmen gelebt, herauszuschreiten und die allgemeine Geistesbildung sich anzueignen. Mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts wurde angefangen, den Juden die Pforten des bürgerlichen Lebens zu öffnen, wurde in mehren Staaten gänzlich, in mehren teilweise die Gleichstellung gesetzlich. Nach beiden Richtungen hin machten die Juden nach Verhältnis des Zeitraums riesenhafte Fortschritte. Sie eilten in einem halben Jahrhundert den anderen Völkern auf einem Wege nach, zu dessen Zurücklegung diese ein halbes Jahrtausend gebraucht. Beides aber musste auflösend auf den bisherigen religiösen Zustand, auf den talmudisch-rabbinischen Standpunkt einwirken. Das bürgerliche Leben gestaltete die Erwerbszweige der Juden gänzlich um, und brachte so den mannigfaltigsten Konflikt des formal-religiösen Lebens mit dem bürgerlichen und gewerblichen Leben herbei. Und die freie Geistesentwicklung untergrub den Autoritätsglauben, und verlangte nach Grund und Wesen dessen, was bis dahin absolut gegolten. So konnte und kann es gar nicht anders sein, als dass sich ein Anderes, ein Neues im Judentume erzeugte. Ja, diese Bedingungen seines Entstehens müssen eine wesentlich neue Phase voraussetzen lassen. Denn wenn die Juden zuerst als Volk, dann unter den Völkern gelebt: so leben sie jetzt mit den Völkern, aufgegangen in das bürgerliche und politische Leben der Völker. Eine solche Zeit hat der jüdische Stamm bis dahin noch nicht durchlebt. Welche wesenhafte Umgestaltung das Judentum dadurch nehmen werde, lässt sich bis jetzt nur leise vorausfolgern, und werden wir dies später versuchen. Hier nur einige Beobachtung über den bisherigen Gang. Das neuere Judentum hat, wie es in der Natur der Sache lag, umgekehrt denselben Weg genommen, wie das Judentum überhaupt. Es fing beim Talmudismus an, und ließ diesen als vollgültige Norm des Lebens bestehen, daneben aber die freiere Entwicklung der Idee anerkennend. Dies war der Standpunkt Mendelssohns. Derselbe sprach dem Judentum völlig freies Bewusstsein zu; das Judentum sei die Religion der Erkenntnis, aber zugleich die völlige Beschränkung des Lebens durch das traditionelle Gesetz. Ein solcher innerer Widerspruch konnte nicht lange bestehen. Die Idee verlangt stets nach der Wirklichkeit, und kann in dieser nicht ihren Gegensatz dulden. Die Idee frei, das Leben gebunden hinzustellen ist Willkür. Man ging daher bald vom Talmudismus zum Prophetismus zurück. Man hielt sich lediglich an die Lehre von Gott und der allgemeinen Sittlichkeit, die der Prophetismus ausspricht, und indem man von diesem wieder Alles, was seine Zeit und sein Verhältnis) zum Volke Israel betraf, abstreifte: verpflichtete man bald das ganze Judentum zu einigen allgemeinen Lehr- und Sittensprüchen. Allerdings war hierin viel frommer Selbstbetrug. Denn man beharrte bei der Behauptung des Positiven, ohne das Geringste davon beizubehalten; selbst die dem Prophetismus zu Grunde liegende Idee der Offenbarung ließ man im Halbdunkel verschweben. Aber bald tat es sich kund, dass hierdurch in das Judentum ein vollkommener Widerspruch gekommen war. Die Idee des Judentums, wie man sie fasste, und die Wirklichkeit des Judentums standen sich schnurstracks gegenüber. Zwar fing man an zu reformieren; und der nächste, weil neutrale und öffentliche, Gegenstand dieser Reform ward der Gottesdienst. Viel Segensreiches geschah hierin, da doch am Ende über der Entwicklung der Religion nicht die Religiosität in den Individuen vergessen werden darf, und für diese Schule und Gottesdienst am Wirksamsten sind. Allein alles dieses kann noch keine Versöhnung jenes Widerspruchs genannt werden. Man hat daher in der neuesten Zeit abermals einen Schritt zurückzugehen begonnen, man kehrte zum Mosaismus zurück. Man ist zu der Erkenntnis gekommen, dass auf diesem Boden allein die Regeneration des Judentums möglich ist. Man verstehe uns wohl, nicht, dass man zum Mosaismus, so wie er im Buchstaben dasteht, zurückkehre, dies wäre eine Unmöglichkeit, weil ganz andere Bedingungen vorhanden sind, und eine über dreitausendjährige Entwicklung dazwischen liegt. Aber der Mosaismus ist es, der den eigentlichen positiven Gehalt des Judentums enthält; und es kommt daher darauf an: die festen und sicheren Ideen des Mosaismus zum klaren Bewusstsein zu bringen, und zu erfahren, wie diese unter den Bedingungen des gegenwärtigen Lebens in die bestimmte Erscheinung und in wesentliche Gestaltung eindringen können.

Wir haben so, verehrte Anwesende, das Judentum als ein Mitten in der Menschheit für sich bestehendes, lebendes, sich in sich entwickelndes Ganzes betrachtet. Aber könnte es dies allein sein? Im Bereiche der Menschheit kann Nichts bloß für sich leben. Es wäre als ob Kopf, Magen, Arm, Bein für sich bestehen wollten. Denn die ganze Menschheit ist doch nur ein ganzer, einheitlicher Organismus. Eines muss auf das Andere wirken. Worin Wahrheit ist, worin eine Wahrheit lebt, da muss auch diese Wahrheit aus ihm heraus in die Menschenwelt kommen und sich darin geltend machen. Wir haben schon aus dem Bestände des Judentums gefolgert, dass es Gegensatz ist; nun so musste dieser Gegensatz aus sich heraus auf die Welt wirken, es musste eine Strömung auf die Welt zu gewinnen, es musste die Welt sich zu erobern suchen, ob es ihm gelänge oder nicht. Und die Geschichte zeigt uns, das dies geschehen. Alle Welt weiß, dass aus dem Judentum das Christentum hervorgegangen, dass aus Beiden wieder die Religion Mohameds sich abgeleitet hat. Die Idee des Judentums, oder besser der ideelle Inhalt des Judentums suchte sich so zuerst Bahn in die gesamte Menschenwelt zu brechen. Hier ergeben sich aber zwei Folgerungen. Zuerst: was im Judentume nur zu seinem individuellen Bestände gehörte, das musste es für sich behalten, das konnte es der allgemeinen Welt nicht übergeben. Und zweitens: die Welt konnte vom Judentume nur so viel entnehmen, als sie nach der damaligen Zeit brauchen konnte, und musste dies wieder für sich nach gegebenen Verhältnissen, unabhängig vom Judentume, entwickeln. Das Judentum behielt daher sowohl sein Spezifisches, als auch noch einen großen Inhalt für die Zukunft, da es nur einen Teil abgegeben. Die Einwirkung des Judentums auf die Welt war und ist demnach noch nicht abgeschlossen, weil es sonst nicht länger zu bestehen gehabt hätte.

Das Judentum hatte demnächst einen doppelten Beruf, einen Teil seiner Wahrheit in sich für die Menschheit zu erhalten, und andern Teils seine Wahrheit an die Welt abzugeben. Beides bedingt aber einen doppelten Kampf, gegen die zerstörende Welt und gegen die widerstrebende Welt. Und dies ist denn der eigentliche Charakter der Geschichte des Judentums, und insbesondere der Geschichte der Judenheit, des jüdischen Stammes. Der Kampf der Idee mit der Wirklichkeit. Der jüdische Stamm hatte diesen Kampf zuerst in sich selbst, dann aber gegen die Welt auszukämpfen. Der jüdische Stamm als Träger des Judentums musste zuerst mit sich selbst kämpfen, um sich seinem Berufe hinzugeben; dann aber mit der Welt kämpfen, die ihm diesen Beruf nicht zugestehen, und es als einen Gegensatz enthaltend überhaupt nicht dulden wollte. Aber gerade dieser Kampf musste ihn erhalten, so schwere Geschicke er ihm auch bereitete. Unter diesem Gesichtspunkte erscheint aber die Geschichte der Judenheit ganz anders, als man sie bisher ansah. Man sah nur auf die Wunden und Schläge, die sie in diesem Kampfe erhalten, auf das Blut, das vergossen, auf die Scheiterhaufen, die ihr angezündet worden. Man sah andrerseits nur auf die Fehler und Gebrechen, welche die Judenheit unter dem Druck einer ganzen Welt annehmen musste. Ganz anders erscheint diese Geschichte nunmehr, nämlich als die glor- und ruhmreichste in der Menschenwelt. Die Judenheit trug den Kampf der religiösen Idee gegen die Wirklichkeit. Als solches litt, als solches siegte es. Jeder Blutstropfen war ein Sieg, jeder Scheiterhaufen eine Siegesfackel. Ein kleiner Menschenstamm stand einer Welt gegenüber mit der Idee, um die Idee, für die Idee, und wich nicht. Das ist das Glänzendste, das Erhebendste in der Menschenwelt. Und von diesem Gesichtspunkte aus werden wir die Geschichte der Judenheit betrachten.

Wir haben uns hiermit die Pforte erschlossen, durch die wir nunmehr in das Innere eintreten werden.